Читать книгу Imperium der Foronen: Raumschiff Rubikon Band 9-16: Science Fiction Abenteuer Paket - Lars Urban - Страница 41
6.
ОглавлениеDer Durchlass entstand, als würde sich die Irisblende einer Kamera öffnen.
Kreisrund.
Und genau unterhalb der Stelle, die Sahbu mit seiner Handfläche berührte.
Obwohl alles lautlos vonstatten ging – abgesehen von der Melodie, die seine Haut auf den Glyphen wachrief –, wich er einen Schritt zurück.
Unwillkürlich erwartete er, dass sich die „Blende“ wieder schließen würde. Doch das geschah nicht. Eher hatte es den Anschein, als würde die Öffnung auf ihn warten. Darauf, dass er sich endlich entschloss, ihre Schwelle zu übertreten und so ins bislang verwehrte Turminnere zu gelangen.
Sahbu zögerte weiter. Irritierenderweise vermochte er durch die entstandene Öffnung nicht in den Bereich dahinter schauen. Irgendetwas schien seine ... abzulenken. Ja, ein besseres Wort fiel ihm nicht dafür ein. Er konnte die Hand ausstrecke und die Leere in der Wandlücke spüren, die keinerlei Widerstand bot. Aber seine Augen vermochten die Grenze nicht zu überwinden. Wenn er zu lange darauf starrte, wurde ihm übel. Er hatte dann das Gefühl als jemand mit gesunden Augen durch die verzerrenden Gläser eines Fastblinden zu starren.
Als verheißungsvolles Omen empfand er das nicht gerade. Auch nicht als eine Einladung, die er unbedingt annehmen sollte.
Ernsthaft überlegte er, die anderen heraufzurufen und mit ihnen zusammen zu entscheiden, ob einer von ihnen es wagen sollte, das Bauwerk zu betreten.
Es wäre vernünftiger gewesen. Sehr viel vernünftiger ...
... als das, was Sahbu tatsächlich tat.
Zwei Schritte – und er stand auf der anderen Seite!
Als hätte für einen kurzen Moment etwas seinen eigentlichen Willen überbrückt, ignoriert, kurzgeschlossen.
Alarmiert fuhr er herum, wollte den Schritt wieder rückgängig machen, nach draußen gehen, ohne sich die Zeit zu nehmen, auch nur zu schauen, wo er gelandet war. Kreatürliche Angst trieb ihn zu dieser Reaktion.
Die vergebens war. Zu spät kam.
Die Irisblende hatte sich geschlossen.
Die Wunderwelt der ERBAUER stand seinen staunenden Blicken offen.
Die Tür nach draußen nicht mehr.
––––––––
E RNTEZEIT.
Der Begriff hallte in Sarahs Geist nach, während die Schwärme immer näher kamen, immer lauter wurden (zuerst war es nur ein fernes Murmeln gewesen; inzwischen klang es, als würden Millionen Rasierklingen aneinander reiben) und bereits über ihre Köpfe und Rücken hinwegzukriechen schienen.
Es war das unheimlichste und beängstigendste Gefühl, dem sich Sarah jemals ausgesetzt gefühlt hatte. Noch furchteinflößender als die Landung der turmhohen Invasionsschiffe, mit denen die Jay’nac damals die Eroberung der Erde eingeläutet hatten ...
... als noch niemand dort auch nur das Geringste von den Jay’nac und dem uralten Krieg geahnt hatte, der in Milchstraßenweiten und den Gefilden benachbarten Galaxien tobte.
Als noch kein menschliches Wesen über die Bahn des vierten Planeten hinausgekommen und niemand es für möglich gehalten hatte, die Grenzen des eigenen Sonnensystems jemals zu überwinden, um ferne Sterne zu erreichen.
Oder ferne Galaxien.
Alles war seither anders geworden. Nicht nur der eigene Horizont hatte sich immens erweitert, auch die Art und Weise, wie Sarah ihren Stellenwert im Gefüge des Kosmos einschätzte war ... sehr viel realistischer geworden.
Sie war ein Nichts.
Jeder einzelne Mensch – oder jedes einzelne Fremdwesen – war ein solches Nichts ...
... aber manchmal waren sie auch das berühmte Zünglein an der Waage, das über den Verlauf der Zukunft entschied.
Darnok beispielsweise. Immer wieder Darnok – sie wollte gar nicht so oft an ihn erinnert werden, und doch fiel er ihr jedes Mal ein, wenn sie darüber nachgrübelte, wie viel ein einzelnes Leben doch auch wert sein konnte. Wie viel es zu bewegen und verändern imstande war, so ganz anders, als man es einem „Nichts“ eigentlich zutrauen wollte.
Inzwischen fühlte es sich an, als würden die Partikel, die über sie hinwegzogen, ihre Kleidung tranchieren; erst den Stoff und dann die darunter liegende Haut.
Sie stöhnte, als der Schmerz kam. Rauen Zungen gleich leckte es über sie hinweg, verschonte auch nicht ihr Kopfhaar, riss es büschelweise aus, schürfte Blut frei ...
„Prosper!“
„Ich weiß“, kam die Antwort über das ohrenbetäubende Geräusch hinweg. „Es tut weh. Aber halte durch. Verschränke die Hände über dem Kopf, aber bleib unten – wage es nicht, den Kopf zu heben. Es muss gleich vorbei sein. Gleich ...“
Sie tat, was er ihr geraten hatte, und ihre Handflächen berührten nässende Kopfstellen, wo die Haut bereits samt Haar abgeschliffen war, der blanke Knochen tastbar war ... und Blut, klebriges Blut. Der Schmerz nahm unter der Berührung noch zu. Sarahs Sinne schwanden. Aber sie verlor das Bewusstsein nicht völlig, wie sie es sich gewünscht hätte, sondern driftete immer knapp an der Oberfläche entlang. Ihr Gesicht wies zu Boden. Sie schmeckte fremdes Erdreich, fremde Gräser in ihrem Mund. Aber sie atmete. Der Mahlstrom aus Pollen (oder was immer es sein mochte, was da so erbarmungslos vom Kobaltblau des Turmes angezogen wurde) wälzte sich über sie hinweg.
Die Angst, davon vielleicht nicht filettiert, aber begraben zu werden, bei lebendigem Leib, wurde übermächtig.
„Proper ...“
„Durchhalten! Es ist gleich vorbei!“
Sie wünschte, sie hätte gewusst, woher er seine Zuversicht nahm – oder sie wenigstens geteilt. Aber sie hatte nur Angst. Und noch schlimmer wurde es, als ihr bewusst wurde, dass sie noch nicht sterben wollte. Nein, sie wollte leben! Noch lange leben!
Es hatte auch andere Zeiten gegeben. Gefahrenmomente, in denen sie sich durchaus glaubhaft für sich selbst eingeredet hatte, es sei gleichgültig, ob sie nun davonkäme oder nicht.
Hier und heute war es anders.
Sie wollte nicht gerade erst einen Fuß auf diese Welt gesetzt haben, um sie gleich wieder zu verlassen. Um das Leben an sich zu verlassen, in einen ungewissen Zustand überzugehen, von dem sie nie geglaubt hatte, dass er eine neue Chance bieten würde.
Leben nach dem Tod?
Um das zu glauben, war sie zu pragmatisch veranlagt, zu rational eingestellt. Sie konzentrierte sich lieber auf das Leben vor dem Tod.
„Durchhalten ...“
Täuschte sie sich, oder wurde Prospers Stimme schwächer?
Sie wusste nicht genau, warum, aber einer der Gründe, warum sie gerne weitergelebt hätte, war dieser Mann, der so viele Wesenszüge hatte, dass wahrscheinlich ein Leben gar nicht ausreichte, sie zu ergründen. Zumindest nicht die Zeit, die ihnen noch blieb.
„Pros ...“
Weiter kam sie nicht. Der Schmerz wurde so übermächtig, dass sie ihre Hände vom Kopf wegzog. Es war ein Reflex. Aber auch der Anfang vom Ende.
Fast bestialisch biss sich der Orkan aus Pollen in ihr fest, riss sich los ... und nahm weitere Haut- und Fleischfetzen, Blut, selbst Knochensplitter mit sich.
Sarah schrie in den Boden hinein.
Und nahm dankbar das Geschenk des Todes an, der alles auslöschte.
––––––––
I CH HIRNVERBRANNTER Idiot!
Sabhu kam sich vor wie ein kleines Kind, das versehentlich in einen Spielzeugladen eingeschlossen worden war. Auf der einen Seite war es das Paradies, dasselbe wie das Schlaraffenland für einen Vielfrass, auf der anderen jedoch rumorte und bohrte unablässig das Bewusstsein, von zuhause abgeschnitten zu sein, von den Eltern, von allem, was einem vertraut und lieb war ... Wie sollte man sich angesichts solcher Ängste an dem Angebot von Schätzen berauschen können?
Sahbu fluchte und verwünschte sich gnadenlos weiter, während seine Blicke zu erfassen versuchten, was ihn umgab. Wohin er da geraten war ...
Ein Wunderland, tatsächlich. Und das war nur ein Stockwerk – wie viel mehr mussten die anderen Etagen bieten?
Die Dinge, die überall herumstanden oder lagen, hingen oder schwebten, waren in ein karmesinrotes Licht getaucht, ganz ähnlich dem, das dem Schlüssel innegewohnt hatte, der nun Teil von Sahbu war.
Der Schlüssel ... der ihm den Zutritt hierher ermöglicht hatte, daran gab es für Sahbu keinen Zweifel mehr.
Kargor hatte sie also doch nicht ohne jegliches Hilfsmittel zurückgelassen. Der Schlüssel war sein Geschenk an die Siedler der Angk-Welten, und zwar eines von unschätzbarem Wert. Sicher diente er nicht nur dem Transfer, nicht nur dem Öffnen des Turms. Er, Sahbu, musste nur den Mut besitzen, ihn im richtigen Moment an der richtigen Stelle auch einzusetzen ...
„Roargnartz? Roargnartz willagg?“
Er erstarrte.
Zwischen den Dingen, die den riesigen Raum füllten, bewegte sich etwas auf ihn zu. Eine schwarze Flamme, groß wie Sahbu und in ständiger Veränderung. Sie glitt über den marmorierten Boden hinweg, ohne ihn zu berühren, und wenn man genau hinsah, bemerkte man, dass sich die Flamme keine war, nur zufällig so aussah, in Wahrheit aber mehr einem zerfransten Stück Weltraum ähnelte, das ein launiges Überwesen dazu befähigt hatte, sich bis auf die Oberfläche eines Planeten zu begeben und dort nach Belieben umzutreiben. Je länger Sahbu hinsah, desto sicherer wurde er: Was da auf ihn zukam, war ein Stück eisiges Vakuum, ein Hauch von All inmitten dieses gewaltigen Saales innerhalb des kobaltblauen Turms der ERBAUER!
Und das restlos Wahnsinnige daran war, dass ... dass in dem schwarzen Vakuum Lichter blinkten – wie ferne Sterne.
Spätestens nach dieser Beobachtung machte er sich mit dem Gedanken vertraut, den Turm vielleicht nie mehr verlassen zu können, jedenfalls nicht heil an Körper und Verstand.
„Roargnartz? Roargnartz willagg?“, wiederholte die glockenhelle Stimme, die aus der kalten Flamme kam. Und einen Atemzug später fragte sie: „ Bin hungrig. Darf ich dich verspeisen?“
Er zuckte zurück.
Die unheimliche Erscheinung keckerte: „Falsch. Fehler, falsch! Ruhe, zurück, großes Malheur! Meinte: Bist du hungrig? Und darf ich dich speisen?“
Sahbu hatte das Gefühl, sich immer weiter von der Realität zu entfernen. So unwirklich wie das Ding da vor ihm – unwirklicher noch als die Umgebung des Turminneren an sich –, war ihm noch niemals etwas vorgekommen. Wieder fielen ihm die Traumranken des Gettos ein. Ob die Süchtigen es ähnlich empfunden hatten? Ob sie sich auch immer weiter, von Mal zu Mal mehr, von dem isoliert fühlten, was für die Nichtträumenden die Normalität war?
„Wer – wer bist du?“
Die Flamme erstarrte. Als würde die frostige Kälte, die sie ausstrahlte, nun auch nach ihr selbst greifen. Und dann sah Sahbu wie im Zeitraffer eine humanoide Gestalt aus der „Substanz“ entstehen. Aus der Schwärze. Als wäre es Materie.
Am Ende war die Ähnlichkeit mit einem Gloriden verblüffend: die gleiche asexuelle, androgyne Ausstrahlung, haarlos, absolut glatt und nackt, ohne dass beim Betrachter Schamgefühle verletzt wurden. Nur war die Haut hier so schwarz wie es zuvor die wabernde Flamme gewesen war, und auch sie war durchsetzt von Lichtern, die mehr denn je an ferne Sterne, Galaxien, Nebel und dergleichen erinnerten ...
„Ich Varx. Varx der Neunmilliardsteachthundertmillionsteundvierhundertsiebenundachtzigste.“
Etwas an der Art dieses Wesens vermittelte Sahbu glaubhaft, dass es keinerlei Gefahr für ihn darstellte. „Reicht ... Varx?“, fragte er dennoch etwas kleinlaut.
„Varx ist Ehre von so hohem Schlüssel! Darf ich dich jetzt speisen?“
Sahbu gab sich Mühe, aus dem Kauderwelsch schlau zu werden. „Schickt Kargor dich?“
„Kar-gor mir nicht bekannt. Unbekannt. Du Sabuu. Du Sabuu. Ich dich speisen.“
„Wenn ich wüsste, ob ich dir trauen kann.“ Zum ersten Mal fiel Sahbu auf, wie lautstark sein Magen rumorte. Er überlegte, wann er das letzte Mal gegessen hatte, und wo. Es war noch an Bord der Perle gewesen, ungefähr zu der Zeit, als sie in dieses Sonnensystem vorgestoßen war und Kargor sie mit dem Wunder der bahngleichen Planeten bekannt gemacht hatte.
„Trauen! Können! Müssen! Varx treuer Sklave. Varx Lotse durch die Welt der Wände.“
„Welt der Wände?“
„Hier ...“ Das in eine humanoide Form gepresste Stück Dunkelheit, der Fetzen Weltraum, den eine launige Macht etwas wie Leben eingehaucht hatte, drehte sich um seine Achse und deutete um sich.
Wände.
Er meinte das Innere des Turms.
Seine Welt, die er vielleicht noch nie verlassen hatte.
„Ich will keinen Sklaven“, murmelte Sahbu. „Einen Lotsen hingegen ... noch dazu einen, der mir zu essen und zu trinken geben würde ... darüber ließe sich reden. Wenn –“
„– du mir trauen könntest?“ Varx feixte. Zumindest gewann Sahbu diesen Eindruck, wenngleich die Mimik des Wesens hinter treibenden Sternhaufen verborgen blieb. „Hoher Schlüssel von Sternling niemals nicht enttäuscht würde! Varx ergebener Skla... Lotse!“
„Du nennst dich ‚Sternling’? Und warum mich Hoher Schlüssel? Woher weißt du, dass ich –“
„Ergebener Lotse und Sternling spüren kann die Aura des Trägers. Des Meisters und Herrn.“
„Herrn und Meisters“, verbesserte Sahbu ihn unwillkürlich.
„Ja, ja, bessere mich! Redensart schwer für ergebenen Lotsen. Aber lerne. Lerne unentwegt. Bin bald flüssig!“
„Du meinst, du sprichst bald flüssig, oder?“ Sahbu konnte sich ein Grinsen kaum noch verkneifen.
Der Sternling nickte eifrig.
„Wie viele von deiner Sorte leben hier?“
„Leben?“
Irgendwie ernüchterte die simple Nachfrage Sahbu augenblicklich. Die putzige Ausdrucksweise des Fremdwesens hatte ihn zeitweise fast vergessen lassen, woraus es bestand – nicht, dass er es gewusst hätte. Aber er wusste immerhin, dass es kein Fleisch und Blut war. Nur folgerichtig deshalb Varx’ Einwand.
„Wie viele von deiner Art schwirren hier rum?“
„Aah ... Schwirren. Ich schwirre hier rum.“
„Du willst behaupten, du seiest ganz allein?“
„Nicht allein. Erhabener Herr und Meister sein da.“
„Und bevor ich da war? War Varx da allein?“
Die Frage schien ihn mehr zu irritieren als alles andere davor. „Varx war nicht, bevor Meister kam“, seufzte er schließlich. „Varx erst sein, seit Meister ist. Hier ist. Schlüssel ihn haben gerufen. Aus ... weiß nicht, woher. Aber jetzt ich bin. Ergebener Lotse. Ergebener des Erhabenen! Ich dich jetzt speisen dürfen?“
Sahbu entschied, dass es vernünftiger war, nicht alles zu hinterfragen, sondern manches einfach als gegeben hinzunehmen. Dazu gehörte auch sein Skla... Verdammt!, wies er sich zurecht. ... sein Führer.
„Bist du sicher, dass du das kannst? Dass du etwas hast, was ich essen kann – ohne daran hopps zu gehen?“
„Hopps?“
„Schaden zu nehmen.“
„Du nicht Schaden nehmen. Du Essen nehmen. Und Trinken. Alles bereit, alles bereit. Du nur folgenden Lotse!“
„Ich bin gespannt, ob ich einen Bissen runterkriege ...“ Sahbu folgte dem Sternling, der sich umgedreht hatte und mit zögerlichen Schritten, als hätte er gerade erst gehen gelernt, losstakste.
„Du nicht gebissen werden“, beruhigte Varx ihn. „Essen tot. Ergebener Lotse selbst hat Watuti platt gemacht.“
„Watuti?“
Der Sternling verfiel in sein keckerndes Lachen, in das sich auch das ein oder andere Glucksen mischte. „Du sehen wirst. Du sehen wirst!“
Er klatschte in die Hände, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Dann tauchte er endgültig in den Irrgarten aus fremdartiger Hightech ein, zog Sahbu wie an einem unsichtbaren Seil hinter sich her.
Dieser schwor sich, nichts in den Mund zu nehmen, was einem toten Watuti auch nur ähnlich sah. Lieber wollte er verhungern!
Was ihn aber am meisten verblüffte, war, dass er aufgehört hatte, sich unbehaglich in der völlig eigenständig wirkenden Welt des Turms zu fühlen. Alle Angst war verflogen.
Anzeichen, die ihm nur allzu vertraut waren und nur einen Schluss zuließen: Die bereits vermisste Abenteuerlust hatte ihn – endlich – wieder gepackt!