Читать книгу Whalea - Laura Ventur - Страница 7
Am Anfang war die Zuckerdose
ОглавлениеRasmus lag faul am Ofen. Die Wärme der geizig hineingelegten Feuersteine hatte sich nicht nur wie ein Handschuh auf dessen Außenhaut gelegt, sondern auch auf seine Seele. Bis in die frühen Morgenstunden hatte er im Wald gejagt. Müde, aber zufrieden war er mit den ersten Sonnenstrahlen wieder nach Hause zurückgekehrt, hatte sich erschöpft auf seine pingelig glattgestrichene Wolldecke sinken lassen und sich anschließend ausgiebig der Körperpflege gewidmet. Den Rest des Tages hatte er verschlafen. Nun lag er dösend da und ließ im Halbdunkel der Küche die Seele baumeln.
Im Haus herrschte Stille. Wie immer, wenn Rosa nicht da war. Bis auf eine Ausnahme. Den fast komatösen Zustand seiner momentanen Glückseligkeit störten metallene Schallwellen, die plötzlich dumpf durch den Raum waberten und seine Lebensgeister langsam, aber stetig wachrüttelten. Dem zögerlichen Öffnen seiner Augen folgte das widerwillige Hochfahren seines Gehörsinns. Bewusst horchte er nun in die Küche hinein und nahm ein leises Fluchen wahr. Er kannte diese unvergleichlich helle, fast gläserne Stimme nur allzu gut.
Olivia!, schoss es ihm durch den Kopf. Es konnte nur einen Grund geben, warum sie so fluchte. Und dieser Grund trieb ihm die Energie mit aller Macht wieder in die Glieder. Rasmus kniff seine stahlblauen Augen zusammen: Dieses Miststück machte sich an der Zuckerdose zu schaffen.
Jetzt erst hob er den Kopf. Längst hatte er Olivias Position ausgemacht. Hoch oben, auf dem Küchenregal, zwischen prall gefüllten Gewürz- und Einmachgläsern hatte sie sich über die Zuckerdose hergemacht und versuchte listig, das Küchenmesser so anzusetzen, dass der Deckel durch die Hebelwirkung abspringen würde. Noch hatte sie nicht bemerkt, dass sie Rasmus dabei aus seinen Tagträumen geholt hatte. Unentwegt schimpfte sie weiter, denn das schwere Messer glitt immer wieder ab.
Rasmus grinste in sich hinein. So ein Luder. Rosa hatte am Abend vorher Vanillezucker hergestellt, während die Lichtelfe hell leuchtend auf dem unteren Regalrand über der Arbeitsplatte gesessen und dabei zugeschaut hatte, wie sie die Zuckerdose damit füllte. Die ganze Küche hatte nach Vanille gerochen. Und weil Rosa wusste, dass es nichts gab, was Lichtelfen lieber mochten als frisch zubereiteten Vanillezucker, hatte sie vorsorglich eine Glasdose mit Drehdeckel verwendet.
Aber nicht nur Lichtelfen waren hinter Vanillezucker her wie die raffgierige Zwergenart der Laguren hinter dem Edelstein. Auch Jördinkatzen konnten äußerst ungemütlich werden, wenn es um bestimmte Schleckereien ging.
Der Zucker gehört mir, dachte er und der Teil seines Gehirns, der für strategischen Angriff zuständig war, kombinierte blitzschnell. Von so einer dreisten, fliegenden Bonsai-Leuchte würde er sich diese Köstlichkeit nicht vor der Nase wegschnappen lassen.
Längst hatte Rasmus mit dem Schnurren aufgehört. Dass Olivia das in ihrem Eifer entgangen war, konnte ihm nur recht sein. So gierig und vertieft war sie in die Sache, dass sie auch vergessen hatte, ihren Lichtkegel vorsorglich auszumachen, um nicht um jeden Preis ins Auge zu fallen.
»Verfluchte Dose«, zischte sie und ihre Flügel schlugen aufgeregt. Unter der Last eines Messers, das fast größer war als sie selbst, war ihr die ungeheure Kraftanstrengung deutlich anzusehen.
Rasmus konnte sich an den Krallen einer Pfote ausrechnen, wie es weitergehen würde. Lieber wäre dieser elbische Sturkopf gestorben, als aufzugeben. Geringe Aussicht auf Erfolg? Für solche Aktionen waren waschechte Brenna-Elfen prädestiniert. Die gaben niemals auf.
Entschlossen setzte Olivia die Messerspitze nochmals unter dem Deckelrand an, bis sie einen Widerstand spürte. Sie zog ihren linken Mundwinkel nach oben und hielt einen Moment lang inne. Endlich war das Messer zwischen der Glasrille und dem Deckel eingerastet. Jetzt musste sie nur noch dieses schwere Metallding nach oben drücken und schon würde der widerspenstige Deckel wegflippen. »Komm schon«, flüsterte sie leise und ließ das finale »n« sonor weiterklingen. Mit den letzten Kraftreserven stemmte sie dabei das Messer nach oben.
»Brauchst du Hilfe, meine Liebe?«, fragte eine tiefe Stimme ganz sanft und leise. Jede Silbe des Baritons fuhr der Lichtelfe in die Glieder. Und sein mit Hingabe gerolltes »r« trieb ihr Schauer über den Rücken. Olivia verzog das Gesicht und rollte die Augen. Das Messer hielt sie unterdessen weiter fest im Griff. Keine Frage, diese vermeintlich netten Worte waren an Scheinheiligkeit wohl kaum zu überbieten. Schließlich kamen sie von einer Jördinkatze.
Deutlich konnte sie spüren, wie sie rot anlief vor Wut – nicht so sehr wegen dieses haarigen Fettsacks. Sondern weil sie ihn unterschätzt hatte. Sie hatte es zugelassen, dass er sich an sie heranschleichen, sie hinterlistig beobachten konnte – wahrscheinlich hatte ihm das auch noch ein großes Vergnügen bereitet. »Verschwinde«, zischte Olivia, »sonst ramme ich dir das Messer zwischen die Augen.«
Doch ihre Feindseligkeit entlockte Rasmus nur ein müdes Lächeln. »Dazu hast du keine Kraft mehr«, entgegnete er selbstsicher.
»Du würdest es nicht wagen, mir auch nur ein Haar zu krümmen«, zischte sie zurück, »Rosa würde dir den Kopf abreißen.«
»Mmmhhh.« Pause.
Olivia wartete unsicher auf seine Antwort. Jördinkatzen waren bekannt für ihr sprunghaftes und impulsives Wesen. Auf sie war kein Verlass.
»Es käme wohl auf einen Versuch an«, fuhr er lapidar fort, und seine Worte klangen bedächtig. Er bemerkte sehr wohl, dass das Licht der Brenna allmählich heller wurde. Seine Pupillen reagierten auf die steigende Intensität und verjüngten sich zusehends, bis seine stahlblauen Augen durch einen vertikalen, dünnen, schwarzen Schlitz in zwei Hälften geteilt wurden.
»Reg dich nicht auf«, surrte Rasmus arrogant und legte dabei ein unverschämt breites Grinsen auf. »Gleich fängst du Feuer und fackelst die Bude ab. Fragt sich, wem Rosa dann den Kopf abreißt.«
Er konnte sich diesen überheblichen Ton durchaus leisten. Schließlich war er es, der die Fäden in dieser Situation in der Hand zu halten schien. Wenn er es geschickt anstellen würde, könnte er diesem kleinen Biest ihr letztes Bubenstück heimzahlen, die Zuckerdose leeren und Olivia am Ende die Schuld in die Schuhe schieben.
Denn sie hatte bei ihm tatsächlich noch etwas im Salz liegen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie eine Feuerspinne zwischen die Lagen seiner Schmusedecke geschmuggelt. Die hatte ihm dann prompt ein Loch nicht nur in seine heiß geliebte Decke, sondern auch in sein schönes glänzendes Fell gebrannt, als er sich todmüde auf sein Schlaflager niederließ. Das Geschrei war groß gewesen und Rosa hatte alle Hände voll zu tun gehabt, um die schmerzende Brandwunde zu versorgen. Seither sann er auf Rache.
Die Elfe hatte sichtlich Mühe, ihr Temperament im Zaum zu halten. »Was willst du?«, fragte sie deutlich genervt.
»Den Vanillezucker«, säuselte der Kater mit brummender Stimme und allein dieses Wort elektrisierte ihn so sehr, dass seine Schwanzspitze, die bis dahin gespannt, aber kerzengerade nach unten gehangen hatte, begann, kleine Kreise und Achten in die Luft zu schreiben, während er oben am Regal und seitlich am Schrank festgekrallt war.
»Kannst du vergessen!«
Mit dieser Antwort hatte Rasmus gerechnet, doch er war mächtig stolz auf sich, dieses kleine Miststück derart in die Enge getrieben zu haben. Er musste nur noch zuschauen, wie ihr Zorn ein Niveau erreichen würde, das sie nicht mehr zu kontrollieren vermochte. Fupp! In einem Wimpernschlag entzündete sich die Brenna – so einfach wie ein Streichholz Feuer fängt – und brannte augenblicklich lichterloh in bläulich-orangen Farben. Dieser Punkt ging klar an ihn, wie Rasmus selbstzufrieden feststellte. Damit hatte er Olivia allerdings unter Zugzwang gesetzt. Mit letzter Kraft drückte sie das Messer nach oben, der Deckel sprang vom Glas, rollte ein kurzes Stück und fiel dann mit lautem Getöse vom Regal. Schnell ließ sie das Messer fallen, sprang mit einem Satz auf die Zuckerdose und klammerte sich daran fest.
»Na los, komm mich holen, wenn du kannst!« Die Lichtelfe brach in schrilles, schallendes Gelächter aus. Rasmus traute seinen Augen nicht – diesen Schachzug hatte er nicht kommen sehen. Die Hitze, die von ihrem kleinen Körper ausging, war so groß, dass die ersten Zuckerkristalle schmolzen. Bald würde auch das Glas zerspringen. Holzwand und Decke waren ebenfalls bereits angesengt.
»Das wirst du mir büßen, du Schlange!«, fauchte Rasmus. War er noch vor wenigen Momenten siegesgewiss davon überzeugt gewesen, die Situation zu kontrollieren, sah er jetzt seine Hoffnungen in Rauch aufgehen. Doch der zündende Einfall ließ nicht lange auf sich warten. Olivias Lachen wurde hysterisch, als sie Rasmus dabei beobachtete, wie er grimmig zum Gegenschlag ausholte. Er atmete tief ein und schleuderte der Brenna aus vollen Lungen mit solcher Wucht einen gewaltigen Luftschwall entgegen, dass nicht nur ihr Feuer mit einem Mal ausging, sondern der auch so gut wie alles wegfegte, was auf dem Regal stand.
Die bauchigen Einmachgläser rauschten direkt zu Boden, gefolgt von den längeren, zylinderförmigen. Auch das Zuckerglas und Olivia kippten im Windstoß. Entsetzt musste Rasmus mit ansehen, wie sie mit einem schrillen Schrei zu Boden rasten und das Gefäß ohrenbetäubend klirrend in tausend Scherben zerbarst. Der teilweise schon flüssige Zucker erkaltete augenblicklich und klebte am Holzfußboden fest, die verbliebenen Zuckerkristalle verteilten sich in alle Himmelsrichtungen wie Hühner auf dem Marktplatz.
»Olivia«, rief der Kater besorgt von oben herab, »bist du verletzt?« Nicht auszudenken, was Rosa ihm vorgehalten hätte, wäre ihr etwas zugestoßen.
Die Lichtelfe richtete sich nur ganz allmählich auf und kam zum Sitzen. »War das ein Schlag«, ächzte sie und hielt sich ungläubig die Stirn. Fassungslos starrte sie auf das Trümmerfeld um sich herum. Die süße Schleckerei war verloren. »Auweia, das gibt Ärger.« Vorwurfsvoll schaute sie nach oben, wo Rasmus immer noch festgekrallt in der Luft hing. »Alles deine Schuld, du haariger Holzkopf!«, schrie sie wütend hinauf. »Hättest du mich in Ruhe gelassen, wäre das alles nicht passiert.«
»Ganz offensichtlich bist du wohlauf«, kam prompt die Antwort von oben. »Dein Schandmaul ist jedenfalls noch voll funktionsfähig.« Mit einem Satz sprang er von oben herab genau vor die Lichtelfe, die mittlerweile wie eine Salzsäule dastand und zu ihm aufblickte. Dann senkte Rasmus langsam den Kopf und verlagerte sein Körpergewicht dabei auf die Vorderpfoten, sodass die Schulterblätter auf dem Rücken spitz herausragten.
»Komm her«, fauchte er leise, »lass uns wieder Freunde sein. Ich drück dich an meine Brust, dass es kracht!« Im Zeitlupentempo folgte er dabei der Elfe, die sich bereits zum geordneten Rückzug entschlossen hatte und unsicher einen Fuß hinter den anderen setzte. Sie hatte den Bogen überspannt, das wollte er ihr nicht durchgehen lassen.
Und das hatte Olivia verstanden – es wurde verdammt eng für sie. Jetzt konnte nur noch ein Unterschlupf helfen, an den ihr Gegner nicht herankam. Dort könnte sie ausharren, bis Rosa zurückkommen würde. Aus den Augenwinkeln sah sie die Küchenanrichte, die auf Holzfüßen stand. Darunter war Platz genug für sie, auch wenn sie dort nicht aufrecht stehen konnte. Ihr Gegenspieler indes hätte Mühe, sie mit seinen großen Tatzen dort herauszupulen. Sie fackelte nicht lange. Blitzschnell flog sie unter das Möbelstück, Rasmus folgte ihr wie ein Schatten.
»Das wird dir auch nicht helfen. Ich reiß dir die Flügel einzeln aus, sobald ich dich in meine Krallen bekomme«. Er lugte unter die Küchenanrichte und Olivia konnte seinen Blick auf ihr deutlich spüren. Rasmus würde wohl erst Ruhe geben, wenn er sie in tausend Stücke gerissen hätte.
Rückwärts und vornübergebeugt bewegte sie sich im dunklen Schatten der Möbelunterseite zum anderen Ende der Anrichte. Aus dem Augenwinkel sah sie die Terrassentür offen stehen. Im Freien hätte sie wesentlich mehr Chancen, diesem wildgewordenen Kater zu entkommen und zu warten, bis er bei der Jagd wieder Herr seines Testosteronschubs geworden wäre.
Rosa hätte anschließend die Versöhnungszeremonie übernehmen können, denn diese Katzenart war nachtragend. Die Gefahren, die sonst noch da draußen lauerten, waren für sie sicherlich zu meistern. Dazu musste sie nur ihren Lichtkegel ausschalten. In der Dämmerung wäre sie praktisch nicht auszumachen. So könnte sie sich auf die Suche nach einem Unterschlupf machen, vielleicht ein Erdloch oder eine kleine Höhle in einem Baumstamm. Zur Not hätte sie uneinsichtige Bewohner kurzerhand ausquartiert.
Die Entscheidung, einen Fluchtversuch zu wagen, war augenblicklich getroffen. Wortlos trat sie aus dem Schatten der Anrichte heraus und begann mit einem entschlossenen Sprung den rettenden Flug zur Terrassentür.
Rasmus indes hatte diesen Schachzug schon lange vorausgesehen. Die einzige Möglichkeit, dieses niederträchtige Biest in die Krallen zu bekommen, war, sie aus dem Raum herauszulassen. In der Küche gab es zu viele Schlupflöcher für das kleine fliegende Ding. Und die Kücheneinrichtung wollte er nicht auseinandernehmen – er scheute die Konfrontation mit Rosa. Da draußen hatte er schon eher eine Chance, sich zu rächen. Vor allem, weil er schneller laufen als sie fliegen konnte. Ein ausgezeichneter Kletterer war er obendrein.
Und mit Olivias Flucht aus der Küche ging sein Plan voll auf. Aus dem Stand schnellte er hinter der Lichtelfe her, hinaus in die kühle Abendluft und in die Dämmerung, die sich allmählich über Whalea niedersenkte. Die Jagd hatte begonnen.