Читать книгу Whalea - Laura Ventur - Страница 14

Оглавление

Kapitel 5


Der Morgen danach

Als der neue Tag hereinbrach, saßen Rosa und Silas zerknirscht und sorgenvoll am Tisch und starrten abwesend vor sich hin, während Krah seinen Stammplatz auf dem Fenstersims eingenommen hatte. Olivia empfand die Nähe zu dem stolzen Rabenvogel in der vergangenen Nacht eher angenehm, deshalb war sie ihm hinterhergeflitzt und lehnte sich nun sitzend an sein weiches Gefieder. Rasmus lag auf seiner Schmusedecke neben dem Ofen. Die Stille im Raum war ohrenbetäubend.

Schließlich nahm sich der Wiesenschrat ein Herz. »Wir müssen das Problem, das nebenan im Bett liegt, diskutieren. Es lässt sich nicht wegschweigen«, stieg er in die Diskussion ein, während er sich an seiner Tasse mit einer potenten Kräutermischung festhielt.

»Wir sollten zuerst sichergehen, dass niemand von der Anwesenheit des Fremden Wind bekommen hat«, sagte Rosa. »Die Chancen stehen gut, dass nur wir davon wissen, denn beim kleinsten Hinweis hätte Curtius schon längst reagiert und wir hätten seine Späher am Hals.«

Silas nickte. »Bei den Laguren bin ich mir allerdings nicht sicher. Ich schlage vor, dass ich ihnen gleich einen Besuch abstatte. Anschließend gehe ich nach Gadumil und halte dort Augen und Ohren offen. In das Stadtregiment komme ich zwar nicht hinein, aber ich würde merken, wenn es dort ungewöhnliche Aktivitäten gäbe. Und ich habe Kontakte dort, die ich fragen kann.«

Rosas Antwort kam umgehend: »Einverstanden.«

Krah krächzte kurz und hob dabei den Schnabel in die Luft.

»Ist schon gut«, tönte Rasmus‘ Bariton aus der anderen Ecke der Küche, »ich werde dich in den Wald begleiten.«

»Seid wachsam«, mahnte Rosa, »die Späher sind uns womöglich schon auf den Fersen und wir haben nicht die leiseste Ahnung. Ich schlage vor, ihr befragt auch die Nebelelfen. Weil sie schon im Morgengrauen unterwegs sind, haben sie vielleicht etwas Ungewöhnliches bemerkt.«

Dass die beiden den Wald gleichzeitig vom Boden und von der Luft aus erkunden konnten, gab Rosa zusätzlich Sicherheit. Sie wusste, Curtius war verschlagen. Als Wächterin, die für ihr Portal verantwortlich war, unterlag sie seiner engmaschigen Kontrolle und war deshalb schon einige Male mit ihm aneinandergeraten. Er hatte ein Auge auf sie.

»Ich bleibe hier«, piepste Olivia. »Den Fremden nehme ich genauer unter die Lupe.«

Rosa grinste in sich hinein. Wenn jemand das kann, dann sie, dachte sie. »Sobald ihr zurück seid, werde ich Hadwig einen Besuch abstatten. Es ist mir zwar nicht erlaubt, durch das Portal anderer Wächterinnen nach drüben zu gelangen, aber ich kenne sie nun lang genug, um sie um diesen Gefallen zu bitten.«

»Bist du sicher, dass du ihr vertrauen kannst?«, fragte Rasmus.

»Sie ist meine Freundin. Trotzdem werde ich ihr nur einen Teil der Geschichte erzählen und ihr unseren ungebetenen Gast verheimlichen. Je weniger sie weiß, desto besser. Wenn alles gutgeht, komme ich heute über mein eigenes Portal zurück.«

Mit aller Macht wollte sie daran glauben – als könnte der Glaube an das gesprochene Wort das Herbeigesehnte Realität werden lassen. Es war ein Strohhalm, an den sie sich klammerte, aber den wollte sie nicht loslassen, war er auch noch so dünn. Nichts wünschte sie mehr, als ihre Freunde und sich selbst heil aus diesem Irrsinn herauszubekommen.

»Er ist wach«, warf Rasmus ein, »ich kann ihn drüben hören, wie er sich Wasser in die Schale eingießt. Rosa, bist du sicher, dass ich ihn nicht zu den Höhlentrollen schleifen soll? Die würden das Problem kurz und knackig erledigen. Jedenfalls schneller und menschenverträglicher, als das der Hexenrat tun würde.«

Rosa kräuselte die Lippen, senkte ihren Kopf ein wenig und sah ihn von unten nach oben an, so als ob sie Hörner hätte und ihn gleich aufspießen wollte.

»Schon gut«, lenkte die Jördinkatze ein. »Ich wollte nur nochmal sichergehen.«

Silas trank derweil seine Kräutermischung aus, robbte sitzend zum Ende der Bank und flippte dann seinen markanten Hut, den er nach seiner Ankunft neben sich gelegt hatte, so geschickt um seine eigene Achse, dass er auf seinem Kopf in genau der richtigen Position zum Liegen kam. Ohne diese Kopfbedeckung ging er grundsätzlich nicht aus dem Haus. Sie war sein Markenzeichen – mit großer Krempe, an den Seiten eingerollt und mit einem langen Zylinder, der aber nicht spitzförmig war. Spitzhüte waren in Whalea nur dem Hexenmeister vorbehalten.

»Rosa, in einer stillen Stunde wirst du mir erzählen, was das ganze Affentheater hier soll. Ich habe den Glauben an dich noch nicht verloren. Sorge dafür, dass das so bleibt.«

Ihr verständnisvoller Blick sollte ihm eine Bestätigung sein, dass sie nicht völlig den Verstand verloren hatte. Der Rabenvogel klapperte mit dem Schnabel und schüttelte sein Federkleid so fluffig, dass Olivia für einen Moment völlig darin verschwand.

»Ja, Krah, ich weiß, dass ihr für mich euer Leben riskiert.« Sie hielt inne. Ich habe eine Schuld zu begleichen – der Satz kam ihr jedoch nicht über die Lippen, sondern verhallte ungehört in ihrer Gedankenwelt. »Und jetzt geht, bevor der Fremde hereinkommt.«

* * *

Von der vergangenen Nacht hatte Ben nicht viel mitbekommen. Ausziehen wollte er sich nicht, wer konnte schon ahnen, was ihn noch erwarten würde. Nur seine Jacke hatte er über den Stuhl gehängt. Nachdem er seine müden und geschundenen Knochen ins Bett gelegt hatte, hatte er den Tag in der Dunkelheit des Zimmers Revue passieren lassen. Als ob er im Kino säße und die Ereignisse über die riesige Leinwand flimmerten. Eine bessere Filmvorlage hatte er sich nicht vorstellen können. Er konnte mitfühlen mit dem Zelluloidhelden, seine Ängste nachvollziehen, seine Zweifel an sich selbst und seiner geistigen Zurechnungsfähigkeit, seine Hoffnungen. Der Film berührte ihn zutiefst.

Die Stunden bis zum Aufwachen hatte er anschließend in den tiefsten Ebenen der Unterwelt seines Bewusstseins verbracht. Als er die Augen aufmachte, brauchte er eine Weile, um sich einzunorden. Er lag rücklings auf dem Bett und starrte die Decke an, während sich die Zahnräder des Gehirns langsam wieder zu drehen begannen und das Erinnerungszentrum anschmissen. Statt jedoch wie vor dem Einschlafen seinen eigenen Kinofilm vor dem geistigen Auge flimmern zu lassen, ging er die Aufarbeitung der Geschehnisse dieses Mal direkter und ohne Selbstmitleid an.

Er war dieser Alten gefolgt. Dann wurde er von einem Kühlschrank gefressen. Er landete in einer Freakshow, in der Lampen fliegen, feiste Katzen sprechen und Gartenzwerge Kunststücke mit Pfeifenrauch vollbringen konnten. Das zumindest gaben seine Gedächtnisprotokolle her.

Lächerlich! Das war absurd! Jetzt versuchte er es auf der rationalen Schiene: Er war nach Dienstschluss irgendwo in Frankfurt abgebogen und hatte einen alten Kumpel getroffen, der ihn auf eine After-Work-Party mitgenommen hatte. Ben zog die Mundwinkel nach unten. Das klang in der Tat schon viel besser. Dumm nur, dass er sich daran nicht erinnern konnte.

Doch die Zweifel waren schnell weggewischt: Wahrscheinlich hatte er es mit dem Feiern mal wieder übertrieben. Natürlich hatte er das. Wäre ja nicht das erste Mal, dass er einen Filmriss hatte. Ben fand seine Erklärungen wunderbar erleichternd. Jetzt musste er sich nur auf die Seite legen, dann würde sein Blick auf eine hübsche Blondine fallen, die neben ihm lag und einen riesigen Kater inklusive akuter Amnesie hatte. Eine Weile verharrte er regungslos, denn dafür musste er all seinen Mut zusammennehmen. Schließlich hatte er damit zu rechnen, dass seine Erklärungsversuche für die Erlebnisse des vergangenen Tages nicht passend waren.

Drei, zwei, eins … linke Seite. Fehlanzeige. Stattdessen eine Wand aus dicken Baumstämmen. Das war gerade das, was er nicht sehen wollte. Also schloss er die Augen wieder für einige Sekunden – aus tiefster Seele wollte er der Realität die Chance geben, sich seinen Wünschen anzupassen. Dann öffnete er sie erwartungsvoll, doch da war wieder nur die gleiche Wand statt der Blondine mit Akutamnesie.

Das war ein Rückschlag, aber so schnell wollte er sich nicht geschlagen geben. Letzter Versuch – rechte Seite. Definitiv keine Blondine in Sicht. Das Bett war zu Ende. Etwas weiter weg stand eine Kommode, darauf ein Krug und eine große Keramikschüssel. Ein Handtuch hing seitwärts herunter. Es half nichts, er musste sich eingestehen, dass er sich die Wirklichkeit nicht schönreden konnte, seine Erinnerungen ließen sich nicht bestechen. Wie sollte es weitergehen?

Er hatte nur diese Alte, die ihn, wenn überhaupt, aus diesem ganzen Mist retten konnte. Eine einzige Person, der er nicht über den Weg traute, auf die er sich jedoch voll und ganz verlassen musste. Es war eine völlig neue Erfahrung für ihn, die Situation nicht unter Kontrolle zu haben. Wäre er gestern einen anderen Weg gefahren oder hätte nur fünf Minuten früher Feierabend gemacht, er wäre dieser Frau nie begegnet. In seinem Leben hatte er nie eine Entscheidung oder eine Handlung bereut. Dies war das erste Mal.

Gerne wäre er an dieser Stelle wie Dornröschen in einen hundertjährigen Schlaf gefallen. Aber was hätte das genutzt? Nach einem Jahrhundert wäre er wieder in diesem Bett aufgewacht. Also setzte er sich langsam auf den Bettrand. Die angelehnten Fensterläden ließen einige Sonnenstrahlen herein. Wenigstens schien es vernünftiges Wetter zu geben. Er stand auf, goss sich Wasser in die Schüssel und wusch sich Gesicht und Hände. Ob die hier eine Dusche haben?, fragte er sich und kannte gleichzeitig die Antwort. Und eine Toilette? Diese Antwort wollte er sich allerdings schuldig bleiben, denn für einen Moment flackerten Bilder von Erdlatrinen vor ihm auf.

Das frische Wasser auf der Haut tat ihm gut. Er erinnerte sich an sein Handy in seiner Jackentasche. Ein Blick auf das Display bestätigte seine Erwartungen. Kein Netz. Und auch sonst keine Funktion. Das Ding war tot. Ben seufzte. Seinen Acht-Uhr-Termin konnte er ebenfalls abschreiben. Ihm graute schon davor, sich dafür vor seinem Chef zu rechtfertigen. Und jetzt? Er war dieser Schabracke auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Die Tatsache, dass er keine andere Wahl hatte, als ihr zu vertrauen, schnürte ihm die Kehle zu. Langsam öffnete er die Zimmertür und lugte hinaus.

Whalea

Подняться наверх