Читать книгу Der Geliebte der Verlobten - Laura Lippman - Страница 5

2

Оглавление

Tess aß dann doch keine Blaubeerpfannkuchen. Sie hätte zwar gerne, doch in dem Augenblick, wo sie Jimmy’s in Fells Point betrat, warf der Koch zwei Bagels zum Toasten auf den Grill und schenkte frischen Orangensaft in einen roten Plastikbecher. Ihr übliches Frühstück: zwei Bagels, einer mit Frischkäse, einer ohne. Dieses Frühstück aß sie jetzt schon seit zwei Jahren bei Jimmy’s, mindestens fünfmal pro Woche.

Immer schon hatte sie sich gewünscht, dass sie ein Lokal betreten und jemand fragen würde: »Das Übliche?« Natürlich hatte dieses Lokal in ihrer Phantasie ursprünglich eine lange Bartheke in Mahagoni, die Männer dort trugen Anzüge und die Damen Hüte, und sie selbst würde sich einen Martini bestellen, einen Martini pur. Ohne Olive, bitte.

Rock entschied sich nach einem kurzen Blick auf die Speisekarte, die auf dem Platzdeckchen aufgedruckt war, für das »Carbohydrat Spezial«, ein Frühstück, das er selbst kreiert hatte: Toast, Pfannkuchen, Orangensaft, einen Früchtebecher und Müsli mit fettarmer Milch.

»Keinen Sirup, keine Butter«, sagte er zu der Bedienung. »Nur jede Menge Marmelade extra.«

»Sonst noch etwas?«

»Haben Sie vielleicht auch Reis? Oder Buschbohnen?«

Die Kellnerin stolzierte davon, sie fand das gar nicht lustig. Rock war ein leidenschaftlicher Anhänger der These, dass die Ernährung die sportliche Leistung steigere, auch wenn sich die Regeln für eine solche Ernährung immer wieder änderten. Zurzeit mied er Fett und das meiste Fleisch. Wenn man aber bedachte, wie sehr er sich verausgabte, musste er ungeheure Mengen essen und Proteinersatzstoffe trinken, um sein Gewicht zu halten. Er aß nie, um zu genießen, und er trank keinen Alkohol. Sein einziges Laster war Koffein, das, wie er behauptete, seine Leistung steigerte. Die Küche in seiner kleinen Wohnung in Charles Village war ein Kaffeetempel. Rock besaß keinen Videorekorder, keinen CD-Player und keine Mikrowelle, aber eine französische Druckfilterkanne, eine Cappuccino- und eine Espressomaschine sowie einen Tiefkühlschrank, der mit nichts als Eiswürfelschalen und Tüten voller Kaffeebohnen gefüllt war, alle beschriftet und datiert. Seine ständige Schlaflosigkeit überraschte niemanden außer ihn selbst.

Das Frühstück kam in Minutenschnelle, und sie aßen beide hingebungsvoll und schnell, als gehöre auch das noch mit zum Rennen. Für Tess war Essen der Höhepunkt des Tages, und das machte sie nur noch hungriger. Rock dagegen wollte einfach nur die gewaltige Maschinerie seines Körpers auftanken und dann das Ganze hinter sich haben. Tess war noch an ihrem zweiten Bagel, als Rock schon mit dem letzten Stück Pfannkuchen den letzten Rest Marmelade vom Teller wischte.

»Also«, fing er an und durchwühlte seine Brieftasche. Er schob Tess einen Umschlag über die Tischplatte, den sie freudig in Empfang nahm. Ein Scheck, dachte sie. Ein Vorschuss. Doch sie fand nur ein kleines Foto von Ava darin und zwei Blätter mit Telefonnummern und Adressen. Rock hatte auch ein ungefähres Schema von Avas Tagesablauf beigelegt: wann sie zur Arbeit ging, wann sie heimkam – und was sie sonst noch gerne frequentierte. So jedenfalls nannte er es auf seiner Liste. Sie frequentierte ein Fitnessstudio in Federal Hill, eine Bar in der Nähe ihres Büros und ein italienisches Restaurant, das hauptsächlich für seine atemberaubende Aussicht und das ungenießbare Essen bekannt war.

»Komisch«, sagte Tess, während sie den Inhalt des Umschlags durchsah.

»Was?«

»Du hattest das alles schon fertig bei dir. Bist du davon ausgegangen, dass ich sowieso Ja sagen würde?«

Rock wurde rot. »Ich weiß einfach, dass du ein bisschen zusätzliches Geld gut brauchen kannst.«

»Na ja, es ist aber nicht so, dass ich für Geld grundsätzlich alles tun würde. Ich habe schon PR-Jobs abgelehnt.« Pleite zu sein war bei Tess ein bisschen zu einer Masche geworden.

Er lächelte nicht.

Sie verabschiedeten sich auf der Kopfsteinpflasterstraße vor Jimmy’s und waren plötzlich beide etwas verlegen. Tess hatte schon für viele Verwandte gearbeitet, aber noch nie für einen Freund. Rock schien sich mit dieser neuen Art der Beziehung genauso unwohl zu fühlen. Er knuffte ihr immer wieder in die Schulter, mit für ihn ganz zarten Berührungen, die aber bei ihr kleine blaue Flecken hinterließen. Schließlich nahm er sein zehngängiges Rennrad aus Tess’ Kofferraum und fuhr den Broadway hoch, den sich lang hinziehenden Berg hinauf zum Johns Hopkins Hospital, und zu seinem Leben als Darryl Paxton.

Tess fuhr über den weiten Platz am Broadway und hinüber in die Shakespeare Street, wo sie hie und da einen Blick in ein unverhülltes Fenster werfen konnte. Es war erst acht Uhr morgens, und die anderen Leute, die normalen Leute, wie Tess sie bei sich nannte, saßen noch am Frühstückstisch oder traten im Bademantel vor die Tür, um den Beacon reinzuholen. So eine Existenz hatte sie sich früher auch für sich vorgestellt, und zwar tatsächlich bis in diese prosaischen Einzelheiten. Ein Gatte, ein Baby, ein Esszimmertisch. Manchmal legten ihre Tante und deren jeweiliger Liebhaber ein Gedeck für sie am Frühstückstisch mit auf, aber dieser Versuch, es ihr häuslich zu machen, verstärkte nur Tess’ Gefühl von Fremdheit. Es kam ihr seltsam vor, sich zusammen mit ihrer Tante und ihrem »Mann des Monats«, beide gewöhnlich im Bademantel und noch etwas gerötet, zu heiterem Geplauder und Blaubeermarmelade hinzusetzen.

Die Shakespeare Street mündete in die Bond Street, in der Tess wohnte. Sie hielt an und blickte auf das Haus, das sie Zuhause nannte, ein klobiges Lagerhaus aus granatroten Ziegeln, die Türen und Fenster weiß umrandet und alles von der liebevollen Fürsorge ihrer Tante bestens instand gehalten. Die Fenster glänzten im Morgenlicht, und die Bücher im Inneren – in feinen Nuancen von Rot, Grün und Elfenbein – leuchteten wie Edelsteine in einer Schatulle. Über der Tür strahlten die scharlachroten Buchstaben so stark, dass sie förmlich aus der Wand sprangen: FRAUEN UND KINDER ZUERST. Und in kleinerer Schrift darunter, für den einen oder anderen Ungebildeten, der etwa dachte, es sei ein Geschäft für Rettungsboote: DIE GANZ BESONDERE BUCHHANDLUNG.

Nicht jeder hätte viel Umsatz von einem Laden erwartet, der nur Frauenliteratur und Kinderbücher verkaufte. Aber Tess’ Tante, Katherine »Kitty« Monaghan, war eben nicht wie jeder. Sie war überhaupt nicht wie irgendjemand anders. Nach fast zwanzig Jahren als Bibliothekarin in städtischen Schulen war sie in Frührente gegangen, nachdem sich eine Mutter beschwert hatte, dass Märchen gottlos seien und den Glauben an Satan und den Okkultismus förderten.

Das war jedenfalls die offizielle Version. Die ausführlichere Version umfasste den Super Fresh Markt, einen Kohlkopf und eine Gelbe Rübe. Kitty war entlassen worden, nachdem sie eine Mutter verziert hatte, die sie in der Gemüseabteilung angesprochen und sich über »Hans und die Bohnenranke« beschwert hatte. Dieses Märchen fördere unsoziales Verhalten, hatte sich die Mutter beschwert. Es glorifiziere das Räubertum. Kitty verpasste ihr ein blaues Auge. Die Stadtverwaltung entließ sie. Es gab offenbar Vorbehalte dagegen, Eltern anzugreifen. Kitty strengte eine Klage wegen unrechtmäßiger Entlassung an und verwies darauf, dass die Frau sie im Super Fresh angepöbelt habe, wo sie eindeutig als Privatperson unterwegs gewesen sei, und ihr einen Kohlkopf an den Kopf geworfen habe, als Kitty ihr nicht zustimmte. Das war der Punkt, der Kitty so wütend gemacht hatte – nicht, dass sie einen Kohlkopf an den Kopf bekommen hatte, sondern dass jemand es wagte, sie ausgerechnet dann auf die Schule anzusprechen, wenn sie sich in der Gemüseabteilung aufhielt, an einem Ort also, den sie auch unter den günstigsten Umständen schon ziemlich anstrengend fand. Sie warf eine Gelbe Rübe zurück, und sie zielte besser.

»Es war schlicht und einfach Selbstverteidigung«, sagte sie gerne über den Vorfall. Zum Glück stimmte der gewerkschaftliche Schlichter dem zu. Die Schulverwaltung von Baltimore willigte ein, eine beträchtliche Summe zu zahlen, und daraufhin kaufte Tante Kitty diesen alten Drugstore von der Familie von Tess’ Mutter, den Weinsteins, nachdem diese den Bankrott erklärt hatten.

Sie verwandelte das dreistöckige Gebäude in einen Laden und eine Wohnung, mit einer zusätzlichen Einliegerwohnung im obersten Geschoss, um ein paar weitere Einnahmen zu haben. Mehr aus Faulheit denn aus innenarchitektonischen Bedürfnissen behielt sie die alte Theke, die die vordere Abteilung, nämlich die für Kinderbücher, von der dahinter liegenden trennte – der für feministische Traktate, Erotika, alles, was von Frauen und manchmal auch über Frauen geschrieben worden war. So konnte man beispielsweise auch Bücher von Philip Roth und John Updike in FRAUEN UND KINDER ZUERST kaufen.

FUKZ war ein gemütlicher Laden, mit Lehnstühlen, zwei funktionierenden Kaminen, abgetretenen Teppichen und der alten Zimmerdecke aus Zinn. Man kam, um zu kaufen, blieb, um ein bisschen zu schmökern, und ging schließlich, mit mehr Büchern als geplant. Der Profit war zwar bescheiden, aber doch weitaus höher, als Kitty sich je hätte träumen lassen. Vom Kapitalismus hingerissen, sprach sie ständig vom Expandieren. Vielleicht würde sie an der alten Theke auch noch Espresso anbieten, oder Fünfuhrtee. Oder das nebenstehende Gebäude kaufen und eine Pension einrichten. Oder vielleicht eine Buchhandlung nur für Männer? Als Neuling im Rennen hatte ihr das Anfängerglück gefährlich den Kopf verdreht. Tess hätte sich nicht gewundert, wenn sie ihr ganzes Geld genauso schnell wieder verlieren würde, wie sie es gewonnen hatte.

»TOTE WEISSE MÄNNER, wie findest du das als Namen, Tesser?«, fragte Kitty, als Tess zur Tür hereinkam. Kitty saß auf der alten Theke, in einem Seidenkimono mit Kirschblüten, und nippte an einer Tasse Kaffee. »Was wir da verkaufen könnten – also, ich glaube, da könnten wir einfach alles verkaufen, die ganzen Klassiker. Das wäre eben genau der Witz daran. Es wäre eine ganz normale Buchhandlung, aber die Leute würden glauben, es sei etwas Besonderes. Und mit den beiden Läden hätte ich dann praktisch alles abgedeckt. Schließlich stirbt ja jeder irgendwann einmal. Sogar Norman Mailer.«

»Find ich gut«, sagte Tess. »Andererseits, wenn man bedenkt, dass die hiesige Bevölkerung gegen Ironie völlig immun ist, sehe ich schon vor mir, wie eine Männergruppe und die NAACP draußen vor dem Laden Mahnwachen aufstellen und den Eingang blockieren, weil sie der Ansicht sind, dass du den Geschlechtermord verherrlichst und Farbige diskriminierst. Und diese ›Mütter gegen Gewalt‹ – du weißt schon, die MÜGG – würden es als etwas pro Gewalt auffassen.«

»MÜGG! Die gibt es doch gar nicht, nicht einmal hier in Baltimore.«

»Liest du denn keine Zeitung? Sie haben einen ständigen Blockadeposten vor dem Multiplex in Towson aufgestellt. Das ist sehr praktisch fürs Einkaufen. Sie marschieren eine Stunde lang auf und ab, dann machen sie eine Pause und gehen im Nordstrom shoppen.«

Kitty lachte, ein überraschend lautes, wunderbares Lachen. Die meisten Monaghans waren etwas mürrisch, auch Tess, und deshalb wirkte Kitty ein bisschen wie ein Wechselbalg. Sie war der glücklichste Mensch, den Tess kannte, mit einer schier unbegrenzten Begeisterungsfähigkeit. Sie wollte nur, dass das Leben greifbar sei, voller Dinge, die man anfassen und festhalten, riechen und schmecken konnte. Weiche Stoffe, neue Bücher, vollmundige Weine, gut geschneiderte Kleider, ausgeprägte Waden. Sie war zwölf Jahre älter als Tess und über zwanzig Zentimeter kleiner, mit flammend roten Locken und den einzigen grünen Augen innerhalb von drei Generationen. Ihr letzter Beau war einer der neuen städtischen »Polizisten zu Rad«, der in den Laden gelockt worden war, nachdem Kitty seine Beine hatte vorüberfliegen sehen. Thaddeus Freudenberg. Er war vierundzwanzig, so groß und knuddelig wie ein Labrador und mit einem nur geringfügig niedrigeren IQ als ein solcher. Tess nahm an, dass er deshalb bei der Fahrradstreife war, weil er die Führerscheinprüfung nicht geschafft hatte.

Thaddeus war an diesem Morgen nirgends zu sehen. Tess lehnte sich gegen die Theke. »Ich habe ein interessantes Angebot bekommen«, fing sie an und unterrichtete Kitty über Rocks Vorschlag. Sie dachte, ihre Tante würde beeindruckt sein, vor allem, da Tess oft kaum die Miete bezahlen konnte.

Aber Kitty hatte ihre Zweifel. »Das klingt, als müsstest du dich für Lohn in anderer Leute Privatsachen einmischen. Hast du denn keine moralischen Bedenken?«

»Moral kann ich mir nicht leisten. Der Sommer war lahm, und ich brauche dringend ein bisschen Bargeld.«

»Ja, wahrscheinlich hast du recht.« Sie sah Tess von oben herab an, was ihr nur deshalb gelang, weil sie oben auf der alten Theke saß und Tess daran lehnte. »Aber du magst diese Frau doch eigentlich nicht. Wie kannst du da objektiv sein? Wenn du etwas siehst, worüber du dir unklar bist, könntest du falsche Schlüsse ziehen, nur weil du sie ertappen willst. Und das merkst du dann wahrscheinlich nicht einmal.«

»Zum Beispiel?«

»Na ja, zum Beispiel siehst du sie jemanden auf der Straße küssen, und du denkst natürlich, das ist ihr Liebhaber. Es könnte aber auch ihr Bruder sein, oder einfach ein Freund.«

»Ich glaube, den Unterschied zwischen einem Liebhaber und einem Bruder kann ich schon noch erkennen.«

»Ich weiß nicht, Tesser. Es ist schon eine Weile her, seit ich außer dir noch jemand anderen die Treppe in den zweiten Stock habe hinaufsteigen hören.« Kitty lächelte und zog sich den rutschenden Kimono wieder über die linke Schulter hoch.

»Sei bloß nicht so süffisant, nur weil du jeden Abend von deinem Leutnant Strahlemann in den Arm genommen wirst. Manche Leute schlafen eben auch gern allein, verstehst du?«

»Vielleicht taucht ja Jonathan bald mal wieder auf. Ist schon ’ne Weile her, oder?«

»Ich habe auf Jonathan seit Beginn der Fastenzeit verzichtet.«

»Und an Yom Kippur wirst du ihm dann wieder verzeihen. Du hast es schon immer geschafft, alles aus deinen beiden Religionen herauszuholen, Tesser, schon als du noch ein kleines Mädchen warst.«

Und damit schwang sich Kitty von der Theke, marschierte in den Wohnbereich hinter dem Laden und überließ Tess sich selbst, sodass sie über Jonathan Ross nachdenken konnte. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, dass er ihr fehlen könnte, bis Kitty ihn jetzt erwähnte. Yom Kippur, der Tag der Buße, war nächsten Monat. Und Jonathan hatte für mehr Buße zu tun als sie, für viel mehr.

Ihre Gedanken wurden zerstreut, als Crow, einer der Angestellten, an der vorderen Eingangstür klopfte.

»Na, heute nur zwei Stunden zu früh«, sagte Tess, als sie ihm aufmachte, und kam sich dabei etwas gemein vor. Crow, der in Kitty verknallt war, tauchte oft schon um sieben Uhr zu seiner Vormittagsschicht auf und blieb bis spät abends, damit beschäftigt, die Lagerbestände zu computerisieren.

»Ja, also, ich dachte, ich könnte vielleicht hier frühstücken.« Er hielt eine etwas fettfleckige Tüte Donuts und eine Flasche Orangensaft in die Höhe. Auf dem Rücken trug er einen ziemlich ramponierten Gitarrenkasten. »Ich mag das Morgenlicht hier drin. Es ist für mich so … inspirierend.«

Tess hatte fast Mitleid mit Crow, denn er war einfach nur der Neueste in einer langen Reihe von Aushilfskräften, die sich in Kitty verliebten. Die Kunststudenten von Marylands Institute of Art schienen besonders anfällig dafür zu sein. Aber ihr Mitleid wurde von einer unbestimmten Verärgerung gedämpft. Sie würde er nie so anschauen, mit seinen feuchten braunen Augen und seinem hübschen Mund. Crow schwang sich auf die Theke, als würde er ganz automatisch von dem Platz angezogen, an dem noch vor ein paar Minuten Kittys Kimono verrutscht war. Ohne sich um sein Frühstück zu kümmern, nahm er seine Gitarre heraus und fing an zu spielen. Etwas Selbstkomponiertes, urteilte Tess, oder die besonders schlechte Interpretation von etwas Bekanntem.

»Ich schreibe gerade einen Song«, erzählte er ihr.

»Da bist du nicht der Erste. Aber denk daran – es reimt sich praktisch nichts auf Kitty.«

»Nicht unbedingt.« Er schlug ein paar Töne an und fing an zu singen. Seine Stimme war zwar dünn, aber charmant und echt. »Ach, vor Kurzem traf ich Kitty / Die schönste Frau der ganzen City / Tapocketa. Tapocketa. Tapocketa / Ich bin schon fast ein Held.«

»Wenn du etwas findest, was sich auf Monaghan reimt, bin ich wirklich beeindruckt.«

»Wenn ich etwas finde, dann könnte ich ja auch für dich einen Song schreiben«, sagte Crow und grinste sie an. »Es gibt so viel, was sich auf Tess reimt.«

»Stress«, sagte sie. »Darauf reimt sich hauptsächlich Stress.«

Damit überließ sie Crow seinen Donuts und seinen Träumen und ging die Hintertreppe zu ihrem Apartment hinauf. Sie war steil, denn die unteren beiden Stockwerke waren ziemlich hoch, und so war es fast, als müsse man vier Stockwerke erklimmen. Als Kitty das Gebäude renovierte, wollte sie das zweite Stockwerk vermieten, um ihre Hypothek leichter abzahlen zu können. Tess als erste und einzige Mieterin zahlte weitaus weniger, als Kitty auf dem freien Wohnungsmarkt hätte verlangen können.

Die Wohnung war klein und bestand praktisch nur aus einem einzigen großen Raum, der durch Bücherregale unterteilt war. Der Wohnbereich war gerade groß genug für einen Schreibtisch, einen Lehnsessel und einen kleinen Tisch im Kolonialstil, den sie zum Essen benutzte. Die Küche bestand nur aus einer Kochnische mit einem winzigen Kühlschrank und einem Herd mit zwei Flammen. Man musste sie durchqueren, um ins Schlafzimmer zu gelangen, den größten Bereich. Auch das war schlicht und bot nur Platz für ein massives Doppelbett, einen kleinen Tisch und eine Spiegelkommode.

Dennoch besaß das Apartment noch etwas ganz Besonderes: eine Terrasse vor dem Schlafzimmer mit einer Leiter aufs Dach. An diesem Morgen stieg Tess sofort hinauf, in der Hoffnung, dass die Aussicht ihren Geist erweitern und klären werde, damit sie sich auf ihren seltsamen neuesten Job konzentrieren konnte.

Sie bevorzugte den Blick nach Osten, auf die Fabrikschornsteine und das neonrote Emblem auf dem Domino-Sugar-Hochhaus, mit dem Rücken zur Altstadt und zu Baltimores berühmter Uferpromenade. Mit diesem Teil von Baltimore, der als Attraktion für die Touristen neu gestaltet worden war, konnte Tess überhaupt nichts anfangen. Ihrer Ansicht nach gab es hier kaum einen Unterschied zu den vorherigen Stripteasebars, die keinen Eintritt verlangten, dafür aber drinnen die Preise für alles umso höher ansetzten. Sie hatte manchmal Albträume, bei denen sie in einen Kopf aus Pappmaschee eingesperrt war und Leute begrüßen musste: »Na, Süßer, wie geht’s? Na, Süßer, wie geht’s?«

Tess sah noch einmal die Adressen durch, die Rock ihr gegeben hatte. Avas Leben war fein säuberlich unterteilt. Sie wohnte in einer Eigentumswohnanlage auf der einen Seite des Hafens. Sie arbeitete auf der anderen Seite für die angesehene Anwaltskanzlei O’Neal, O’Connor und O’Neill. Sie konnte in weniger als einer Viertelstunde zu Fuß zur Arbeit gehen – falls Ava überhaupt jemals zu Fuß ging.

Das Foto war grob zu einem Oval geschnitten, was die ungeschickte Hand eines Mannes verriet. Wahrscheinlich hatte es in einem Rahmen neben Rocks Bett oder auf seinem Schreibtisch gestanden. Ein Foto von einer Frühlingsregatta, auf dem Ava neben Rock stand. Er trug ein rotes T-Shirt und schwarze kurze Ruderhosen aus Lycra. Sie hatte ein nagelneues T-Shirt mit Marinestreifen an, das aussah, als hätte es mehr gekostet als Tess’ bestes Kleid. Ihre Rechte konnte Rocks Handgelenk nicht einmal ganz umspannen, trotzdem schien sie ihn fest in der Hand zu haben. Ihr Haar schwebte wie eine dunkle Wolke um ihr Gesicht, ein Gesicht, das so vollkommen war, dass man leicht verstehen konnte, warum ihre Eltern es gewagt hatten, sie nach einer Göttin der Erotik zu benennen. Ava kam in ihrem Leben dieser Vorgabe nach.

Tess kannte sich mit schönen Frauen aus. Seit sie lebte, war sie von ihnen umgeben – ihre Tante, ihre Zimmergenossin auf dem College, Whitney, sogar ihre Mutter. Einige waren großzügig und erlaubten einem, sich in ihrem Glanz zu sonnen. Andere waren abweisend und erreichten immer, dass man sich neben ihnen dick und ungeschickt vorkam. Ava gehörte zu Letzteren.

Mit neunundzwanzig hatte Tess Frieden mit ihrem Gesicht und ihrem Körper gemacht. Sie war nicht schön, aber ihr Aussehen tat ihr gute Dienste. Sie hielt alles einfach: lange braune Haare, auf dem Rücken zu einem Zopf geflochten, kein Make-up in ihrem blassen Gesicht oder um ihre hellbraunen Augen, Kleidung, die auf Bequemlichkeit und schnelle Bewegung zugeschnitten war. Eins stand jedenfalls fest: Sie besaß die richtige Garderobe für eine Spionin – ganze Schubladen voll alter, ausgebeulter Sachen in dunklen Farben. Sie verstand es, sich unsichtbar zu machen.

Der Geliebte der Verlobten

Подняться наверх