Читать книгу Whalea - Laura Ventur - Страница 9
Eine schicksalhafte Begegnung in Frankfurt
ОглавлениеDummes Menschenvolk«, grummelte Rosa leise vor sich hin, während sie ein wenig schwerfällig die Stufen der Straßenbahn hinabstieg und sich dabei zur Sicherheit am seitlichen Haltegriff festhielt. Das Alter hatte sie schrumpfen lassen, ihr Rücken war ein wenig gebeugt, die langen, grauen Haare hatte sie streng zurückgekämmt und hochgesteckt. Nicht geschrumpft war ihr Selbstbewusstsein. Dass ihr manche Arroganz vorwarfen, war ihr egal. Durch ihre Erfahrung und ihre Stellung zählte sie sich selbst zu den Resoluten, zu den Machern. Nicht den Verzagten, sondern den Mutigen gehörte die Welt – eine Meinung, die sie nach außen hin sichtbar darstellte.
Ein leichter Groll stieg in ihr hoch, als sie sich durch die Menschentraube vor der Straßenbahn kämpfte, die wie eine Wand vor dem Einstieg stand, um schnellstmöglich hineinzukommen. Dabei war sie es gewohnt, gegen Widerstände anzurennen.
Die werden es nie lernen, dachte sie. Als ob es da drinnen etwas umsonst gäbe. Nach all den Jahren in dieser Stadt war ihr die körperliche Nähe der Menschen immer noch unangenehm. Bevor sie weiterging, zupfte sie ihren abgetragenen Mantel wieder zurecht und strich sich ihre Frisur glatt, die in dem Gedrängel ein wenig Schaden genommen hatte. Dann streifte sie sich die altmodische Tasche wieder über ihren angewinkelten Unterarm und setzte ihren Marsch fort. Sie war müde und hatte nach diesem langen Tag das starke Bedürfnis, nach Hause zu kommen, um sich auszuruhen.
Dass sie in die Jahre gekommen war, konnte sie vor sich selbst mit vernünftigen Argumenten nicht mehr abstreiten. Dabei hatte sie früher anstrengende Tage wie diesen mühelos wegstecken können. Doch heute wollte sie nur noch ihre Füße hochlegen bei einer dampfenden Kräutermischung mit einem großen Löffel des herrlich duftenden Vanillezuckers, den sie just am Vorabend zubereitet und auf das hohe Küchenregal gestellt hatte.
Allein der Gedanke an diese Zeit der Ruhe und der Besinnlichkeit ließ sie mit schnellem Schritt gehen. Zuhause – das war für sie mehr als nur die vier Wände, die sie vor Regen und Kälte schützten; Zuhause, das war für sie die Oase der Glückseligkeit, die Ruheinsel, die weit weg war vom Getümmel und Gewusel in der Menschenwelt.
Wie so oft ließ sie ihren Blick auch an diesem Abend über die Zeitungen und Zeitschriften schweifen, die an den Außenwänden von Ronnys Kiosk hingen. Jedes Mal drängte sich ihr der Verdacht auf, dass er sie mit einer Wasserwaage aufgehängt haben musste, so perfekt linear waren die gedruckten Papierwerke angebracht. Ronny war eine verkrachte Existenz, der sein Leben nur in den Griff bekommen hatte, weil Rosa ihn unter ihre Fittiche genommen hatte. In tiefer Dankbarkeit grüßte er sie, wenn sie dort vorbeieilte. Und sie schenkte ihm dafür ein kurzes Lächeln. Mehr, dessen war sich Ronny bewusst, konnte er von ihr nicht erwarten. Und mehr wollte er auch nicht. Also stand er jeden Abend an der offenen Kiosktür und wartete darauf, dass sie vorbeiging.
Dieses Mal allerdings blieb sie stehen, um zu lesen, denn eine dicke Schlagzeile des Abendkurier erregte ihre Aufmerksamkeit. Drei Arbeiter in der Kanalisation verschwunden, hieß es da. Rosas Blick klebte an den Buchstaben. Und darunter hieß es weiter: Fieberhafte Suche nach den Vermissten.
Ronny traute seinen Augen nicht – sie war nicht vorbeigelaufen. Stumm blickte er zu ihr herüber. Dann trat er an sie heran. »Wenn du willst, kannst du die Zeitung mitnehmen«, sagte er mit schnörkellosem Ton. Ein wenig unbeholfen versuchte er dabei, seine Gefühle für sie zu verbergen. Schließlich wusste er nur allzu gut, dass ihr solche Art von Sentimentalität verhasst war und dass sie keine Dankbarkeit erwartete, sondern bloß, dass er sein Leben selbst in die Hand nahm. Mehr nicht.
Mit Gefühlen der Menschen wollte sie nichts zu tun haben. Das hatte sie ihm nie gesagt, doch Ronny spürte ihre Unnahbarkeit. Das musste er akzeptieren, auch wenn ihm anders zumute war. Sie schaute ihn an, wortlos und mit Augen, die ihm ihre Besorgnis verrieten. Dann nickte sie. Der Kioskbesitzer war ein einfach gestrickter Mann. Aber er verstand sie, auch ohne große Worte. Also nahm er die mit Wäscheklammern befestigte Zeitung herunter und reichte sie ihr. Rosa nickte wieder und Ronny fühlte eine tiefe Befriedigung. Es war ihre Art, sich zu bedanken. Grußlos wandte sie sich ab und ging weiter.
Während sie die Zeitung zum Handtaschenformat zusammenfaltete, verwarf sie jeden weiteren Gedanken an den Artikel. Den würde sie später lesen. Jetzt wollte sie nur nach Hause und hastete durch die belebten Straßen. Gerade, als sie einen Fuß auf den Zebrastreifen der Börsenstraße gesetzt hatte, rissen sie quietschende Reifen und lautes Hupen aus ihrer Gedankenwelt.
»Pass doch auf, wo du hingehst!«, blökte der junge Fahrer, der seinen Kopf aus dem Fenster streckte.
»Was fällt Ihnen ein, Sie Flegel?«, rief Rosa zurück. »Sie hätten mich beinahe überfahren! Sind Sie blind? Ich befinde mich auf einem Zebrastreifen!«
»Das sehe ich wohl, junge Dame«, erwiderte der Mann sarkastisch, wobei sein unverschämtes Grinsen die weißgebleichten Zähne entblößte.
Die Alte kam ihm gerade recht. Nicht nur, dass er sich im Büro mit bockigen Kollegen herumstreiten musste. Jetzt wollte ihm auch noch diese renitente Oma das Leben schwermachen. Sein Bedarf an Ignoranz war für diesen Tag gedeckt, wie er fand. »Kann es sein, dass die Optik der Gnädigsten ein wenig nachgelassen hat oder warum sehen Euer Hochwohlgeboren nicht, dass die dreiarmige Straßenfunzel da vorne rot leuchtet?«
Ungläubig starrte sie auf die Fußgängerampel. Sie war tatsächlich rot. Rosas Miene verfinsterte sich. »Rüpel«, polterte sie los, »das gibt Ihnen nicht das Recht, mich so zu erschrecken!«
Einen Moment lang sah sie dem jungen Fahrer noch tief in die Augen, die wohlgeformt aus einem braungebrannten, irgendwie vertrauten Bilderbuchgesicht hervorstachen und so grün wie Jade waren. Mit langen, dichten Wimpern. Es war dieser bewusste Blick in die Augen des Fremden, der einen Sturm der Gefühle in Rosa entfesselte. Ihr Herz pochte plötzlich so heftig, dass sie es bis in die Schläfen fühlte – ein Klopfen, zu laut, um es zu überhören. Es war die Erinnerung, die ungestüm und anmaßend an ihre Tür trommelte. Weil sie mit aller Macht herauswollte aus dem Verlies, in das Rosa sie einst verbannt hatte. Weggesperrt für die Ewigkeit. Meinte sie jedenfalls.
Sie presste ihre Lippen zusammen und schluckte. Dabei konnte sie es kaum fassen – ein einziger Augenblick hatte einen gnadenlosen Krieg in ihr entfesselt, den sie im Traum nicht für möglich gehalten hätte. Grausam und ohne Mitleid kämpfte sie das nieder, was die Erinnerung ihr in diesem Moment zurückgeben wollte. Mit solcher Willenskraft und Brutalität, dass der Zugang zu ihrer Vergangenheit gleich wieder verschlossen wurde.
Also warf sie dem frechen Kerl hinter dem Steuer einen letzten giftigen Blick zu und setzte sich wieder in Bewegung. Doch schon beim ersten Schritt beschloss sie, diesem geleckten Würstchen in seinem marsroten Sportwagen eine Lektion zu erteilen – dafür, dass er frech gewesen war. Und dafür, dass er sie für einen Moment hatte straucheln lassen.
Der soll mich kennenlernen, dachte sie. Sie ging ein paar Schritte, stellte sich vor seinen Wagen und verharrte einen Augenblick, bevor ihre gebeugte Gestalt mächtig ausholte und mit aller Kraft die Handtasche wütend auf die hochglanzpolierte Motorhaube donnerte. Dann blieb sie den Hauch einer Sekunde stehen und blickte herausfordernd in sein verdutztes Gesicht. »Unterstehen Sie sich, mir noch einmal so einen Schreck einzujagen«, zischte sie bedrohlich und zeigte mit dem Zeigefinger auf ihn. »Sie können froh sein, dass Sie heil davongekommen sind. Das nächste Mal werden Sie Ihr blaues Wunder erleben!«
Eilig setzte sie ihren Weg nach Hause fort und kümmerte sich nicht darum, dass der überrumpelte junge Mann ihr etwas hinterherrief. Mehrmals wechselte sie noch die Straßenseiten, bog mal rechts, mal links ab, durchquerte einen kleinen Park, bis sie endlich vor der ramponierten Eingangstür ihres Mietshauses stand – ein Nachkriegsbau des vorigen Jahrhunderts, der schon bessere Zeiten gesehen hatte.
Entnervt kramte sie nach dem Hausschlüssel. Diese unsäglichen Taschen waren wie schwarze Löcher. »Man schmeißt was rein und findet es nie wieder. Stattdessen könnte man in diesen unendlichen Weiten ebenso gut einer Schrankwand oder einer Gurke begegnen«, frotzelte sie.
Und je länger sie suchte, desto zorniger wurde sie. Das würde mir gerade noch fehlen, kam es ihr in den Sinn, dass ich meinen Schlüssel verloren habe. Während sie leise vor sich hin schimpfte, trat der ältere Herr neben sie, der in der Zwei-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock wohnte.
Wortlos öffnete er die Tür und hielt sie für Rosa auf. Sie nickte lächelnd. »Danke«, sagte sie kaum hörbar. Der Mann erwiderte freundlich ihren Blick und jeder ging seiner Wege.
* * *
Ben konnte es kaum glauben. Diese schrullige Alte hatte ihn vorgeführt. Und sein Auto demoliert. Einfach so, vor allen Leuten. Am Ende hatte sie ihn stehen lassen wie einen Deppen. Dass er ihr hinterhergebrüllt hatte, sie solle warten, damit er ihre Adresse aufnehmen könne, hatte sie völlig ignoriert. Noch nicht einmal herumgedreht hatte sie sich. Das wollte er sich nicht gefallen lassen.
Allerdings musste er sich überraschenderweise eingestehen, dass ihn ihr Auftritt mächtig beeindruckt hatte. Wann traf man denn schon auf solch streitbare Seniorinnen? Ob sie verheiratet war? Was musste ihr Mann wohl ertragen, wenn er so einen Hausdrachen zu Hause hatte? Er gab es ungern vor sich selbst zu, aber die Alte hatte ihm seinen Respekt abgenötigt. Andersherum war das offensichtlich nicht der Fall. Denn respektloser war eine Frau mit ihm bis zu diesem Tag nie umgegangen.
Schließlich konnte er mit seinem Augenaufschlag jede um den Finger wickeln. Ob jung oder alt, die Damenwelt lag ihm zu Füßen. Bisher jedenfalls. Niemand hatte jemals mehr als diese Alte an seinem Ego gekratzt, von dem seine Freundinnen meinten, dass es irgendwo zwischen George Clooney und Clark Gable liege. Ein wenig geschmeichelt fühlte er sich bei einem derartigen Vergleich schon.
Erfolgsverwöhnter Mittdreißiger, braun gebrannt, Designer-Klamotten, Porsche vor der Haustüre, ein durchdringender Blick, weltmännischer Charme und bestechend gute Manieren, wenn es darauf ankam – Ben bediente alle gängigen Klischees aus der Rubrik »jung, dynamisch, erfolgreich« mit solcher Hingabe, dass er genau wusste, welche Wirkung er speziell auf seine weiblichen Mitmenschen hatte.
»Na warte, so leicht kommst du mir nicht davon«, knurrte er und zischte dabei jede einzelne Silbe durch seine zusammengebissenen Zähne. Von dieser Schreckschraube wollte er sich den Schneid nicht abkaufen lassen. Den angerichteten Schaden auf der Motorhaube wollte er sich von ihr ersetzen lassen. »Ich kann schneller laufen als du!«
Unter den verdutzten Blicken derer, die die atemberaubende Szene als unbeteiligte Zuschauer mitverfolgt hatten, parkte er sein lädiertes Auto in Windeseile am Straßenrand und ignorierte dabei das absolute Halteverbot geflissentlich. Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, dachte er bei sich. Jetzt musste er sich beeilen, wenn er sie nicht verlieren wollte. Ein älterer Herr stellte sich plötzlich mit seinem Pudel in den Weg. »Ich habe alles gesehen«, beteuerte er aufgeregt.
»Dann tun Sie mir bitte einen Gefallen und klemmen Ihre Adresse unter meinen Scheibenwischer.«
Der Mann nickte verständnisvoll.
»Vielen Dank«, rief er ihm im Laufen noch zu. Es fiel Ben nicht schwer, Rosas Spur zu folgen, obwohl sie einen gehörigen Vorsprung hatte. Im Laufschritt eilte er durch die Straßen. Wahrscheinlich hegte sie noch nicht einmal einen Verdacht, dass er sich an ihre Fersen geheftet haben könnte. Behände sprang er der zufallenden Haustür entgegen, steckte seinen Kopf hindurch und versuchte festzustellen, in welchem Stock Rosa wohnte, während er den Geräuschen im Hausflur lauschte.
Treppensteigen. Tür aufschließen. Eine Wohnungstür fiel hörbar ins Schloss. Weiteres Treppensteigen. Wieder Türe aufschließen. Er wartete. Doch ein zweites Schließgeräusch blieb aus. Ben stutzte.
»Zweiter oder dritter Stock, würde ich mal sagen«, mutmaßte er und begann den Aufstieg. Im Treppenhaus herrschte Totenstille. Irgendwann ging das Licht aus. Er suchte an den beiden Haustüren im zweiten Stock nach Namensschildern. So als ob er wüsste, welcher Name ihm die richtige Tür weisen würde.
Fehlanzeige. Unter den jeweiligen Klingeln fand er kaum Lesbares handschriftlich hingeschmiert, sodass er bei den schlechten Lichtverhältnissen noch nicht einmal die Buchstaben richtig erkennen konnte. Doch bevor Ben nach dem Lichtschalter greifen konnte, bemerkte er einen schwachen Schimmer, der aus dem Stockwerk über ihm in das Treppenhaus fiel.
Neugierig setzte er den Aufstieg weiter fort und stand bald vor einer Wohnungstür, die einen Spalt offenstand.
Das musste das Appartement sein, das er suchte. Schließlich traute er der Alten ohne Weiteres zu, ihren Eingang aus reiner Schusseligkeit offenzulassen. Nun begriff er auch, warum er das Schließen der zweiten Wohnungstür nicht gehört hatte. Er lauschte einen Moment und fragte sich dabei etwas unschlüssig, wie er weiter vorgehen sollte. Zweifel überkamen ihn. Warum stand die Tür überhaupt offen? Hatte die Alte womöglich doch bemerkt, dass er ihr gefolgt war? Sollte er nicht lieber klingeln? Oder einfach eintreten und nach ihr rufen?
Ben beschlich ein ungutes Gefühl. Vorsichtig berührten seine Fingerkuppen die Tür und drückten sie sanft auf. Gedämpftes Licht färbte den Raum orange ein. Der Geruch von moosbedecktem Waldboden kam ihm entgegen. Räucherstäbchen mit Waldgeruch?, fragte er sich erstaunt und zog die Augenbrauen hoch. Ratlos stand er nun im Flur. Was er sah, verwunderte ihn. Denn er sah – nichts.
Der Flur war komplett leer. Kein Möbelstück, keine Kleiderhaken, an denen man normalerweise seinen Mantel aufhängte und wo man seine Tasche oder seinen Schirm abstellte. Auch keine Schuhe, keinen Schlüsselaufhänger, noch nicht einmal eine Lampe hing an der Decke. Zu seiner Rechten befand sich eine geschlossene Zimmertür, ebenso wie zu seiner Linken. Die schrecklich verschnörkelte und kitschige Tapete mit dem 70er-Jahre-Touch eines missratenen LSD-Trips wurde durch spärliches Licht aus dem Raum beleuchtet, der direkt vor ihm lag.
»Hallo«, rief er etwas zaghaft in die gespenstische Stille der Wohnung. »Ist da jemand?«
Keine Antwort. Unsicher ging er zurück zum Ausgang, blieb jedoch auf der Türschwelle stehen. Er überlegte. Wenn er jetzt ginge, würde er wahrscheinlich auf dem Schaden an seinem Boliden sitzenbleiben. Auf der anderen Seite fragte er sich angesichts der mehr als bescheidenen Wohnungseinrichtung und der eher schäbigen Kleidung der Alten, ob er überhaupt jemals einen Cent sehen würde. Eine Versicherung, das konnte er sich ausrechnen, würde sie wohl nicht haben. Und vor allem – war er überhaupt in der richtigen Wohnung?
Beherzt drehte er sich um, schloss die Haustür hinter sich und betrat den dürftig beleuchteten Raum. Er stand in der Küche. Erstaunt bemerkte er, dass es der offene Kühlschrank war, der gerade Licht spendete. Schnell wanderten seine Augen weiter. Ein Herd stand in der Nähe des abgedunkelten Fensters. Ebenso wie die Anrichte direkt neben der Tür schien auch der ein Überbleibsel aus längst vergangenen Tagen. Vor dem Fenster auf dem Tisch stand neben einer Öllampe eine Damenhandtasche. Ben erkannte das alte Ding sofort. War er hier also doch richtig. Auf der Spüle lag eine Ausgabe des Abendkurier. Die großen Buchstaben der Schlagzeile auf Seite eins, die das Verschwinden von drei Kanalarbeitern verkündete, konnte er noch gut erkennen.
Er ließ seinen Blick weiter durch den Raum wandern. Kein Bild hing an den Wänden, kein Regal, kein Hängeschrank. Hätte es nicht eine Tapete gegeben, die dem Zimmer ein winziges Quäntchen Wohnlichkeit verlieh, wären die Wände völlig nackt gewesen. Wie vorher im Flur ragte auch in der Küche ein kahles Elektrokabel aus der Decke. Er stutzte. Benutzte diese schrullige Schabracke etwa die Öllampe als Lichtquelle? Aber auch diese Hypothese passte in das Bild, das sich Ben von dieser Frau gemacht hatte: eine verschrobene Alte, die man wahrscheinlich im Mittelalter als Hexe verbrannt hätte.
Und der Kühlschrank, weiß, ausladend und riesengroß. Mit dem morbiden Charme eines amerikanischen Eisschranks aus den 50er Jahren. Warum steht der überhaupt offen?, fragte er sich. Ein wenig mutete er wie ein riesiges, offenes Maul an, fand Ben. Sein neugieriger Blick fiel direkt auf die einzige, leere Ablage, die sich ganz unten befand, und während er sich noch wunderte, warum keine Lebensmittel darin zu finden waren, näherte er sich dem alten Kasten immer weiter. Freiwillig tat er das nicht. Es war, als ob ihn ein Sog gepackt hätte, dem er nicht entrinnen konnte.
Und je näher er dem Gerät kam, desto unwohler fühlte er sich. Bens innere Stimme mahnte ihn zur Vorsicht. Diese menschenleere und dunkle Wohnung, dieser seltsame Kühlschrank, den er ständig anglotzen musste – und von dem er sich magisch angezogen fühlte. Ihn packte das Grausen. Hier stimmte etwas nicht. Erst jetzt fiel ihm auf, wie seine Muskeln arbeiteten und dass er sich aktiv gegen eine Kraft stemmte, die von diesem sonderbaren Kühlschrank auszugehen schien. Vor allem aber kroch ihm die Angst bis ins Mark.
Denn obwohl er selbst keinen einzigen Schritt tat, bewegte er sich unaufhaltsam, wie von Geisterhand geschoben, auf das Riesenmaul des Eisschranks zu. Konnte es sein, dass ihn das gruselige Ding verschlingen wollte? Es war, als ob sich der Schlund der Hölle aufgetan hätte, um ihn wie eine Schmeißfliege einzusaugen in ihre unendlich widerwärtigen Tiefen. Für alle Ewigkeit. Immer weiter zog es ihn hin zum Kühlschrank. Woher kam diese Kraft, die ihn gepackt hatte und ihn umschlungen hielt wie die Klauen eines Greifs?
Sein durchtrainierter Körper legte sich mächtig ins Zeug und mittlerweile stemmte er sich an der Geräteöffnung mit Händen und Füßen verzweifelt dagegen. Alles an ihm flatterte wild: Haare, Hosen, Hemd und Krawatte, Sakko. Tosend und laut war diese Gewalt, die mit Macht nach ihm griff. Das Scheppern und Klappern der Teller und Gläser in der Anrichte war nicht zu überhören. Er brüllte sich seine Angst aus dem Leib, seine Panik, sein Entsetzen. Gab es denn niemanden, der ihn hören konnte, bevor der Höllenfürst endgültig nach ihm greifen würde? Vergeblich. Denn auch der Schall seiner Stimme wurde direkt eingesogen. Diesen Kampf konnte er nicht gewinnen. Ben wusste, dass es keinen anderen Weg gab, als im dröhnenden und rauschenden Sturm jäh aus der Küche zu verschwinden. Und niemand, wirklich niemand würde nach ihm suchen.