Читать книгу Whalea - Laura Ventur - Страница 12

Rosas Erkenntnis

Оглавление

Wir müssen ihn melden«, sagte Silas mit tiefer Stimme, während er auf der Bank in Rosas Küche saß und seine kurzen, spindeldürren Beine in der Luft baumelten. »Schaut euch diesen Jammerlappen an. Wie erbärmlich er daliegt.«

Wie ein nasser Kartoffelsack lag Ben in einem riesigen, geflochtenen Weidenkorb, Unterschenkel, Arme und Kopf hingen schlaff über dem Rand herunter.

»Rasmus, lass das!«, wies Rosa die Jördinkatze an, die sich gerade über den reglosen Fremden beugte und neugierig sein Gesicht beschnupperte. Rosa konnte seine Neugier nachvollziehen. Schließlich hatte er einen echten Menschen noch nie zu Gesicht bekommen.

Mit der gleichen Entdeckerfreude schwebte die zierliche Olivia mutig auf der anderen Seite so nah am Kopf des Fremden, dass sie mit ihrem Lichtkegel auch die kleinste Falte und Unebenheit ausleuchtete.

»Bist du sicher, dass das ein Mensch ist?«, fragte sie skeptisch. »Meine Freundin Heralinde hat mir da was ganz Anderes erzählt.«

»So? Was hat sie denn gesagt?« Rosa wartete amüsiert auf die Antwort.

»Na, dass Menschen keine Nase und Augen haben. Und schon gar keinen Mund«, argumentierte die Lichtelfe mit ernster Miene.

»Ach, das ist ja interessant. Was haben sie denn dann?« Rosa konnte für einen Moment den Ernst der Lage ausblenden. Ihr Heiterkeitspegel stieg kurzzeitig. Sie liebte Horror-Geschichten. Und sie wäre jede Wette eingegangen, dass jetzt so eine Schilderung kommen würde.

Olivias Flügel fingen aufgeregt an zu schlagen und sie hielt beide Hände zusammengefaltet vor ihre Brust. Ein wenig mutete sie wie ein Kolibri an.

»Dass Menschen grässlich verunstaltete Monster sind. Da wo wir unsere Nase haben, gibt es bei ihnen nur zwei Löcher. Und statt der Ohren haben sie fette Geschwülste«, rief sie entsetzt.

Rosa musste schmunzeln. »Sonst noch was?«, fragte sie neugierig.

»Ja! Ihr Mund ist so eine grausliche Öffnung, aus der sie ständig eine schleimige Flüssigkeit sabbern und unverdaute Nahrungsreste rauswürgen.« Olivia verzog angeekelt den Mund. »Sag schon, stimmt das?«

Die Wächterin schüttelte den Kopf. »Was meinst du?«

Die Lichtelfe hielt für einen Moment inne, während sie abwog, und kam sich anschließend reichlich kindisch vor. Sie flog hinüber zu ihr und schaute ihr direkt in die Augen, so als ob sie prüfen wollte, ob Rosa wirklich recht hatte.

»Ich denke, es ist ein Märchen«, stimmte sie fast schon ein wenig kleinlaut zu.

»Siehst du, war doch gar nicht so schwer.« Rosa grinste, als sie der Brenna die Erleichterung darüber ansah, dass sich solch ein widerwärtiges Monster nicht in ihr Haus verirrt hatte.

»Dieser Mensch hat kein Recht, hier zu sein«, murmelte Silas. Der Wiesenschrat war ein echter Pragmatiker. Er kannte die in Whalea herrschenden Gesetze aus dem Effeff. Jeden Paragraphen und jeden Absatz hatte er sich einverleibt, damals, nach der Großen Segregation. Die Kunde der geschlossenen Portale von und nach Whalea hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Alle Übergänge waren für Heimkehrer nur noch kurze Zeit geöffnet, keinem Whaleaner war es fortan gestattet, in die Menschenwelt hinüberzugehen. Wer es dennoch tat, für den gab es kein Zurück mehr. Das eigens erlassene Edikt war unmissverständlich klar in dieser Sache.

Die Walpurgisnacht blieb da die einzige Ausnahme, auch wenn von nun an strengere Regeln für die Teilnahme galten, die die Whaleaner nur zähneknirschend hinnahmen – denn wer wollte beim großen Almauftrieb schon fehlen. Das ganze Land fieberte dieser einen Nacht entgegen, einmal im Jahr wurde der Blocksberg für sie zum Ort eines ausgelassenen Happenings, bei dem alles erlaubt war – Sinnenrausch, Zügellosigkeit, Völlerei, Ekstase, Wildheit.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte nie ein Mensch seinen Fuß auf whaleanischen Boden gesetzt. Das Geheimnis der Portale wurde seit Urzeiten strengstens gehütet und das sollte bis in alle Ewigkeit so bleiben. In Silas‘ Augen hatte Ben das Land kontaminiert. Mehr noch – er hatte es entweiht. Grimmig fummelte er im Lederbeutel herum, der an seinem Gürtel hing, und zog eine Pfeife mit filigranem, langem Mundstück aus Trollknochen heraus. Er stopfte den reichlich kunstvoll verzierten Pfeifenkopf mit Tobak voll und grummelte dabei weiter erbost vor sich hin – was nicht untypisch für ihn war, denn er war ein pelziger, zuweilen giftiger Eigenbrötler, der sein großes Herz nur selten offenbarte und stattdessen das Gegenüber lieber grantelnd vor den Kopf stieß.


Nach einem kurzen Pfiff durch die Zähne winkte er Olivia zu sich. Die verstand auch ohne große Worte. Flink flog sie in der Küche mehrere Stationen an. Sie war auf der Suche nach der Konna, einer domestizierten Feuerspinne, die seit ewigen Zeiten zum Haus gehörte und sich dort frei bewegen konnte. Sie fand sie schließlich, friedlich dösend, an einem Faden an der Decke hängen. Ziemlich unsanft packte Olivia das kleine Ding, flog es herunter zu Silas, haute dem schlaftrunkenen Tier ein paarmal wenig zimperlich auf den Hinterkopf, bis es endlich begriff und Silas‘ Pfeife entzündete. Der nahm ein paar tiefe Züge, strich sich erst seinen schwarzen Schnäuzer zurecht, zuletzt seinen grauen Bart, der im Fischgrätenmuster gleichförmig geflochten und mit einer kleinen Samtschleife zusammengebunden war. Seine Stirn war in sorgenvolle Falten gelegt. Ab und zu blies er während seines Selbstgesprächs den Rauch durch seine Knollennase hinaus.

»Rosa, dieser Kerl muss entsorgt werden«, sagte Silas mit lauter Stimme, »und zwar schnell!«

Sie antwortete nicht. Auch wenn sie seine Worte gehört hatte, rührte sie gedankenversunken im großen Topf, der im Kamin über der Feuerstelle hing. Nicht, dass sie ihn nicht schätzte. Im Gegenteil. Silas hatte ganz in der Nähe in einer Erdhöhle sein Quartier aufgeschlagen und war ein wachsamer Nachbar. Er pflegte beste Beziehungen zu den Laguren, einer schwer kontrollierbare Zwergenart, die nicht weit entfernt eine von vielen Apfelbaumplantagen unterhielt und ansonsten wie ihre nahen Verwandten, die Dverguren, in Erdstollen wohnte.

Jedes Jahr zur Zeit der Apfelernte feierten sie in ihren eigenen Plantagen ihr Eplinvangar – Volksfest und große Zwergensause, bei der sich meist die männlichen Zwerge den dicken Wanst mit gärenden Äpfeln vollschlugen. Im Vollrausch zogen sie dann aus und richteten allerhand Unheil an. Der Hexenrat hatte es bisher trotz aller Auflagen nicht geschafft, diesem zügellosen Fress- und Saufgelage Einhalt zu gebieten. Die Obstbäume verteidigten sie bis an die Zähne bewaffnet mit ihrem Leben. Jeder, der auch nur in die Nähe der Apfelbaumpflanzungen kam, musste mit handfestem Ärger rechnen. Laguren waren schier unschlagbare Meister im Kampf mit der Streitaxt.

Seit Silas in ihrer Nachbarschaft wohnte, hatte Rosa Ruhe vor den unangenehmen Raubzügen, als Gegenleistung dafür, dass sie ihn einst aus den Fängen der Höhlentrolle befreit hatte.

»Erst essen wir zu Abend«, beschloss sie. »Mit leerem Magen lässt es sich nicht gut entscheiden.«

Noch bevor sie weitersprechen konnte, klopfte es dumpf an die Fensterläden, die Rosa vorsorglich geschlossen hatte, um neugierige Blicke von außen auf die gefährliche Gästeschaft im Inneren zu vermeiden. Erschrocken flogen alle Köpfe herum, doch Rosa konnte sie gleich beruhigen. »Das ist Krah.« Seelenruhig begab sie sich zum Küchenfenster und öffnete es.

Der Rabenvogel zwängte sich ungeduldig durch die Fensterläden hindurch und flog von der Fensterbank nach einem kurzen Erkundungsflug durch die Küche direkt auf den Rand des Weidenkorbs. Seine großen Flügel wirbelten dabei die Luft so stark, dass nicht nur die an der Decke hängenden Töpfe schepperten, sondern auch dieses seltsame schmale Stoffband, das der Fremde um den Hals trug, quer über seinem Gesicht zum Liegen kam.

Krah war ein prachtvoller Rabe, mit pechschwarzem Gefieder, das in der halbdunklen Küche im Widerschein des lodernden Kaminfeuers glänzte. So einen wie den Fremden hatte er noch nie gesehen. Und wieso lag er im Weidenkorb? Prüfend pickte er am Stoff seiner Hosenbeine herum und beäugte ihn gründlich. Schließlich schaute er zur verdutzten Rosa hinüber, bevor er auf dem Korbrand weiter hüpfte, bis er neben seinem Kopf saß.

Amüsiert hob er den Schnabel in die Luft und krähte feixend, währenddessen sich seine Halsfedern wölbten und dabei schwarzlila schimmerten. Vorsichtig hob Krah das Stoffband und lugte in das Gesicht des Fremdländers. Etwas ratlos sah er in die genauso ratlos dreinblickende Runde. Es war, als ob er in einem Buch mit leeren Seiten lesen würde. Als äußerst scharfsinniger Beobachter erzählte ihm das Antlitz seines Gegenübers normalerweise Bände. Auch das, was man nicht preisgeben wollte. Weil er die Körpersprache verstand wie kaum ein anderer, konnte man nur schwerlich etwas vor ihm verbergen. Diesmal allerdings blickte er ins Nichts. Was würde wohl passieren, wenn man dem Fremdling ein bisschen auf der Stirn herumpickte? Krah fackelte nicht lange, seine Neugier war zu groß.

Dass Olivia ihn lautstark warnte, weil sie fürchtete, der Fremde könnte plötzlich aufwachen, ihn packen und ihm den Kopf abreißen, kümmerte ihn wenig. Noch bevor Rosa sich einmischen konnte, regte sich etwas im großen Weidenkorb, der eigentlich für Feuersteine bestimmt war. Der Eindringling erwachte.

Selbst, als der Mensch eine Zeit lang reglos die Decke anstarrte, hämmerte der Rabenvogel amüsiert weiter auf seiner Stirn herum. Wann hatte er schon die Gelegenheit, jemanden so zu piesacken?

»Aufhören!«, brüllte der drangsalierte Fremde plötzlich aus vollen Lungen.

Krah ließ überrascht von ihm ab, blieb jedoch mutig auf dem Korbrand sitzen.

Mit knackenden Knochen zog Ben sich stöhnend aus dem Weidenkorb, jeden Muskel spürte er dabei schmerzhaft, bis er endlich stand und an sich herunterschaute. Er fühlte sich, als hätte ein Tyrannosaurus eine gute Stunde auf ihm herumgekaut und ihn dann als ungenießbar wieder ausgespien. Er war sich sicher, dass er ein ebenso desolates Bild abgeben musste: eine ziemlich gebeutelte Witzblattfigur mit Ringen unter den Augen und hängenden Schultern, mit verdreckten, zerrissenen und zerknitterten Kleidern, die Haare zerzaust. Langsam wanderte sein Blick reihum und er musterte jeden wortlos.

»Okay. Was ist das hier für eine Veranstaltung? Eine Rocky Horror Picture Show? Eine Halloweenparty? Und wo bin ich hier überhaupt?«

»Du bist da, wo du nicht sein solltest«, entgegnete ihm Silas mit ruhiger Stimme und die Kreise aus Pfeifenrauch, die sein Mund dabei ausblies, stiegen gleichförmig langsam in die Höhe. »Wie ist dein Name, Fremder?«

»Benjamin, aber alle nennen mich Ben«, entgegnete der etwas zögerlich.

Silas‘ ausgehauchte bläuliche Pfeifenringe hatten den Neuankömmling in der Zwischenzeit erreicht, sich zu runden Lippen zusammenzogen und ihrerseits weitere Ringe genau in sein Gesicht geblasen. Ben fing heftig an zu husten und zerschlug die Ringe ärgerlich.

Rosa hatte ihn währenddessen die ganze Zeit stumm beobachtet. Diesen Namen kannte sie gut. »Wohnst du in Frankfurt? Oder arbeitest du nur dort?«, fragte sie.

»Beides. Gebürtig stamme ich aber aus dem Süden«, antwortete Ben. »Was soll das hier werden, ein Verhör? Ich verlange eine Erklärung! Auf der Stelle!«

»Ich finde nicht, dass du gerade in der Position bist, Forderungen zu stellen, junger Mann. Im Gegenteil. Du kannst froh sein, wenn wir dich hier dulden«, konterte Rosa und wandte sich ab, um Teller, Besteck und Becher aus dem Schrank zu holen und den Tisch zu decken.

»Hinsetzen, wir essen jetzt.«

Widerstandslos folgte Ben ihrer Anweisung. Längst hatte er eingesehen, dass er fürs Erste klein beigeben musste. Zügig setzte er sich gegenüber von Silas, der ihn argwöhnisch im Auge behielt. Und er war nicht der Einzige, der sich für den Gestrandeten interessierte.

Mit einem Satz sprang Rasmus neben ihn auf die Bank und Krah flog auf die Fensterbank, von wo aus er ihn von der Seite beobachten konnte. Schließlich begab sich Olivia hinüber und setzte sich mutig neben Krah.

Rosa stellte zuerst Silas, dann Ben einen Teller dampfende Suppe vor die Nase, zuletzt für sich selbst, und ließ sich auf dem Hocker am Tisch nieder. Ben schaute entnervt auf den gefüllten Holzteller vor sich. Dass der Nachmittag solch eine irrwitzige Wendung nehmen würde, hatte ihn schon mächtig aus der Fassung gebracht. Sich jetzt mit diesen merkwürdigen Gestalten an einen Tisch setzen zu müssen, schlug dem Fass den Boden aus. Er schien eine Menge mieses Karma angehäuft zu haben, um in solch einer Geschichte zu landen. Sollte er wirklich zu sich nehmen, was die Alte ihm aufgetischt hatte?

Den Mut, zu fragen, um welche Suppe es sich da handelte, hatte er nicht, auch wenn seine Fantasie ihm die Befürchtung nahelegte, es könnten ihm auf halber Höhe womöglich ein paar Glubschaugen und haarige Spinnenbeine entgegenkommen. Aber es stieg ihm ein angenehmer Duft in die Nase. Nach einem prüfenden Blick in die Gesichter seiner Tischgenossen entschloss er sich, zu essen. Stumm löffelten die drei ihren Tellerinhalt. Ben saß in sich zusammengesunken da und starrte dabei stur auf den Tisch. Er spürte Rasmus‘ scharfe Blicke, so als ob jemand ihn mit einem glühenden Lockenstab drangsalieren würde. Dabei war ihm die Katze so nah auf die Pelle gerückt, dass er ihre Körperwärme wahrnehmen konnte.

»Sag mal, willst du ein Loch in den Tisch starren?«, fragte Rasmus nach einer gefühlten Ewigkeit der Stille in der Küche. »Raus mit der Sprache, was willst du hier?«

Ben stockte der Atem. Diese Bestie hatte wirklich zu ihm gesprochen und rollte dabei das »r« markant aufdringlich. Rosa und Silas hatten augenblicklich das Essen gestoppt und lauschten gespannt.

Was willst du eigentlich von mir, du wandelnder Flohsack? Wenn hier einer etwas zu erklären hat, dann ja wohl du und diese Horde von Schießbudenfiguren, die sich hier sonst noch versammelt hat! Das waren die Sätze, die ihm auf der Zunge lagen. Aber heraus kam nur schnippisch: »Um das zu beantworten, müsste ich erst mal wissen, wo ich bin.«

»Ich finde, du riskierst hier eine reichlich dicke Lippe … Ben«, säuselte ihm Rasmus ins Ohr und betonte dabei seinen Namen auffällig langgezogen.

»Lass gut sein«, ging Rosa dazwischen. »Du bist in Whalea. Genau da, wo du nicht hingehörst. Wie hast du es geschafft, das Portal zu finden?«

»Ach, die junge Dame meint wohl den fressgeilen Kühlschrank, wie?«

»Ich rate dir, deinen Ton zu zügeln, sonst wirst du nicht viel Freude mit uns haben«, raunte ihn Silas an.

Ben fiel gleich wieder in sich zusammen. Es dämmerte ihm, dass es in seiner jetzigen Lage nicht sinnvoll war, große Töne zu spucken. Er saß definitiv nicht am längeren Hebel. Mit etwas mehr Demut ließe sich womöglich mehr erreichen. »Das ist alles ihre Schuld. Sie hat meinen Wagen ramponiert. Ich will den Schaden ersetzt haben. Nur deshalb bin ich ihr gefolgt. Woher sollte ich wissen, dass sie in einer Geisterbahn wohnt?«

»Geisterbahn? Was ist das?«, schwang die helle Stimme von Olivia herüber und ihre Flügel schlugen dabei aufgeregt. »Sind da vielleicht die Waldgeister zu Hause?«, quietschte sie. »Rosa, die Waldgeister, dort kann ich sie endlich sehen.« Wie ein Feuerwerkskörper schoss Olivia in die Höhe, klatschte dabei in die Hände und flog direkt vor Bens Nase. Ihre Scheu vor dem Fremden hatte sie in diesem Moment völlig über Bord geworfen. Der kniff die Augen zusammen und drehte den Kopf von dem unangenehmen Lichtball weg.

»Olivia!«, donnerte Rosa sichtlich erzürnt. Ihre Überschwänglichkeit hatte der Lichtelfe einmal mehr ein Schnippchen geschlagen. Aber das kannte Rosa bereits. Schwebend wandte sich die Brenna ihr zu, verbeugte sich entschuldigend, zog dabei sichtlich genervt eine Schnute und verschränkte die Arme, flog dann langsam wieder zurück zur Fensterbank, wo Krah sie mit einem Kopfschütteln in Empfang nahm.

Rosa war ihr in diesem Moment dankbar, dass sie ihr weitere Diskussion ersparte. Ben sah ihr ungläubig nach und brachte erst einmal keinen Ton mehr heraus. Fliegende und sprechende Lampen, wo gibt’s denn so was?, ging es ihm durch den Kopf. Silas hatte die Szene derweil aufmerksam beobachtet. »Nein, junger Mann, das hier ist kein Zauberpilz-Trip und du hast auch keine Wahnvorstellungen. Leider. Das hier ist bitterer Ernst. Menschen sind in Whalea nicht willkommen. Du bist der Erste, der dieses Land jemals betreten hat.«

»Und jetzt hast nicht nur du ein Problem, sondern auch wir«, fiel ihm Rosa ins Wort.

»Whalea? Nie gehört. Wo liegt das, in Afrika? Asien?«, entgegnete Ben ratlos, wo er sich doch eingebildet hatte, in Erdkunde einiges auf dem Kasten zu haben.

Silas und Rosa sahen sich kurz an. »Das einem wie dir zu erklären, wird schwierig. Wie heißt du weiter?«, wollte Rosa wissen.

»Ben …« Er zögerte, als er bemerkte, dass sich sein Tischnachbar rührte.

»Ben was?«, wisperte ihm Rasmus wieder sanft ins Ohr und seine Nase zuckte aufgeregt. Das Raubtier hatte die ganze Zeit an ihm gehangen wie eine Klette. Die Panikschwaden, die ihm dabei in die Nase stiegen, erregten es.

»… von Thalau«, brachte er heraus, obwohl er vor der aufdringlichen Riesenkatze am liebsten schreiend davongelaufen wäre. Kaum hatte Ben seinen Namen ausgesprochen, setzte bei Rosa ein heftiger Hustenanfall ein. Sie hatte sich an dem Löffel Suppe verschluckt, den sie just in diesem Moment zu sich genommen hatte. Keuchend nahm sie den Wasserkrug in die Hand und verkleckerte eine ganze Menge beim Versuch, sich etwas einzuschenken. »Wo sagtest du, kommt deine Familie her? Aus dem Süden?«

Ben nickte.

Rosa schluckte und trank. Dann stand sie auf, ging schnaufend zum Küchenschrank, riss eine quietschende Tür auf und nahm eine Tonflasche heraus. Mit einem Plopp öffnete sie das Gefäß, schenkte ein kleines Glas randvoll mit Hochprozentigem und spülte den gesamten Inhalt mit einem Mal hinunter.

Erst als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass sie alle mit hochgezogenen Augenbrauen anstarrten. »Ich hatte einen Frosch im Hals.« Sie räusperte sich und setzte sich anschließend wieder an den Tisch. Auch wenn sie mit großer Willenskraft versuchte, einen gelassenen Eindruck zu vermitteln – überzeugend war sie nicht und dessen war sie sich bewusst. Konnten nicht alle sehen, welcher Kampf in ihrem Inneren tobte? Wie sie in schwerer Rüstung gegen den mächtigen Gegner der Erinnerung zu Felde zog?

Ben war die seltsame Szene ebenfalls nicht entgangen. Er wusste nicht wirklich, was er davon zu halten hatte. Erst als er der Meinung war, dass Rosa sich wieder einigermaßen gefangen hatte, sprach er weiter. »Aus Kempten.«

Sie räusperte sich erneut und vermied jeden Blickkontakt.

Ben stutzte. Es war unschwer zu erkennen, dass die alte Dame sichtlich irritiert war – was ihn beunruhigte. Und wenn er sich einer Sache sicher war, dann war es dieses ungute Gefühl, das gerade in ihm aufstieg. Etwas stimmte nicht.

»Ich schlage vor, wir gehen nach dem Essen alle zu Bett. Morgen früh werden wir entscheiden, wie es weitergeht«, sagte sie.

»Das kommt überhaupt nicht in die Tüte! Wie stellen Sie sich das vor?«, protestierte Ben energisch. »Ich habe morgen direkt um acht Uhr einen wichtigen Termin.«

»Ich schätze, du hast keine Wahl, Fremder«, warf Silas ein. »Ich würde an deiner Stelle nicht lange diskutieren. Oder willst du einige überzeugende Argumente von Rasmus hören?« Er zog an seiner Pfeife und ließ den Rauch ganz langsam durch Mund und Nase austreten.

Vergeblich wartete Ben diesmal darauf, dass der wieder irgendein Motiv hervorbrachte. Stattdessen schnupperte Rasmus gierig an seinen Haaren. Dabei lehnte sein massiver Rumpf am Oberkörper des Fremden und drückte ihn ein wenig zur Seite. Und bei jedem Atemzug wiegte sich der eine oder andere Haarschopf im Luftstrom. Doch Ben ließ sich diesmal nicht einschüchtern.

»Was spricht dagegen? Kann ich nicht einfach so wieder zurückgehen, wie ich hergekommen bin?« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da kamen sie ihm irgendwie naiv vor.

»Nein.«

»Warum nicht?« Ben fand, dass er sich heute angesichts seiner Situation einen Preis für naive Fragen verdient hatte.

»Weil das Portal derzeit nur in eine Richtung funktioniert«, zischte Rosa und sah dabei Olivia mit Augen an, aus denen sich jederzeit tödliche Blitze lösen könnten. Die Brenna rückte vorsichtshalber etwas näher an Krah heran und verbarg ihr Antlitz in seinem Federkleid.

»Was soll das heißen?«, hakte Ben irritiert nach.

»Damit das Portal funktioniert, müssen beide Türen geschlossen sein. Du bist in seinen Sog geraten, weil beide offenstanden. Nun ist das Portal zwar auf dieser Seite zu, doch sobald es hier geöffnet wird, entsteht wieder der Sog in die gleiche Richtung. Jemand müsste es auf der anderen Seite schließen, damit man wieder von Whalea nach drüben kommt.«

»Und diesen ganzen Schlamassel haben wir nur Rasmus zu verdanken«, entfuhr es der Brenna.

»Du kleines Miststück!«, brüllte Rasmus zurück und ließ für einen kurzen Moment von Ben ab. »Wer wollte denn die Zuckerdose plündern, du oder ich?«

»Und wer hat mich verfolgt, um mich in tausend Stücke zu reißen? Wenn Silas nicht gewesen wäre, wer weiß, wie das ausgegangen wäre«, konterte Olivia aufgebracht.

»Natürlich, jetzt bin ich schuld, dass Silas durchs Portal ist, obwohl das strengstens verboten ist, und dann in seiner Schusseligkeit auch noch vergisst, die Türe hinter Rosa auf der anderen Seite zu schließen, oder wie?«

»Moment mal! Das geht nicht auf mein Konto. Ihr könnt froh sein, dass ich euch vor Schlimmerem bewahrt habe. Wenn ihr einen Schuldigen sucht, wendet euch an den da drüben«, keifte Silas zurück und wies dabei auf Ben, der gerade aus allen Wolken fiel.

»Was ich?«, fragte der entrüstet. »Was kann ich dafür, wenn sie mir mein Auto demoliert?« Dabei blickte er zu Rosa.

Die traute ihren Ohren nicht. Jeder hatte sein Scherflein zu dieser verfahrenen Kiste beigetragen, aber es war müßig, nun über Verantwortlichkeiten zu diskutieren, wenn die oberste Priorität für alle sein musste, den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. »Ich will diese unterirdischen Versuche, eure Hände reinzuwaschen, nicht kommentieren. Es ist wie es ist, wir können die Zeit nicht zurückdrehen und es besser machen«, sagte sie ruhig und machte keine Anstalten, mit ihrer Enttäuschung hinter dem Berg zu halten.

»Heißt das, ich sitze hier fest?«, fasste Ben dieses kurze, aber sehr informative Scharmützel entgeistert zusammen.

Rosa sah ihn an und zögerte mit der Antwort. Sie schaute zu Silas hinüber.

»Scharfsinnig kombiniert, junger Mann«, raunte der schnörkellos und blies erneut einen dicken Rauchkringel in seine Richtung, der sich für einige Augenblicke zu zwei klatschenden Händen formte.

Betretenes Schweigen. Rosa wusste, es bedurfte eines mehr als genialen Planes, um aus dieser Nummer wieder heil herauszukommen.

»Ich zeige dir dein Nachtquartier«, sagte Rosa und war froh, dass niemand ahnen konnte, wie schwer ihr diese Worte über die Lippen kamen. »Morgen früh sehen wir weiter. Ich rate dir, das Zimmer nicht zu verlassen und das Haus schon gar nicht. Du würdest keine Stunde da draußen überleben.«

»Keine Sorge, Rosa, an mir kommt er nicht vorbei. Ich werde heute Nacht vor seiner Tür liegen«, versicherte die Raubkatze.

Wie gut, dass es Fenster gibt, schoss es Ben da durch den Kopf.

»Das habe ich gehört, Fremder.« Rasmus, der im Begriff war, von der Bank herunterzuspringen, drehte zuvor noch einmal seinen mächtigen Kopf in Bens Richtung. »Ich werde dir deinen Hintern da draußen bestimmt nicht retten.«

Nicht nur, dass sich Ben ertappt fühlte. Diese Bestie konnte auch in seinen Schädel eindringen und seine Gedanken lesen. Du bist ja ein richtig schlaues Kerlchen, hallte es in Bens Kopf plötzlich nach und Rasmus, der bereits von der Bank gesprungen war, schaute ihn mit einem breiten Grinsen und selbstzufriedener Miene erwartungsvoll an. Ben erwiderte seinen Blick und bedankte sich in Gedanken sarkastisch für das vermeintliche Kompliment. Oh bitte, keine Ursache, antwortete der hämisch.

Ben räusperte sich und schaute verlegen zu Boden. War er von allen guten Geistern verlassen, sich mit dieser Raubkatze telepathisch zu unterhalten? Und seit wann war er dazu überhaupt fähig? Hatte man ihm Drogen in die Suppe getan? Resigniert beschloss er, an diesem Abend keine weiteren Fragen zu stellen und sich generell nicht mehr zu wundern. Für einen Augenblick kam ihm die Szene aus dem Film Signs mit Mel Gibson in den Sinn, der seine beiden Kinder mit Aluhüten auf dem Kopf vorfand, damit die Aliens ihre Gedanken nicht lesen konnten. Wäre es nicht so lächerlich, hätte er die Alte jetzt gerne nach Alufolie gefragt. Stattdessen wandte er sich Rosa stumm zu.

Die verstand nur zu gut, wie er sich fühlen musste. »Du hast ihn gehört, Fremder. Das nimmst du dir besser zu Herzen. Folge mir.«

Rosa stand zuerst auf und schaute ihm dabei lang und tief in seine jadegrünen Augen. Dann fiel ihr Blick auf seine Kette, deren Anhänger aus dem Kragen herausbaumelte. Es war ein kunstvoll geschmiedeter rund drei Zentimeter großer goldener Baum, dessen blätterreiche Krone an eine Herzform erinnerte. Dem knorrigen Stamm entsprangen verschlungene Wurzeln, die einen fein geschliffenen Rubin festhielten und sich in einer gemeinsamen Spitze zusammenfanden.

»Netter Anhänger. Woher hast du den?«

»Erbstück.«

»Und der Ring?«

Er hob die rechte Hand und schaute auf seinen Ringfinger, an dem ebenfalls ein feuriger Rubin funkelte. »Auch ein Erbstück. Von meinem Vater.«

Sie sah Ben erneut in die Augen und wusste, dass er die Wahrheit sagte.

Wortlos und völlig aufgewühlt stand Ben nun auf und folgte ihr wie ein zahmer Schoßhund. Alles surrte in seinem Kopf und er war nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Er war in einem Gruselkabinett allererster Güte gestrandet, wo Riesenkatzen sprechen und Lampen fliegen konnten, wo die gängigsten Naturgesetze nicht zu gelten schienen. Und nicht zu vergessen dieser Gartenzwerg, der ihm lebendige Rauchschwaden ins Gesicht blies, die ihr Eigenleben entwickelten. Dieser Tag würde in seine Annalen eingehen. Niemals zuvor hatte sein Schicksal solche Haken geschlagen. Und nie zuvor hatte er das Gefühl gehabt, den Verstand zu verlieren und dem Wahnsinn so nah zu sein. Die Fluchtpläne, die vor wenigen Minuten am Horizont aufgeblitzt waren, verwarf er schon nach den ersten Schritten. Jetzt wollte er nur noch die Augen schließen und schlafen. Eine leise Hoffnung schlummerte allerdings doch in ihm – am nächsten Morgen aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war.

Whalea

Подняться наверх