Читать книгу Imperium der Foronen: Raumschiff Rubikon Band 9-16: Science Fiction Abenteuer Paket - Lars Urban - Страница 39
5.
ОглавлениеFür einen Moment, kurz nach der Ankunft in der fremden Nacht, glaubte Prosper das abstrakte Schlüsselsymbol auf Sarahs Stirn leuchten zu sehen. Doch dann war es verschwunden und vielleicht nie da gewesen. Möglicherweise war er einer Täuschung seiner Sinne zum Opfer gefallen.
„Prosper?“
Ihre Stimme klang belegt. Der Turm hinter ihnen schien das Sternenlicht zu sammeln und in einer Weise zu reflektieren, dass die beiden Gestalten davor einander sehen konnten. Konturen allerdings nur, keine Feinheiten.
„Ja? Ich bin da. Ich kann dich sehen – du mich auch?“
Die Dunkelheit hatte etwas Bedrückendes.
„Leidlich. Wo sind die anderen?“
„Wir sind die Einzigen. Die Einzigen hier jedenfalls, glaube ich.“
„Aber –“
„Es ist sinnlos, damit zu hadern. Kargor hat entschieden. Die Schlüsselfarbe scheint entscheidend gewesen zu sein. Nur du und ich hatten goldene zugewiesen bekommen.“
„Warum?“
„Ich weiß es nicht.“
„Die anderen sind ... irgendwo sonst auf dieser Welt ... oder auf einer ganz anderen?“
„Beides ist möglich, aber ich tendiere dazu, dass sie auf einer anderen Angk-Welt gelandet sind. Kargor kündigte ja an, uns zu ‚streuen’.“
„Warum tut er uns das an?“
„Er wird es wissen. Sagte er nicht, wie sollen zu Keimzellen einer neuen Menschheit werden, die auf den Angk-Welten lebt, sie sich untertan macht?“
Trotz der schlechten Sichtverhältnisse glaubte er zu sehen, wie sie sich plötzlich anspannte. „Keimzellen“, murmelte sie. „Wir beide ... Na klasse. Habe ich ... haben wir da auch noch ein Wörtchen mitzureden?“
„Ich denke ja.“ Er lachte, versuchte die auch ihm unangenehme Situation zu entspannen. „Aber wir können natürlich nicht ausschließen, dass er uns hypnotisiert hat und wir gar keine andere Wahl haben als uns ineinander zu ...“ Er brach ab.
„Ah ja.“ Sie wich übertrieben theatralisch vor ihm zurück. „Dann muss ich mich wohl auf meine Nahkampftechniken besinnen. Denn ich fühle mich, sosehr du es auch erhoffen magst, nicht von Kargor hypnotisiert. Mach dir also keine falschen Hoffnungen.“
Prosper antwortete auf die gleiche Weise. „Puh!“ Er wischte sich vermeintlichen Schweiß von der Stirn. „Da hab ich aber noch mal Glück gehabt.“
„Du liegst noch in anderer Hinsicht falsch.“
„Klär mich auf.“
„Von wegen ‚untertan machen’. Ich glaube nicht, dass irgendeine Welt hier darauf wartet, von uns erobert und ausgebeutet zu werden. Damit verfielen wir in alte, hoffentlich überwundene Muster.“
„Du musst nicht alles, was ich sage, auf die Goldwaage legen.“
„Ich merk’s mir.“
„Schön, dann wäre das ja auch geklärt. Wie geht’s weiter? Irgendeine Stadt in Sicht?“
Sie spähten in die Nacht, in die Landschaft, die unter einem flimmernden Sternenteppich lag. Etwas mit den schildkrötenpanzerartigen Bauten Vergleichbares war weit und breit nicht auszumachen.
Unberührte Natur, in die sich der Turm als einziges – im wahrsten Sinne des Wortes – Kunstwerk seltsam harmonisch einfügte.
„Nein. Ich kann jedenfalls nichts erkennen. Vielleicht morgen früh, wenn die Sonne aufgeht“, sagte Sarah. „Bis dahin bleiben wir am besten hier beim Turm. Wir sind schlecht ausgerüstet, das dürfte schon jetzt klar sein. Wir haben weder Nahrung noch Trinkwasser. Kargor scheint nicht der Ansicht gewesen zu sein, dass er uns mit einer Erstausstattung versehen muss.“
„Wer weiß“, erwiderte Prosper. „Vielleicht befindet sie sich im Turm.“
„In den wir nicht reinkönnen – falls er dafür überhaupt ausgelegt ist. Was wissen wir schon darüber. Kann sein, dass es sich nur um eine Art ‚Sende- und Empfangsmast’ handelt, über den man abgestrahlt oder rematerialisiert wird.“
„Ich bezweifle“, widersprach er, „dass die ERBAUER in Anbetracht ihres sonst demonstrierten Könnens dafür Vorrichtungen von solcher Größe brauchten oder brauchen.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke, der Turm – oder die Türme, es gibt ja offenkundig viele davon – dient zwar auch dem von dir genannten Zweck, aber bestimmt nicht ausschließlich.“
„Sondern?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Nicht, bevor wir ihn betreten haben.“
„Du bist ja ein noch viel größerer Optimist als ich immer dachte.“
„Pessimisten führen ein sehr freudloses Leben. Im Getto war Optimismus überlebenswichtig. Kennst du die Selbstmordrate unter den Verbannten?“
„Nein. Aber sie dürfte nicht gering gewesen sein, bedenkt man die ganzen Umstände ...“
„Sie war horrend hoch. Die Banden und Syndikate, die damit verbundenen Repressalien für jeden Einzelnen im Alltag ... viele verkrafteten das nicht. Ich schätze, dass die Suizidquote ähnlich hoch lag wie die Zahl der durch Fremdgewalt ums Leben Gekommenen. Es gab sogar Fälle, in denen sich Verzweifelte in den Wald begaben, nicht weil sie sich eine Flucht aus dem Getto erhofften, sondern um sich dort von einem der außerirdischen Horrorgewächse massakrieren zu lassen. Du weißt, wovon ich rede, wie die Wälder um das ehemalige Peking gestaltet waren ...“
Sarah nickte. Sie wusste es, natürlich. Sie war dort gewesen, war nach ihrem langen Stasisschlaf dort erwacht und hatte sich erst langsam an die neue Zeit gewöhnen müssen.
So waren sie sich begegnet.
Prosper gestand sich ein, dass ihn die große, schlanke Frau von Anfang an fasziniert hatte. Und daran hatte sich nichts geändert.
„Wir waren die Einzigen, die einen goldenen Schlüssel erhielten“, fand er zum Ausgangsthema zurück. „Verrückt, oder? Ich wüsste gern, wo Sahbu gelandet ist. Wobei ...“
„Ja?“
„Wir haben nicht einmal hundertprozentige Gewissheit, dass wir uns wirklich noch im Angk-System aufhalten, oder? Kargor spielte selten mit offenen Karten. Theoretisch wäre es denkbar, dass wir über viele Lichtjahre hinweg in ein ganz anderes Sonnensystem transferiert wurden ...“
„Mein Gefühl sagt mir, dass wir ihm zumindest in diesem Punkt trauen können. Wir befinden uns auf einer Angk-Welt – auf welcher genau kann ich dir aber nicht sagen.“
„Da streikt dein Gefühl, wie?“ Er lächelte. „Wir werden an der Feinjustierung arbeiten müssen.“
„Du“, erwiderte sie ebenso scherzend wie er, „wirst an mir gar nichts justieren. Das haben schon andere versucht und sich die Zähne ausgebissen.“
„Ach? Interessant. Erzähl. Du siehst mich neugierig, ich werde diese Nacht kein Auge zutun, wenn du es mir nicht verrätst, wer dir in der Vergangenheit so gefährlich nahe kam ...“
„Träum weiter.“
Damit beendete sie offenbar den Ausflug ins allzu Private.
Nebeneinander bewegten sie sich am Fuße des Turms, umrundeten ihn einmal und beschlossen dann, sich in der lauen Nacht tatsächlich einfach ins Gras zu legen und darauf zu hoffen, dass die Gegend nicht mit gefährlichen Raubtieren oder anderen Bedrohungen gepflastert war.
Prosper bot zwar an, wach zu bleiben und aufzupassen, aber Sarah lehnte ab. Sie hatte ein nicht wirklich nachvollziehbares und begründbares Zutrauen in das Wesen, das sie hierher geschickt hatte.
Kargor ...
Mit dem Gedanken an den ERBAUER, der ihnen diese fremde Welt zum Geschenk gemacht hatte, schlief Prosper ein, kaum dass er sich im Gras ausgestreckt hatte.
Er erwachte erst, nachdem die Sonne bereits aufgegangen war und er sich im Paradies wähnte.
Jedenfalls so lange, bis die Schwärme erschienen, den Himmel verdunkelten und Sarah zu schreien begann.
––––––––
S AHBU HATTE SICH VON den anderen abgesondert. Sie waren bereits in das Tal hinabgestiegen, das sich unter der felsigen Erhebung erstreckte, auf deren Spitze der kobaltblaue Turm wie ein grotesker Stachel aufragte. Er hatte versprochen, ihnen zu folgen – aber erst später, sobald er sich etwas länger mit dem Turm und seinen Hieroglyphen auseinander gesetzt hatte. Sie verliefen hier in gleicher Weise wie auf der Welt, die sie zuerst in diesem System betreten hatten. Wohin genau sie der Transfer verschlagen hatte, darüber konnten sie nur rätseln. Sicher war nur, dass die Stadt der Schildkrötenmänner verschwunden war, sie sich also entweder an einem fernen Ort desselben Planeten aufhielten oder aber, was wahrscheinlicher war, auf einer der anderen sechs Angk-Welten.
Für Sahbu war es zunächst einem Schock gleich gekommen, von Prosper Mérimée getrennt worden zu sein, der die letzten Jahre seines Lebens geprägt hatte. Ohne ihn, dachte Sahbu, wäre ich längst unter die Räder gekommen. Verdammt, und ich glaube nicht, dass es hier weniger gefährlich ist als im Getto!
Er misstraute Kargor zutiefst. Spätestens seit er hilflos hatte mit ansehen müssen, wie der ERBAUER Prosper Mérimée für den Vorstoß der RUBIKON in Darnoks Zeitentartungsfeld ohne Rücksicht auf Verluste missbraucht hatte.
Der meister schien die Sache schadlos überstanden zu haben – aber das änderte nichts an dem feigen Akt der Gewalt, dessen sich Kargor schuldig gemacht hatte.
Nein, Freunde in diesem Leben würden sie nicht mehr werden. Aber es bestand wenig Gefahr, dass das noch irgendeine Rolle spielte. In diesem Leben. Wenn Sahbu alles richtig verstanden hatte, dann hatte sich der ERBAUER samt Scobee und Perle jetzt endgültig aus dem Staub gemacht, davongestohlen, und sie ihrem ungewissen Schicksal überlassen.
Was für eine Farce!
Diese ganze „Schlüsselverteilung“ dokumentierte aus seiner Sicht letzten Endes nur, welch pervertierter Geist dem ERBAUER Kargor innewohnte. Die Moral dieses Wesens ließ sich nach menschlichen Maßstäben nicht bewerten, und man tat gut daran, es gar nicht erst versuchen zu wollen, sein Handeln zu verstehen.
Während er sich in die Hieroglyphen vertiefte, sah er sich plötzlich von nie gehörten Lauten umgeben. Es klang, als musiziere etwas unmittelbar an oder in seinem Ohr, aber als er sich umblickte, war nichts zu erkennen.
Er war immer noch allein dort oben in luftiger Höhe, auf dem Kamm eines Berghöckers, der wiederum dem Turm als Fundament diente.
Wie weit er sich wohl nach unten in den Boden fortsetzen mag?, ging es Sahbu nicht zum ersten Mal durch den Sinn.
Aber es war nur ein kurzer Gedankenblitz, der rasch erstickt wurde von der Frage nach dem Ursprung der unbekannten Klänge, die sich immer noch um ihn her entfalteten.
Erst als er einen Schritt von der Turmwand zurücktrat ... verstummten die Töne, und der Verzicht auf sie machte ihn unverzüglich schaudern.
Was ... ging hier vor?
Er spürte, wie er zitterte. Wie es ihn heiß und kalt überlief und sein Herz plötzlich raste, als hätte er den Fehler begangen, sich auf eine Traumranke einzulassen. Sie waren das süßeste Gift, die gefährlichste Droge im Getto gewesen; wer nur einmal, und sei es noch so flüchtig, mit ihnen in Kontakt kam, der wurde augenblicklich süchtig nach den Bildern, die sie in die Hirne der Unglückseligen pflanzten.
Sahbu hatte sich immer beherrschen können. Aber er hatte viele Opfer gesehen, die, weniger willenstark, der Verlockung nachgaben.
Und es für den Rest ihres Lebens – das nicht mehr lange währte – bedauerten.
War es hier ... ähnlich? War er binnen weniger Momente den Klängen, die er nun vermisste wie den Kuss einer feurigen Geliebten, verfallen? Aber – was hatte sie erzeugt?
Er überlegte. Was ihm schwer fiel, schwerer als gut war, zeugte es doch ebenfalls davon, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Dass in seinem Organismus Prozesse in Gang gesetzt worden waren, deren Folgen er noch gar nicht absehen konnte ...
Und all das war von ein paar simplen Klängen, einer nie zuvor gehörten, mehr als eigenwilligen Melodie, verursacht worden?
Er zweifelte an seinem Verstand. Halluzinierte er? Während er sich den Schweiß vom Gesicht wischte, blickte er hinab ins Tal, wo die Gestalten derer, die mit ihm hierher verbannt wurden, wie Ameisen anmuteten.
Wie hilflose, orientierungslose Ameisen.
Entwurzelt.
Aber waren sie das nicht schon lange vorher gewesen?
Er schloss die Augen und atmete minutenlang tief durch. Gleichzeitig rekapitulierte er sein eigenes Verhalten bis zu dem Moment, da die Töne erklungen waren.
Er glaubte sich zu erinnern, dass es begonnen hatte, als er –
Die Augen offen, wandte er sich erneut dem himmelhohen Turm zu. Es gab eine einfache Möglichkeit, seinen Verdacht zu überprüfen. Wie schon einmal, streckte er erneut die Hand aus und ließ die Fingerkuppen über das Hieroglyphenband gleiten.
Kaum dass er die reliefartigen Vertiefungen ertastete, geschah es.
Die Melodie kehrte zurück, und wie beim ersten Mal vermochte er sich nicht festzulegen, ob sie über sein Gehör an seine Sinne trat, oder direkt in seinem Kopf erklang.
Sein Puls beschleunigte, aber nicht mehr so rasant wie zuvor. Er zwang sich zur Ruhe, atmete flach.
Als er die Finger zurückzog, verebbten die Töne. Eine neuerliche Berührung holte sie zurück.
Seltsam.
Bei ihrer Ankunft auf Angk I hatte er den dortigen Turm auch, wie alle anderen, untersucht, hatten seine Finger die Symbole berührt, die den kobaltblauen Giganten in gewisser Höhe umliefen. Aber ein vergleichbarer Effekt war nicht aufgetreten.
Was machte diesen Turm anders?
Oder, kam es Sahbu in den Sinn, was ist an mir anders geworden?
Darauf fiel ihm nur eine Antwort ein. Seine Hand, die gerade noch die Hieroglyphen betastet hatte, suchte unwillkürlich die Stelle an seiner Stirn, wo Kargors Schlüssel absorbiert, Teil von ihm geworden war.
Als er die Hand nach einer Weile wieder zurückzog, weil der Schlüssel nicht mehr zu spüren war, erschrak er zunächst, denn die Finger leuchteten glutrot – wie das Stigma, das der ERBAUER ihm und den anderen dieser Gruppe verabreicht hatte!
Als der Schreck nachließ – immerhin ging von dem Leuchten keinerlei Schmerz oder sonstige spürbare Beeinträchtigung aus –, bewegte sich seine hand plötzlich fast als hätte sie ein Eigenleben entwickelt. Sahbu presste die komplette Handfläche fest gegen eine beliebige Stelle (zumindest erschien es ihm so, als wäre sie beliebig gewählt) des Hieroglyphenbandes.
Und damit änderte sich alles.
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P AULA HATTE DAS GEFÜHL, dass ihre Fähigkeit, deren Möglichkeiten sie seit frühester Kindheit erforscht und Schritt für Schritt für sich erschlossen hatte, bis sie es zur heutigen Perfektion gebracht hatte, dass diese Fähigkeit sich urplötzlich ... verselbständigte.
Von einem Lidschlag zum nächsten hatte sich die Umgebung gravierend verändert.
Da war immer noch ein Turm, aber er erhob sich nicht mehr in Sichtweite der Schildkrötenstadt, sondern inmitten eines Sandmeeres. Inmitten endlos anmutender Wüste!
Der Schock ließ sie schrumpfen.
Das Gefühl, in dieser schrecklichen, hitzeflirrenden Öde enden und elend zugrunde gehen zu müssen, weil es hier an allem mangelte, was ein menschliches Wesen zum Leben brauchte (Wasser, Nahrung, Schatten) durchraste sie wie eine elektromagnetische Welle, die ein Stromnetz lahm zu legen vermochte.
Und genau so fühlte sie sich: lahm gelegt, schachmatt gesetzt!
Mit einem einzigen Zug Kargors.
Sie blickte an sich herab. Der Boden kam immer näher, als würde sie in Treibsand versinken. Aber Zurufe und hektisches Gestikulieren der anderen, die mit ihr durch den Ring getreten und hierher versetzt worden waren, machten sie auf die Wahrheit aufmerksam: Sie schrumpfte einfach nur immer mehr, konnte den Prozess gar nicht aufhalten!
Aber ich muss!, mobilisierte sie endlich Widerstand gegen den gespenstischen Automatismus, der in ihr in Gang gesetzt worden war. Sie konzentrierte sich wie während einer Vorstellung ... nein, sie konzentrierte sich, als ginge es um ihre Existenz – was durchaus auch der Fall sein mochte – und schaffte es tatsächlich, den Vorgang zu stoppen.
Aber stoppen war erst die halbe Miete, sie musste ...
„Paula!“
Der Riese, der sich über ihr aufbaute und zu ihr herabbeugte, sie an den Schultern fasste – mit jeweils nur dem Zeigefinger ihrer beiden Hände; mehr hätte ihr schwerste Verletzungen zufügen können, denn sie war ja nur noch ... unterarmgroß! – war ihr sonst eher kleinwüchsig vorgekommen.
„Simon ...“
Sie wusste nicht, wie ihre Stimme bei ihm ankam. Ob er sie überhaupt hörte, so kraftlos und dünn, wie sie geworden war.
„Ganz ruhig, Paula, ganz ruhig. Es ist für uns alle nicht einfach.“ Er sah zu den anderen, die offenbar nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten – ihr gegenüber. Simon war der Einzige, der Initiative ergriff.
Ein warmes Gefühl durchflutete Paula. Aber nur kurz. Dann wurde sie sich wieder ihrer Lage bewusst.
„Ich ... ich kann es nicht rückgängig machen. Ich bin ... wie blockiert!“
„Nein.“ Er schüttelte den riesigen Kopf. Seine Augen waren wie kleine, hellblaue Teiche, in denen eine unerschütterliche Zuversicht schwamm. „Nein, das darfst du nicht glauben! Du kannst es! Du musst es nur wollen. Du musst ihm zeigen, wer der Herr ist – dass der Geist immer noch die Materie beherrscht und nicht umgekehrt!“
„Ihm ...?“
„Deinem Körper!“
Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen, hätte resigniert. Aber etwas von Simons Zuversicht, von dem unerschütterlichen Glauben an ihre Fähigkeiten, den er ihr vermittelte, setzte sich in ihr fest wie ein Saatkorn, das langsam, ganz langsam keimte, wuchs und immer mehr Raum in ihr einnahm, bis ...
„Es ... es klappt! Simon – es klappt!“
Er richtete sich auf. Seine Finger, groß wie die Pranken eines Orang-Utans, fielen von ihr ab, und sie bedauerte es, dass sie ihn nicht länger spürte. Mehr noch als das Bedauern überkam sie jedoch eine enorme Erleichterung, als sich der Boden unter ihren Augen allmählich wieder entfernte, weil sie ... in die Höhe strebte. Weil ihr Körper sich wieder seines Grundmusters besann, der Größe, die sich eingeschliffen hatte und mit der sie zurechtkam.
Simon lachte sie an – auch noch, als sie ihn um einen guten Kopf überragte. Es störte ihn nicht, ganz offenkundig tat es das nicht.
Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie viel Selbstbewusstsein in dem höchstens einssiebzig großen Mann steckte.
„Ich weiß nicht, wie –“, begann sie.
„Du musste nicht wiedergutmachen“, erwiderte er. „Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht. Das hier ...“ Er zeigte auf die Landschaft. „... kann einen schon ganz schön ... klein kriegen ...“
Sie lachte ob des Wortspiels.
Und er fiel darin ein.
Erst die anderen, die jetzt näher drängten, brachten den ernst wieder zurück.
„Wir sind verloren“, sagte Macie. Der Schatten, der sie umgab, von allen Seiten und wie ein exakter Kreis geformt – niemand wusste, wie sie das machte, aber sie konnte sich, wenn sie wollte, ganz darin verschwinden lassen – folgte jedem ihrer Schritte. „Kargor hat uns reingelegt – oder aussortiert. Nennt es, wie ihr wollt. Hier werden wir jämmerlich vor Hitze umkommen. Ohne Wasser, ohne ...“
Sie wollte „ohne Schatten“ sagen, das erriet Paula instinktiv. Deshalb fiel sie ihr ins Wort: „Du kannst uns Schatten bieten. Besseren als der Turm. Ich fühle die Kühle, die von dir ausgeht – du musst es doch auch merken.“
Verblüfft lauschte Macie in sich hinein. Plötzlich lockerte sich ihr verkniffenes Gesicht – aber nur kurz. „Selbst wenn – davon werden wir nicht satt. Davon können wir nicht unseren Durst stillen!“
„Dann müssen wir sofort aufbrechen und die Wüste überwinden. Es gibt ganz bestimmt bessere Orte, eine Oase vielleicht. Ich will nicht glauben, dass Kargor uns tatsächlich nur hierher schickte, weil wir ... weil wir von ihm nicht für wert befunden wurden, uns einer der Angk-Welten anzupassen ...“
Sie starrten sie eine Weile stumm an. Fast schien es, als wollte die Verzweiflung sie doch übermannen, als wollten sie ebenso resignieren wie Macie.
Doch wieder war es Simon, der eine klare Position bezog und Paula beipflichtete: „Sie hat Recht! Was haben wir zu verlieren? Lasst uns losgehen! Die Sonne steht fast im Zenit, wie werden uns in Geduld üben müssen, bis es Nacht wird. Und dann könnte es statt der Hitze jetzt zu beißender Kälte kommen – Prosper erzählte mal etwas in der Art. Es stand in seinen Büchern. In den Wüsten der Erde war es so. Aber die Wüsten der Erde waren endlich. Man konnte sie überwinden, selbst zu Fuß. Man musste nur Ausdauer aufbieten, Willenskraft und ...“ Er stockte kurz. „... und ein wenig Glück brauchen wir natürlich auch.“
„Vergeuden wir nicht unseren Atem für fruchtlose Diskussionen, lasst es uns versuchen!“, bekräftigte Paula und warf Simon einen dankbaren Blick zu, obwohl ihr die Erwähnung Prospers kurz einen Stich versetzt hatte. An Bord der RUBIKON waren sie eine Zeitlang miteinander liiert gewesen. Aber nicht ernsthaft genug, um daraus mehr als ein paar leidenschaftliche Stunden erwachsen zu lassen. Paula hatte sich mehr von Prosper erhofft. Sie mochte ihn – vielleicht war es auch mehr Bewunderung. Er hatte so viel für jeden Einzelnen von ihnen getan ...
Zu ihrer Verblüffung lenkte selbst Macie plötzlich ein. Schulterzuckend sagte sie: „Okay, ich bin dabei, was haben wir schon zu verlieren – außer unserem bisschen Leben, meine ich. Kommt ... kommt alle in meinen Schatten. Aber wehe – wehe, wenn einer von euch die Gelegenheit ausnutzt und sich an mich ranzumachen zu versucht! Wer tatscht, fliegt! Mit einem Arschtritt raus in die Sonne! Capito?“
„ Capito!“, grinste Simon, der nicht den Anschein erweckte, als bestünde die Gefahr, dass er sich an Macie, die nicht nur größer als er war, sondern auch doppelt so dick, vergreifen würde.
Die anderen Männer der Gruppe schienen ebenfalls nicht wirklich gefährdet.
„Dann lasst uns aufbrechen. Wer die Oase zuerst sichtet, kriegt eine Extraration Schatten!“, gurrte Macie mit dunkler Stimme.
Paula bezweifelte, dass dies ein echter Ansporn sein konnte. Aber sie war froh festzustellen, dass ihre Gruppe intakt war. Noch jedenfalls. Eine schnelle Oase wäre das Beste gewesen, um die Belastbarkeit eines jeden Einzelnen gar nicht erst auf die Probe stellen zu müssen.
Stolpernd setzte sich der seltsame Tross im kreisrunden Schatten, der aus der absonderlichen Frau wie dunkler Nebel strömte, in Marsch.
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„ WAS IST DAS?“, SCHRIE Sarah. „Dort!“
Prosper schüttelte den letzten Rest von Schlaf ab und kam schneller auf die Beine, als seinem Kreislauf lieb war. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, so abrupt war er aufgesprungen.
Sarah, die ein paar Schritte entfernt gesessen und sich ebenfalls erhoben hatte, wies mit ausgestrecktem Arm in die Ferne, wo ein Gebirgskranz zu erkennen war. Die Gipfel schimmerten weiß, als wären sie schneebedeckt.
Aber so weit musste Prosper gar nicht schauen. Das, worauf Sarah ihn aufmerksam machen wollte, lag sehr viel näher.
Über den Blumen.
„Es ... bewegt sich. Steigt auf. Sind das ... Insekten?“
Prosper wünschte, er hätte es ihr sagen können. „Wir müssten näher ran, um es zu erkennen. Aber es hat den Anschein. Insekten oder ... Vögel. Etwas muss sie aufgeschreckt haben.“ Er machte eine kurze Pause, dann seufzte er: „Sieh dir nur all die Blumen an!“
Sie nickte. „Hab ich schon gesehen. Heute Nacht waren sie noch nicht da. Das hätte ich bemerkt. Trotz des Fastdunkels. Die wären mir nicht entgangen.“
Das bezweifelte Prosper. Er selbst hatte in der Nacht jedenfalls nicht unterscheiden können, ob sie von simplen Gräsern oder prächtigen Blumen umgeben waren, deren Blütenkelche vielleicht im Finstern geschlossen waren und deshalb sehr viel unauffälliger als jetzt.
In einem allerdings musste er ihr Recht geben. „Der Duft“, sagte er. „Ich gebe zu, der Duft ist neu. So was haben wir bei unserer Ankunft nicht in die Riechorgane bekommen!“
„Sag ich doch. Die müssen ... über Nacht gewachsen und erblüht sein.“
„Das wiederum fällt mir noch schwerer zu glauben. Eher ziehe ich die Möglichkeit eines vorübergehenden Ausfalls unseres Geruchssinns in Erwägung. Möglicherweise wurde er bei der Passage betäubt. Nun ist er wieder fit und meldet uns: Pollenalarm!“
Er hatte das Wort kaum ausgesprochen, als sich Sarah mit der Hand gegen die Stirn klatschte und rief: „Das ist es!“
„Ist was?“
„Pollen! Ich wusste gleich, woran mich diese wolkenartigen Schwärme erinnern. An Pollenflug!“
Er schüttelte den Kopf. „Unwahrscheinlich. Es geht nicht das leiseste Lüftchen. Pollen werden aber vom Wind getragen. Und die dort ... erheben sich regelrecht vom Boden. Fast wie ein Teppich, der sich erst ab einer bestimmten Höhe sammelt und zu dichteren Gebilden zusammenballt. Und dann fangen sie an, Fahrt aufzunehmen. Die Wolke dort beispielsweise ...“ Er zeigte in eine Richtung, aus der sich langsam eine solche Ballung näherte. „Vielleicht doch Insekten. Wenn sie näher heran sind, werden wir –“
„Wir sollten sie lieber nicht näher rankommen lassen! Wir sollten – rennen!“
Die Panik, die ihre Stimme plötzlich färbte, war unüberhörbar.
Und es bedurfte auch keiner großartigen Erklärung, da Prosper bereits mit eigenen Augen sah, was Sarah offenbar nur eine Spur schneller realisiert hatte.
Ihre Besorgnis bezog sich nicht in erster Linie – oder nicht nur – auf die Wolkenballungen selbst, sondern mindestens genauso auf das, was sie offenbar anzog. Wie ein Magnet. Und das lag ... oder stand ... genau hinter ihnen!
Der Turm.
„Verrückt, oder? Komm, lass uns Deckung auf der anderen Seite suchen. Ich will nicht in eine solche Ballung aus wer weiß was geraten. Wie soll man da atmen? Wir würden ersticken!“ Sie nahm Prosper bei der Hand und zog ihn zur anderen Turmseite.
Wo sich ihre Augen weiteten, denn auch dort erstreckten sich entlose Felder von Blumen – aus denen ebensolche Wolken aufstiegen, sich sammelten, ballten und Fahrt Richtung Turm aufnahmen.
„Das sieht mir verdammt nach Erntezeit aus“, knurrte Prosper. „Das war ganz schlechtes Timing von Kargor. Ganz schlechtes Timing ...“
„Wohin sollen wir?“
„Wohin können wir noch?“
„Nirgends! Es sei denn, du weißt, wie wir in den vermaledeiten Turm gelangen!“
„Wenn ich das wüsste, wäre ich längst drin.“
„Dann bleibt uns wohl nur, uns ganz flach auf den Boden zu legen und zu hoffen, dass das Unheil über uns hinwegzieht – nach Möglichkeit ohne uns zu ersticken.“