Читать книгу Der Geliebte der Verlobten - Laura Lippman - Страница 10
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ОглавлениеTess trödelte am nächsten Morgen länger herum als nötig und hatte keine Eile, zum Ruderklub zu fahren. Als sie endlich ankam, war Rock offensichtlich schon auf dem Wasser, so wie sie gehofft hatte. Sie ruderte ihre übliche Strecke. Wenn er mich sucht, sagte sie sich, dann findet er mich auch. Wenn nicht, bleibt er einfach außer Sicht und versteckt sich auf diesem kleinen Seitenarm, der nach Süden führt. Das war eine recht schwierige Route – stellenweise sehr seicht, mit Brücken, unter denen man sich ducken, die Riemen einziehen und durchgleiten musste – aber Rock fuhr sie gerne, wenn er schmollte. Tess ruderte bis zum Fort Henry und zurück und dann noch einmal bis dorthin. Sie sah Achter und Vierer und Zweier, aber keinen anderen Einer.
Es war ein wunderbarer Morgen, ein Tag, den man einfach genießen musste. Strahlend blauer Himmel, leichter Wind, frische Luft. Altweibersommer, sagte sich Tess – ein unechter Frühherbst, der jederzeit wieder von schwülem Wetter abgelöst werden konnte. Tess fühlte sich, als könnte sie die ganze Chesapeake Bay hinunter und auf den Atlantik hinaus rudern und bis Mittag in England sein. Sie beschloss, sich auf dem Rückweg zum Dock richtig zu verausgaben. Bis obenhin voll mit Endorphinen, wartete sie dann im Gymnastikraum und tat so, als mache sie Dehnübungen, bis sie um acht Uhr schließlich einsah, dass Rock nicht mehr auftauchen würde. Er hatte sich bestimmt irgendwo versteckt, um seine Wunden zu lecken. Irgendwann würde er schon wieder hervorkommen.
Sie ließ den Besuch bei Jimmy’s ausfallen und frühstückte am Küchentisch ihrer Tante, wo sie mit Genuss das übrig gebliebene Vollkornbrot verzehrte, das Leutnant Strahlemann am Abend zuvor zubereitet hatte, und die Zeitungen las, die ihre Tante in einem ordentlichen Stapel zurückgelassen hatte. Tess las die Zeitung immer von hinten nach vorn, eine Gewohnheit aus ihrer Kindheit, die sich in ihrer Zeit als Reporterin noch verfestigt hatte. Als sie für die Zeitung arbeitete, kannte sie die Lokalnachrichten ja bereits, deshalb sparte sie sie bis zum Schluss auf, las erst die Features und den Sport, dann die Washington Post und die New York Times. Den Beacon las sie als Letztes, deshalb war es auch schon 9:30 Uhr, als sie den Artikel auf der unteren Hälfte der Titelseite las:
BEKANNTER ANWALT ERMORDET. BIOLOGE VERHAFTET.
Michael Abramowitz, ein Anwalt, dessen amateurhafte, aber unvergessliche Werbung ihn zu einer ungewöhnlichen, stadtbekannten Persönlichkeit gemacht hatte, wurde nach Angaben der Polizei gestern Abend in seinem Büro am inneren Hafen, bei der renommierten Anwaltskanzlei O’Neal, O’Connor & O’Neill, erwürgt aufgefunden.
Nur eine Stunde nach dem Mord, den die Polizei als ungewöhnlich brutal beschreibt, wurde ein Tatverdächtiger verhaftet. Darryl P. (33), Forscher an der Johns Hopkins Medical School, musste die Nacht im Bezirksgefängnis verbringen, ehe er heute Morgen dem Untersuchungsrichter vorgeführt und auf Kaution freigelassen wurde.
Wie aus dem Umfeld der Ermittlung verlautete, war Abramowitz mit einem pythonähnlichen Würgegriff gepackt und übel zusammengeschlagen worden. Auch sein Gesicht wies Verletzungen auf, vermutlich aus einem Kampf mit Darryl P., der das Opfer kurz nach 22 Uhr in seinem Büro aufgesucht hatte, wie der Eintrag des Wachmannes nachweist. Der Tote wurde von einem Nachtwächter entdeckt …
Shirley Temple. Tess spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, und sie sah die kleine berühmte Filmschauspielerin vor sich, sah ihr Gesicht mit den Grübchen in einer geisterhaften Erscheinung in Blassblau auftauchen. Als sie ein Kind war – nun gut, sie war vierzehn gewesen –, hatte sie eine Müslischale ihrer Mutter mit einer Abbildung Shirley Temples darauf zerbrochen und die Schuld daran einem Nachbarskind in die Schuhe geschoben. Ihre Lüge war niemals aufgeflogen. Noch jetzt, fünfzehn Jahre später, rief ein schlechtes Gewissen bei ihr dieselbe Reaktion hervor – Shirleys Gesicht, und dann Übelkeit und Angst. Sie war nie ein guter Mensch gewesen, aber immer gut darin, nicht erwischt zu werden.
Sie nahm die Zeitung wieder zur Hand. Nach diesem dritten Absatz stand weiter nichts Neues darin, nur noch ein vorformulierter Text zu Abramowitz und seiner Laufbahn. All das war nichts Neues für Tess. Dieser Stil war ihr so vertraut wie der Kuss eines Geliebten. In gewissem Sinne war es tatsächlich der Kuss ihres Geliebten. Der Artikel zeigte die Handschrift von Jonathan Ross, der mit Unterbrechungen ihr Bettgenosse und ununterbrochen ein Star am Firmament des Beacon war. Vor Schreck über die Überschrift hatte sie die Verfasserzeile darunter übersprungen. Alle seine Erkennungszeichen waren da – die Quellen, die ungenannt bleiben wollten, die locker hingesetzte, eindrucksvolle Beschreibung des Mordes, der überzogene Stil, das eine belastende Detail. Die renommierte Anwaltskanzlei. Gab es auch andere? Dennoch empfand sie echte Bewunderung für die Sache mit dem Besucherverzeichnis des Wachmanns; sie hätte gewettet, dass das bei keinem anderen Journalisten der Stadt vorkam.
»Aber ich weiß mehr«, sagte sie laut. Was würde Jonathan nicht alles dafür geben, wenn er wüsste, was sie wusste – über die Frau in der Mitte dieses Dreiecks, die Zusammenkünfte im Hotel, Rocks Misstrauen. Sie war die Einzige, die das alles zusammensetzen konnte. Bei diesem Gedanken warf sie die Zeitung auf den Tisch und rief mit dünner, schriller Stimme nach Kitty.
»Tesser?« Kitty kam gelaufen, in einem Kleid aus weißem Batist in altenglischem Stil, ein weißes Band in den Locken und weißleinene Jack Purcells in Größe 36 an den Füßen. Das Ergebnis war: ein bisschen etwas von »irrer Type«, ein bisschen etwas vom Wimbledon der zwanziger Jahre und ein bisschen etwas von dem Baltimore der Siebziger, als jeder, der keine Jack Purcells trug, sich anhören musste, er trage »Fischköpfe«.
Tess warf ihr die Zeitung hin: »Du weißt doch, dieser Job als Detektivin? Ein voller Erfolg. Ich habe Rocks Verlobte mit ihrem Chef zusammen erwischt. Jetzt ist der Chef tot und Rock im Gefängnis.«
Kitty überflog den Artikel.
»Hast du Rock erzählt, was du herausgefunden hast?«
»Nein, ich habe Ava dazu gebracht, dass sie es ihm gestern Abend selber gesagt hat. Sie behauptet, es sei sexuelle Nötigung gewesen. Sie habe mit Abramowitz schlafen müssen, um ihren Job zu behalten. Als ich sie das letzte Mal sah, erzählte sie Rock die Geschichte gerade am Autotelefon.«
Kitty schaltete schnell. »Du musst für eine Weile verschwinden«, verkündete sie entschlossen. »Mach eine kleine Reise, und sag mir nicht, wohin. Aufgrund meiner Beziehung zu Thaddeus möchte ich lieber nicht zu viel wissen, damit ich nicht lügen muss, wenn dich jemand sucht.«
»Am Schluss werde ich ja doch reden müssen.«
»Ja, richtig«, stimmte Kitty zu. »Aber es schadet bestimmt nichts, wenn du ein paar Tage nicht verfügbar bist, bis du dir darüber klar bist, wie du mit der ganzen Sache umgehen willst. Was das Geld betrifft: Nimm aus der Ladenkasse, was du brauchst, und hinterleg mir einen Scheck. Ich löse ihn erst ein, wenn ich unbedingt muss. Such dir ein billiges Motel, oder nimm die Wohnung von Freunden, und ruf mich dann auf meine Kosten von einer öffentlichen Telefonzelle aus an. In ein paar Tagen wissen wir, in welche Richtung das geht, und du kannst wieder zurückkommen.«
Tess nahm immer zwei Stufen auf einmal, als sie in ihr Zimmer hinauflief, und fing sofort an, Kleidung in einen ramponierten Lederrucksack zu werfen. Die Familie ihrer Freundin Whitney besaß ein Haus an der Küste, in der Nähe von Oxford, mit einem kleinen Gästehaus an der Grundstücksgrenze. Sie und Whitney hatten es in ihren Collegetagen manchmal benutzt, wenn sie für eine Weile verschwinden wollten. Reiche Freunde zu haben, das hatte hin und wieder durchaus seine Reize. Sie würde diesmal aber einfach voraussetzen müssen, dass sie dort immer noch gern gesehen war, denn wenn sie Whitney jetzt anrief, würde das nur noch mehr Komplikationen bringen. Whitney arbeitete nämlich ebenfalls für den Beacon, und wenn es Tess jetzt auch gelang, eine Aussage vor Gericht zu umgehen, mochte sie doch gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn Whitney die Wahl zwischen ihrer Freundin und ein paar prickelnden Details zu einer vermutlich ganz großen Story hatte. Whitney darum zu bitten, nicht aus Eigennutz zu handeln, war ungefähr das Gleiche, wie wenn man eine Katze darum bat, keine Vögel zu fangen. Am besten, man ließ es erst gar nicht auf den Versuch ankommen.
Als Tess gerade Zahnbürste und Shampoo aus dem Bad holte, läutete das Telefon. Sie ließ den Anrufbeantworter angehen. Eine raue Stimme, die sie kannte, füllte ihre kleine Wohnung mit solcher Wucht, dass die Glastüren an ihren Küchenschränken klirrten: Tyner Gray, ein Rudertrainer, dessen Stimme durch die jahrelange Arbeit mit Anfängern zu einem ständigen Schreien geworden war.
»Tess, hier spricht Tyner; ruf mich in meinem Anwaltsbüro an, so schnell du kannst.«
»Es geht nicht ums Rudern«, fügte er hinzu, als wüsste er, dass sie da stand, und könnte auch ihre Gedanken lesen. »Es geht um einen Ruderer, den wir beide gut kennen.«
Seine Stimme wurde zu einem rauen Flüstern, das immer noch unerträglich laut und durchdringend klang. »Er hat mich gebeten, dich anzurufen, Tess. Aus irgendwelchen Gründen glaubt er, du könntest ihm helfen. Obwohl du ja, wie mir scheint, schon mehr als genug getan hast.« Seine Stimme dröhnte wieder in ihrer üblichen Lautstärke, als würde er ihr über die Wasserfläche hinweg einen Ruderbefehl zurufen. »Ruf mich im Büro an, Tess. So schnell wie möglich.«
Tess setzte sich auf den Fußboden, wobei sie noch immer ein paar Stück Unterwäsche umklammerte. Wenn Rock sie brauchte, konnte sie nicht davonrennen. Sie fragte sich nur, ob Rock selber wirklich am besten beurteilen konnte, was er brauchte. Oder wen er brauchte. Zuerst hatte er eine Ruderkollegin als seine Privatdetektivin angestellt. Und was dabei herausgekommen war, sah man ja. Jetzt hatte er einen Rudertrainer als Rechtsanwalt. Was glaubte er denn eigentlich, was für Geschworene er kriegen würde – einen Herren-Achter und einen Damen-Vierer?
Mit vierundsechzig hatte Tyner Gray noch immer den schlanken, sehnigen Oberkörper eines Leichtgewichtruderers. Wenn er an warmen Tagen am Dock sein T-Shirt auszog, warfen die Collegemädchen noch immer verstohlene Blicke auf seine Brust und seine Arme. Nie schaute jemand auf seine Beine, die verdorrt und leblos, fast flach in seinen Jogginghosen steckten. Soviel Tess wusste, hatte sie niemand mehr gesehen, seit er vor fast vierzig Jahren, ein Jahr nach seinem Olympiasieg, den Unfall gehabt hatte. Ein betrunkener Autofahrer hatte ihn vor dem Memorial Stadion angefahren.
»Hast du heute früh trainiert?«, fragte Rock, als Tess in Tyners Büro geführt wurde, und zwar von seiner Sekretärin Alison, einer hinreißenden Blondine, deren Perlen so groß und rund waren wie die blauen Augen, mit denen sie Tyner anhimmelte. »Ich fand es schrecklich, dass ich nicht kommen konnte.«
Rock, der um 23 Uhr als Angeklagter verhaftet und neun Stunden später auf Kaution freigelassen worden war, sah erstaunlich gut aus. Das Gefängnis, oder das fehlende Koffein, hatten ihm zum ersten Mal seit Wochen Ruhe verschafft. Tatsächlich wirkte er auf Tess geradezu heiter. Was auch geschehen war, Ava gehörte immer noch zu ihm.
Tyner seufzte. »Rock, ich weiß, du siehst es so: Du bist unschuldig, und irgendwie ist ein furchtbarer Fehler passiert. Aber so läuft es nicht. Ich weiß nicht, ob du Maryland wirst verlassen können, um am ›Head of the Ohio‹ teilzunehmen, viel weniger noch am ›Head of the Charles‹. Du hast ohnehin schon Glück gehabt, dass du genug Geld hattest, um einen Kautionssteller zu finden.«
Rock guckte erstaunt. Nicht am »Head of the Charles« teilnehmen? Jedenfalls hatte Tyner jetzt seine volle Aufmerksamkeit.
»Unser größtes Problem ist, dass die Polizei ganz zufrieden ist, den richtigen Verdächtigen verhaftet zu haben«, sagte Tyner. »Das hier ist ein aufsehenerregender Fall, den sie schnell lösen müssen, und sie gratulieren sich bereits, wie wenig geistige Anstrengung er erfordert hat – und das sogar, bevor sie mit Ava gesprochen haben. Wir können nur hoffen, dass das Ergebnis ihrer Nachforschungen mangels Beweisen in die Brüche geht, oder dass noch jemand anderes in die Sache verwickelt ist. Inzwischen können wir aber damit anfangen, Informationen zu sammeln, die uns helfen, dass die Anklage fallen gelassen wird oder, wenn es denn so weit kommen sollte, dass die Geschworenen umgestimmt werden. Und dafür brauchen wir Tess.«
»Moment mal. Ich dachte, wir sind uns einig, dass ich diesen Schlamassel verursacht habe. Warum soll ich jetzt noch weiter mit hineingezogen werden?«
»Weil du für mich arbeitest. Du gehst jetzt noch einmal deine ›Nachforschungen‹ durch, und wenn jemand fragt, kann ich ins Feld führen, dass sie vertraulich sind und unter die Schweigepflicht fallen. Das Gleiche gilt, wenn die Bullen mit dir reden wollen, oder der Staatsanwalt. Ich zeige ihnen unseren Beschäftigungsvertrag, der auf den 1. September datiert ist – den Tag, an dem du deine Abmachung mit Rock getroffen hast.«
»Arbeite ich dann tatsächlich für dich, oder ist das nur ein Trick?«
»Allerdings arbeitest du für mich, und zwar so, dass du dir dabei den Arsch aufreißen wirst«, versprach Tyner und grinste. »Du erledigst alles, was ich nicht gerne selber tue. Du gehst fotokopieren und mein Mittagessen holen. Du bringst mein Jackett zur Änderungsschneiderei, wenn ich es dir sage. Und du führst vorbereitende Gespräche mit den Hauptzeugen und trägst die Informationen zusammen, die ich brauche, um das zu spielen, was ich ›Ticktack‹ nenne – ein kleines Spiel, das dazu dient, Fenster zu öffnen und Ausgänge zu finden.«
Ticktack, erklärte Tyner, hieß Salvador Dalís Bild mit den weichen und biegsamen Uhren. Ging Rock wirklich um genau 22 Uhr die Treppe hinauf, wie der Wachmann zur Polizei gesagt hatte? Hätte es auch 22:05 Uhr sein können? Oder 21:45 Uhr? Wenn der Wachmann schon mit seinen Vorschriften relativ lax umging und zum Beispiel Abramowitz nicht anrief, vielleicht war er dann ähnlich lax mit seiner Zeittafel? Wer kam und ging sonst noch? Tess hatte die Aufgabe, den Wachmann, den Nachtwächter und eventuelle weitere Zeugen zu befragen und – höflich, sanft und ehrerbietig – in jedem Kopf so viel Verwirrung wie möglich zu stiften.
»Ticktack«, sagte Tyner. »Fenster öffnen, neue Türen und Ausgänge finden. ›Haben Sie zufällig auf die Uhr geschaut? Eine Digitaluhr? Haben Sie ganz genau festgestellt, wie spät es war? Bestimmt nicht, nehme ich an, die genaue Zeit stellt niemand fest. 22 Uhr ist ein Schätzwert, nicht wahr, damit glauben Sie der Sache am nächsten zu kommen?‹
›Trägt sich jeder ein, Sir? Absolut jeder? Kann sich nicht jemand mal vorbeistehlen? Nein, nie? Sind Sie vielleicht irgendwann vor die Tür gegangen, um eine zu rauchen oder etwas frische Luft zu schnappen? Bestimmt nicht?‹ So machst du das. Und unser erster Gegenspieler ist Rock selber. Nur da will ich, dass er sehr genaue und klare Aussagen macht, was er wann getan hat. Tess, du warst doch Journalistin. Mach dir Notizen.« Er warf ihr einen Kanzleiblock und einen Stift zu.
Rock blickte auf Tyners abgetretenen Teppich, während er sprach. Der Anfang seiner Geschichte war zumindest Tess schon bekannt. Ava hatte ihn gegen halb neun angerufen. Das konnte über das Verzeichnis von Anrufen auf Avas Autotelefon nachgewiesen werden; so viel wusste auch Tess. Am Telefon hatte Ava zu Rock noch gar nichts gesagt, sondern ihn nur gebeten, in seiner Wohnung auf sie zu warten.
»Leg den Hörer neben das Telefon, Liebling«, hatte sie ihn gedrängt. »Sprich mit niemandem, bis ich bei dir bin.«
Hat ihn gut abgeschottet, dachte Tess. Dadurch hat sie verhindert, dass ich vorher mit ihm spreche.
Sie war um 21 Uhr bei ihm angekommen. Ava erzählte Rock dann, dass Abramowitz sie gezwungen habe, mit ihm zu schlafen, indem er behauptete, sie werde in ganz Baltimore keine Anstellung als Rechtsanwältin finden, wenn sie sich weigerte. Sie habe angenommen, jemand, der Vergewaltiger und Mörder verteidigt hatte, könne sich selber ausgezeichnet gegen etwas so Nebensächliches wie sexuelle Nötigung verteidigen, deshalb habe sie nachgegeben. Dafür versprach er ihr eine brillante Zukunft. Obwohl diese Abmachung sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachte, habe sie doch alles im Griff gehabt, bis »diese Frau« sie zu erpressen versuchte.
»Stimmt überhaupt nicht«, protestierte Tess.
»Diesen Teil habe ich ihr auch nicht geglaubt«, beruhigte Rock sie. »Ich nahm an, Ava habe unsere Abmachung nicht verstanden und euer Gespräch falsch gedeutet.« Er hielt Ava immer noch zugute, dass ein Irrtum vorliegen könnte, dachte Tess. Rock hatte überhaupt noch nicht begriffen, dass Ava vielleicht einfach nur eine hervorragende Lügnerin war.
»Ich streichelte ihr das Haar, bis sie einschlief«, fuhr er fort. »Immer wieder schaute ich hinunter und sah meine Hand auf ihrem Haar und musste denken, dass auch Abramowitz sie berührt hatte. Das machte mich ganz wahnsinnig. Nach einer Weile schien es irgendwie ganz natürlich, dass ich mein Fahrrad nahm und dorthin fuhr, zu seiner Kanzlei.«
»Woher wusstest du denn, dass er dort war?«, fragte Tyner.
»Das wusste ich gar nicht. Ava hatte mir erzählt, dass er praktisch immer dort sei und arbeite. Ich ging davon aus, dass es gestern Abend auch nicht anders wäre. Und er war auch tatsächlich dort, aber er sah sich das Spiel der Orioles an. Sein Büro ist wie eine Privatloge – man schaut von dort genau in das Camden Yards hinein. Wenn man dazu den passenden Sportsender einschaltet, ist das besser, als unten im Stadion zu sitzen. Er hatte sogar ein Bier und einen Hotdog vor sich. Ich glaube, das brachte mich noch mehr in Wut, der Gedanke, dass er hier in seinem Büro saß und einem Spiel zusah, während Ava fast durchdrehte. Also sagte ich zu ihm – ich sagte ihm, was ich von ihm hielt, und dass wir zur Behörde für berufliche Gleichstellung und vor das Staatsgericht gehen könnten, und vielleicht auch zur Zeitung. Er lachte nur.«
»Hat er dich ausgelacht?«, fragte Tess. »Fand er es komisch?«
Rock dachte einen Augenblick nach. »Es war ein nervöses Lachen, als würde er sich überlegen, was er antworten sollte. Und dann kamen lauter Lügen aus ihm heraus, nämlich, dass er Ava helfen wollte, ihr Examen zu bestehen, und dass sie ihm angeboten habe, mit ihm zu schlafen, wenn er ihr nur versprach, dass sie in seiner Kanzlei bleiben dürfe. Sie sei schon zweimal durchgefallen, und beim dritten Mal müsse sie es schaffen, sonst bedeute es das Aus für sie. Das stimmt übrigens tatsächlich – sie ist zweimal durchgefallen. Aber sie hat Abramowitz nicht angeboten, mit ihm zu schlafen, um ihren Job zu behalten. So etwas würde sie niemals tun.«
Na, wer weiß, dachte Tess.
»Hat er sonst noch etwas gesagt?«, fragte Tyner.
»Er hat gesagt …« Rock schloss die Augen, um sich die Szene zu vergegenwärtigen. »Er hat gesagt: ›Tut mir leid.‹ Und dann sagte er noch: ›Aber sie ist wirklich schön.‹ Und da habe ich ihn geschlagen.«
Der Schlag warf Abramowitz rückwärts auf seinen Orientteppich und zerbrach seine Brille. Der Metallsteg schnitt ihm in die Nase, und sein Kopf schlug an einer Ecke des Schreibtischs auf, wodurch eine oberflächliche Wunde hervorgerufen wurde, die aber stark blutete. Bei Kopfwunden ist das normal, wie Tess wusste. Sie sehen oft viel schlimmer aus, als sie tatsächlich sind.
»Ich stand über ihn gebeugt und legte ihm die Hände an die Kehle«, sagte Rock. »Ich dachte, jetzt könnte ich ihn glatt töten. Ich wollte, dass ihm das auch klar war, wollte ihn genauso in Angst und Schrecken versetzen, wie er das bei Ava getan hatte. Ich wollte, dass er sich genauso verzweifelt in die Enge getrieben fühlte, wie sie das empfunden haben musste. Ich hielt meine Hände an seine Kehle und sah ihm in die Augen. Ich wollte sogar, dass er sich vor Angst in die Hosen machte.«
»Und, hat er?«, fragte Tess. Tyner sah sie angewidert an. Sie hatte noch immer nicht ihre Angewohnheit aufgegeben, jede Frage, die ihr in den Kopf kam, auch gleich zu stellen.
»Keine Spur. Er sah nicht mal aus, als hätte er Angst. Vielleicht hat er erkannt, dass ich kein Mörder bin, weil er schon richtige Mörder verteidigt hatte. Er lächelte mich an und nickte, als wolle er mich ermutigen. Ich stieß ihn zurück, und dabei schlug sein Kopf wieder am Schreibtisch auf, diesmal ärger. Ich habe den Ton immer noch im Kopf – lauter und weniger hohl, als ich erwartet hätte, als ob sein Kopf sehr fest wäre. Er fiel in Ohnmacht. Aber er atmete noch, als ich ging, ich schwöre, dass er noch atmete.«
»Hast du die Zeit mitgekriegt?«
»Zehn nach zehn, nach dem Bromo-Seltzer-Turm, als ich wieder auf der Straße stand«, sagte er und bezog sich dabei auf eines der ungewöhnlichsten Wahrzeichen der Stadt, einen gespenstischen Uhrturm, der anstelle von Ziffern die Buchstaben dieses Mittels gegen zu viel Magensäure trug. »Ganz eindeutig zehn nach zehn.«
»Und in dem Besuchernachweis steht, dass du dich um 22 Uhr eingetragen hast, aber möglicherweise hat der Wachmann die Zeit gerundet«, sagte Tyner. »Also zehn Minuten, vielleicht sogar noch weniger, für eine ziemlich detaillierte Unterhaltung und einen kurzen Kampf. In dieser Zeitspanne hättest du ihn zwar töten können, aber dazu hättest du viel effizienter vorgehen müssen. Und dann bleiben immer noch zwanzig Minuten, bis der Nachtwächter Abramowitz findet, Zeit genug für einen anderen, deine Arbeit zu beenden.«
»Aber wer?«, fragte Tess. »Ein verärgerter früherer Klient? Ein Räuber? Einer seiner Partner? Und ist das nicht ein ganz unglaublicher Zufall, dass dieser Jemand genau dann auftaucht, wenn Rock ihn so zugerichtet hat?«
»Du denkst immer noch wie eine Reporterin«, maßregelte Tyner sie. »Oder wie eine Staatsanwältin. Es ist nicht deine Aufgabe, diesen Fall zu lösen oder meine Theorie zu durchlöchern. Du sollst nichts anderes tun, als für mich genügend Informationen zu sammeln, damit ich in vier oder fünf Monaten in einen Gerichtssaal gehen und dort begründete Zweifel erwecken kann, ob Rock wirklich die Gelegenheit hatte. Dir ist es zu verdanken, dass er unglücklicherweise ein ganz besonders starkes Motiv hat, deswegen werden wir diesen Aspekt herunterspielen müssen. Ich möchte, dass du so bald wie möglich mit dem Wachmann und dem Nachtwächter sprichst. Zuerst mit dem Wachmann – er ist wichtiger, denn er bezeugt, dass Rock um 22 Uhr hinkam. Ob es sich lohnt, sonst noch jemanden zu befragen, sage ich dir später. Übrigens wäre es von Nutzen, wenn du wie eine Erwachsene aussehen würdest. Schneide dir doch endlich mal diesen Pferdeschwanz ab, der dir da hinten am Kopf herumbaumelt!«
»Nein!« Das kam von Rock. Tess trug ihre Haare lang, weil das weniger Arbeit machte. Sie hing nicht daran. Rock offensichtlich schon.
»Dann steck ihn wenigstens hoch. Und zieh ein Kostüm an«, sagte Tyner. »Normalerweise muss ein Rechtsanwalt seinen Klienten in die richtige Form bringen und nicht seine Assistentin.«
»Deine Assistentin? Entschuldige, Tyner, aber bekomme ich dafür vielleicht Geld? Ich habe bis jetzt noch niemanden etwas über Geld sagen hören.«
»Doch. Du behältst das Geld, das Rock dir für deine ursprünglichen Nachforschungen gezahlt hat. Aber ich finde, dass dein Gehalt ein bisschen zu hoch angesetzt ist, deshalb fängst du mit zwanzig Stunden minus an. Wenn du diese zwanzig abgearbeitet hast, zahle ich dir zwanzig Dollar pro Stunde und fünfzehn Cent pro Kilometer.«
Scheiße, dachte Tess. Sie würde allein schon zehn Stunden arbeiten müssen, um sich ein Kostüm kaufen zu können.
»Und was dich betrifft«, sagte Tyner und wandte sich an Rock, »keine Interviews. Halte dich von Ava fern, jedenfalls einstweilen. Und da du dir heute ja ohnehin freigenommen hast, denke ich, du solltest jetzt sofort zum Ruderklub gehen und lange trainieren. Mach ein paar Touren, fahr bis zum Fort Henry und zurück, fahr dazwischen ein paarmal mit langen Schlägen, für gute Zeiten. Das Charles läuft vor deiner Verhandlung, und ich werde dafür sorgen, dass du daran teilnehmen kannst.«
Ein Rudertrainer-Anwalt. Vielleicht hatte Rock doch den Richtigen ausgewählt. Es gab bestimmt nicht viele Anwälte in der Stadt, die die Termine der Herbstrennen im Kopf hatten oder wussten, wie man für ein besonders wichtiges Rennen trainierte. Wenn Tyner sich nur auch so liebevoll um sie gekümmert hätte.