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Achtzehn Jahre lang hatte Tess’ Onkel Donald so etwas wie ein bewegliches Ziel in der Staatsregierung dargestellt und war von einem Nichtstuerjob zum anderen gesprungen, immer um eine Nasenlänge den Gesetzgebern voraus, die ihn in gelegentlichen Anfällen von Verantwortungsgefühl für den Verbleib der Steuergelder einsacken wollten. Sein neuester Ruheplatz war ein kleines Büro ganz oben, zumindest im wörtlichen Sinn, in der Abteilung für Lizenzen und Konzessionen. Sein offizieller Titel: Direktor des Ressorts für Betrug und Verschwendung. Seine Stellvertreterin: Tess.

»Weißt du, das klingt, als würdest du Betrug und Verschwendung betreiben«, sagte Tess, als sie das Büro ihres Onkels betrat. Es war klein, besaß aber ein Fenster auf den St. Paul Place hinaus, mit einem hübschen Blick auf einen langen, schmalen Grünstreifen, der von Unkraut überwuchert und fast erstickt war.

»Sollte ich vielleicht auch«, sagte er liebenswürdig. »Ich hätte nichts dagegen. Zumindest wäre ich dann den Tag über beschäftigt.«

Donald Weinstein, ein kleiner Mann mit rundem Bauch und dünner werdenden braunen Haaren, war in seiner Jugend eine Schönheit gewesen, aber sein gutes Aussehen war gleichzeitig mit seiner Macht geschwunden und hatte nur noch einen vollen Schmollmund und glänzende braune Augen hinterlassen, was gar nicht zu seinem blassen, faltigen Gesicht passte. Er reichte seiner Nichte einen schmalen Ordner, der für ihn die Arbeit einer Woche bedeutete. Tess setzte sich auf den braunen Plastikstuhl vor seinem Schreibtisch und blätterte Notizen und Aufzeichnungen der anderen Abteilungen durch.

»Sehr eindrucksvoll«, sagte sie. »Hier steht, dass im Gesundheitsamt eine niedrigere Wasserrechnung erreicht wurde, indem man einen undichten Hahn reparieren ließ. Das Arbeitsamt hat billigere Donuts für das monatliche Angestelltentreffen gefunden. Und das Umweltministerium hat seine gebührenfreie Rufnummer für Infos über den gezeitenabhängigen Wasserstand in den Feuchtgebieten gekappt, die eh nie jemand benutzte, außer den Angestellten selbst, die angestiefelt kamen und dort ihre Ferngespräche führten. Was wird Maryland denn mit diesem ganzen Haufen zusätzlichem Geld machen?«

Unter Tess’ Händen und an ihrem Computer würden sich diese Dinge in Pressemitteilungen verwandeln. Gesundheitsministerium senkt Kosten und handelt umweltbewusst! Oder, im Fall der Donuts: Linda Fair, aufgeweckte Angestellte des Arbeitsamts, fand heraus, dass Neuabschlüsse mit Versorgungsunternehmen zu beträchtlichen Einsparungen führen können. Sie schrieb immer zwei Ausfertigungen – eine zur Verteilung innerhalb der Ämter, die andere als Pressemitteilung. Die Sache aus dem Umweltamt würde sie auf dem zweiten Blatt weglassen, weil auf der Notiz der Stempel NFMB (nicht für die Medien bestimmt) stand. Es gab keinen Anlass, die Medien auf solche Ferngespräche hinzuweisen. Für diese ganze Arbeit zahlte Donald ihr hundert Dollar, was auf fünfzig Dollar Stundenlohn hinauslief, obwohl es mit zehn Dollar Stundenlohn auf dem amtlichen Abrechnungsblatt aufgeführt wurde, das Tess jede Woche ausfüllte. Das war keine schlechte Art und Weise, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie hätte nichts gegen sieben weitere solche Jobs gehabt.

»Hast du schon was gegessen?«

»Ja, unten am Hafen.«

»Schade. Ich dachte, wir könnten zu Tio raufgehen.«

»Ich war schon seit Jahren nicht mehr bei Tio Pepe.« Seit Jonathan Ross sie damals eingeladen hatte, als er gerade so gut bei Kasse war, weil er bei einer neuen Zeitung hatte einsteigen können und noch die Abfindung der vorherigen kriegen sollte.

»Wir könnten Sangria trinken. Sehen und gesehen werden. Uns die Dessertkarte bringen lassen und dann doch nichts bestellen. Na ja, vielleicht ein Stückchen Pinienkerntorte. Egal, was die Leute sagen, es ist immer noch das beste Restaurant von ganz Baltimore.«

»Ist ja auch ziemlich teuer. Hast du jetzt ein Spesenkonto? Oder bist du groß bei den Pferdewetten eingestiegen?«

»Ich glaube, man nennt so etwas ein ›Konto für Sonderausgaben‹.« Er zwinkerte ihr zu. »Aus dem bezahle ich dich auch.«

»Also begehst du tatsächlich Betrug und Verschwendung.«

Donald lachte. »Wenn es diese Sparmaßnahmen nicht gäbe, Tess, hätte ich für dich bestimmt schon einen Vollzeitjob aufgetan. Dann würdest du fünfhundert Dollar pro Woche und sämtliche Sozialleistungen bekommen, und zwar für dieselbe Arbeit, die du jetzt für hundert Dollar machst. Und ich hätte ein bisschen Gesellschaft.«

»Vielen Dank, Onkel Donald, aber ich glaube, ich wäre keine sehr gute Staatsangestellte. Mir fällt es schon schwer genug, für diese Presseberichte den richtigen Ton zu treffen. Du weißt schon – etwas ›empfangen‹ statt es einfach zu ›kriegen‹. Oder ein Plan zu ›umfassenden Zustelldiensten‹. Ich wäre niemals dieses smarte junge Ding, das herausfindet, wo es die billigsten Donuts gibt.«

Sie küsste ihn schnell auf die Wange. Er roch wie das Wohnzimmer einer alten Dame. Nach Haaröl und muffigen Polstermöbeln, mit einem Anflug von Pfefferminzbonbons. Die Geschwister ihrer Mutter waren alle älter, viel älter als Judith Weinstein, eine Nachzüglerin, die fast zwölf Jahre nach Mickey, dem jüngsten der vier Jungen, auf die Welt gekommen war. Donald musste in den frühen Sechzigern sein, schätzte Tess.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um und sah ihn an. Er war einmal ein wichtiger Mann gewesen. Geldeintreiber zwar, aber mit einer großen Zukunft. Wenn sein Chef nicht wegen Postbetrugs verurteilt worden wäre, hätte Donald heute in der Staatsregierung sitzen und dem Gouverneur Informationen zuflüstern können, anstatt hier in seinem leeren Zimmer die Zeit totschlagen zu müssen. Onkel Donald war inzwischen so oft versetzt worden, dass er überhaupt nichts Persönliches mehr mit ins Büro brachte, außer den Formularen für die Pferdewette und einem Kanzleiblock. Papierpferdchen spielen nannte Onkel Donald sein Laster.

»Stehst du gut?«, fragte Tess.

»Aufs ganze Jahr gesehen schon. Trotzdem, es war eine miese Woche. Ich kann diese kalifornischen Pferde nicht leiden. Krieg irgendwie kein Gespür für sie.«

»Du wettest aber doch keine großen Summen?«

»Die echten Summen wette ich an der Börse. Das ist aufregender. Sag mal – willst du wirklich nicht, dass ich mich mal ein bisschen umhöre, ob es hier beim Staat nicht doch etwas für dich gibt? Ich bin eigentlich sicher, dass ich für dich so einen kleinen Job für 30000 Dollar pro Jahr finden könnte, mit guter medizinischer Absicherung.«

Tess schaute sich in dem kahlen Büro um, mit dem einen Fenster und den Wettformularen auf dem Schreibtisch. Sie warf ihrem Onkel eine Kusshand zu und rannte dann die elf Treppen hinunter, als wäre etwas hinter ihr her. Als sie auf der Straße war, ging sie zu einem forschen Schritt über, hielt aber nicht mehr an, bis sie bei ihrer Wohnung war.

Sieben Stunden später, als sie ihre Arbeit für Onkel Donald erledigt und ihre allabendliche Laufrunde hinter sich gebracht hatte, bezog Tess wieder Stellung vor der Tiefgarage des Eden’s Landing. Diesmal saß sie allerdings in ihrem Toyota und wartete, ob Ava das Haus verlassen würde. Sie wusste, dass Ava zu Hause war, denn Rock hatte erst vor ein paar Minuten mit ihr am Telefon gesprochen und dann gleich Tess angerufen.

»Sie hat mir gesagt, dass ihr eigentlich nicht danach ist, heute Abend auswärts zu essen«, sagte er. »Hat gesagt, dass sie den ganzen Abend zu Hause bleiben will.« Er hatte Tess nicht gebeten, sie zu beobachten, und Tess hatte ihm nicht gesagt, dass sie es vorhatte. Schließlich bezahlte er Tess dafür, dass sie sich diese unschönen Gedanken an seiner Stelle machte.

Zwanzig Minuten später überkam sie fast so etwas wie Genugtuung, als Ava in ihrem silberfarbenen Miata aus der Tiefgarage des Eden’s Landing kam. Tess folgte ihr etwa eineinhalb Kilometer weit, durch die Innenstadt und nach Federal Hill hinein, zu einem Fitnessstudio, einem sehr geräumigen Gebäude, in dem um die Jahrhundertwende drei Frauen bei einem an sich belanglosen Feuer umgekommen waren.

»Warum lügst du ihn denn an, wenn du zum Training gehst?«, fragte Tess Ava in ihrem Auto. »So etwas findet Rock doch immer gut, auch wenn die Geschichte des Studios nicht so ganz politisch korrekt ist.«

Als das Studio eröffnete, wurde das in den Leitartikeln des Beacon als sehr unsensibel verurteilt. Männer und Frauen, die behaupteten, Nachkommen der toten Frauen zu sein, bildeten Mahnwachen vor dem Gebäude. Fernsehreporter wuselten überall herum, aber das hübsche Gebäude war so fotogen, dass sich die Leute regelrecht darum rissen, Mitglied zu werden. Schließlich erinnerte sich jemand auch noch, dass alle drei Brandopfer junge Mädchen gewesen waren, unverheiratet und kinderlos, und die Mahnwachen verschwanden. Das Fitnessstudio wurde ein voller Erfolg.

Tess hätte sich, sogar als sie noch einen Beruf hatte, solch ein schickes Studio niemals leisten können, aber sie wusste, wie sie sich Zutritt verschaffen konnte.

»Ich hätte gerne ein paar Infos zur Mitgliedschaft«, sagte sie zu der magersüchtig aussehenden Blondine am Empfangstisch. Die Blonde seufzte und drückte auf einen Knopf hinter dem Tisch. Eine Aufnahme von einem wilden Jubelgeschrei, wie es etwa eine Menschenmenge ausstößt, wenn jemand in der letzten Sekunde vor dem Abpfiff noch ein Tor schießt, schallte durch den ganzen Club. Na, großartig, dachte Tess, hoffentlich wissen jetzt alle, dass ich hier bin.

Da eilte auch schon ein gewisser Dale, wie man auf seinem Namensschildchen lesen konnte, auf sie zu. Klein und muskelbepackt, trug er ein so enges gestricktes Polohemd, dass Tess in der Mitte seiner wohlgeformten Brust jedes einzelne Haar zählen konnte. Sieben waren es im Ganzen. Seine weißen Hosen saßen nur eine Idee weniger eng. Sogar sein straff zurückgekämmter Pferdeschwanz, der nur ein paar Zentimeter lang war, sah fest und biegsam aus und so gewölbt wie ein Bizeps.

»Ich heiße Dale und bin Ihr Botschafter in Sachen Fitness«, sagte er und schüttelte Tess enthusiastisch die Hand. »Interessieren Sie sich für unser Platinprogramm oder für unser Goldprogramm?«

»Wahrscheinlich für das in Zirkonium.«

Er sah sie verständnislos an.

»Kleiner Scherz«, erklärte Tess. »Ich will jedenfalls die beste Mitgliedschaft, die Sie zu bieten haben. Aber ich möchte erst mal sehen, was es hier so gibt, bevor wir über die Kosten sprechen.«

»Natürlich.« Er legte ihr besitzergreifend die Hand ins Kreuz wie ein Steuerruder. Tess machte sich von dieser Hand frei.

»Ich dachte, ich seh mich hier erst mal allein um. Schau mir die Umkleidekabinen an, verstehen Sie. Ich nehme an, die sind für Frauen und Männer getrennt?«

Dale, der seine Provision schon davonschwimmen sah, behielt dennoch sein breites, forsches Lächeln bei. »Kein Problem! Aber Sie müssen mir nur schnell ein Formular unterschreiben, dass Sie sich hier auf eigene Verantwortung bewegen. Dann haben wir Ihren Namen und Ihre Telefonnummer bei den Akten.«

Tess nahm das Klemmbrett, das er ihr reichte. Da war kein Formular zu sehen, nur ein leeres Stück Papier mit Raum für einen Namen und eine Telefonnummer. Sie hatte eine plötzliche Vision, wie sie nachts mit Anrufen von Dale bedrängt wurde, der sie bat, das Studio doch wenigstens für drei Monate auszuprobieren, oder auch für zwei Monate, oder nur für einen Monat.

Tess Duberville, schrieb sie sorgfältig und fügte die Nummer des Wetteramtes hinzu. Sollten sich doch Thomas Hardy und die Wetterfrösche mit den Beitrittsmodalitäten auseinandersetzen.

Jetzt war Tess frei, ihre eigene Tour durch die alte Fabrik zu machen, und spazierte durch das Studio, wobei sie jedes Gerät inspizierte und nach Ava Ausschau hielt. Ihre Bewunderung für die gepflegten deutschen Geräte brauchte sie nicht zu heucheln. Das Studio war gut geführt und bot überall jene kleinen Aufmerksamkeiten, die Menschen erwarten, wenn sie bis zu zweitausend Dollar Mitgliedsbeitrag pro Jahr zahlen. Flauschige weiße Handtücher, Stapel neuer Zeitschriften neben den Hometrainern, Farbfernseher, die von der Decke herabhingen. Man konnte sich sogar Kopfhörer für die Fernsehgeräte ausleihen, damit man ungestörter zuhören konnte, trotz des Aufknallens der Gewichte und des Surrens von Dutzenden von Maschinen, die alle nirgendwohin fuhren. Für jemanden wie Tess, die bis zu drei Stunden täglich in Schweiß gebadet verbrachte, war dieser Ort die reine Versuchung. Sie hätte sich viel lieber die Geräte angesehen – und in manchen Fällen auch die Männer darauf –, als nach Ava zu suchen.

Wie sich herausstellte, ließ sich beides miteinander verbinden. Der Aerobicraum lag in der Mitte des Studios und hatte eine gläserne Hülle, er sah aus wie ein überlebensgroßer Ameisenhaufen. Und da, ganz vorne in der Mitte einer Gruppe, die Stepp tanzte, arbeitete sich Ava mit solcher Energie durch ihre Pflichtübungen, als wäre sie in einem Wettkampf. Während sie in Straßenkleidung zerbrechlich und sexy wirkte, sah sie hier nicht ganz so hilflos aus, in ihren Fahrradhosen aus weißer Spitze und einem dazu passenden Sportbüstenhalter. Ihre Beinmuskeln waren lang und wohlgeformt wie die einer Tänzerin; der Bizeps und die Bauchmuskeln gut ausgeprägt, wie es zurzeit für Frauen Mode war. Was ihre Brüste betraf – unmöglich groß für eine so kleine Frau und über jegliche Schwerkraft erhaben –, so schienen sie irgendwo außerhalb dieses Studios geformt worden zu sein.

Als die Gruppe zur Entspannungsphase überging, eilte Ava hinaus, während sie sich das Gesicht mit einem der weißen Handtücher des Clubs abtupfte. Nur wenige Minuten später schoss sie aus dem Umkleideraum wieder heraus und sah dabei auf ihre Uhr. Sie hatte bestimmt nicht geduscht, obwohl das Make-up auf ihrem Gesicht aufgefrischt und ihre Haare ordentlich gekämmt waren. Noch immer trug sie das winzige Höschen und den BH, mit einem hauchdünnen Leinenhemd darüber. Das durchsichtige Hemd betonte nur die ganze nackte Haut darunter.

Jetzt schien Ava plötzlich keine Eile mehr zu haben, sondern schlenderte auf den Eingangsbereich zu und blieb am Trinkwasserspender stehen. Obwohl sie den Mund an den Wasserstrahl hielt, schien sie, wie Tess bemerkte, nicht zu schlucken, und ihre Augen schossen unablässig hin und her. Als nun ein weißhaariger Mann, der eindeutig nach Oberschicht aussah, mit einem Squashschläger in der Hand an ihr vorbeiging, richtete sie sich auf wie ein Schachtelteufelchen und begrüßte ihn mit süßer, klarer Stimme.

»So eine Überraschung! Ich hätte nie gedacht, dass ich Sie hier treffen würde.«

Auf der anderen Seite der Eingangshalle heuchelte Tess plötzliches Interesse für ein Poster, das den Blutkreislauf zeigte, von der Unterhaltung der beiden konnte sie aber nur Bruchstücke aufschnappen. Sie schienen sich zu kennen, allerdings nicht besonders gut. Ava war ungewöhnlich ehrerbietig, vielleicht, weil der Mann schon alt war, und hing mit den Blicken an seinem Gesicht, als wäre alles, was er sagte, ungeheuer faszinierend.

»… komme genauso gern wegen der Massagen her«, sagte soeben dieser Mann, der wie ein Patrizier aussah. Tess bemühte sich, Avas Antwort zu hören, doch da bekam sie von einer riesigen Hand einen solchen Schlag zwischen die Schulterblätter gedroschen, dass ihr der Atem stockte.

»Wollen Sie jetzt diese Dets zur Mitgliedschaft?« Dale, der Fitnessbotschafter, hatte sich hinter sie geschlichen, mit einem beunruhigend dicken Ringbuch in Händen.

»Dets?«

»Details.«

»Oh, natürlich. Ich geh nur schnell raus zu meinem Beamer und bring mein Scheckbuch mit rein.«

Scheckbuch, das Zauberwort. Beamer tat auch nicht weh.

Dale strahlte und drosch noch einmal auf Tess ein. Als sie zu ihrem Auto rannte, überlegte sie, ob er wohl alle weiblichen Kunden so behandelte oder nur die, die mindestens dreißig Zentimeter größer waren als er.

Sie wartete im Auto, bis Ava herauskam, und beobachtete sie währenddessen durch die Glasfront des Clubs. Jetzt hatte sie es offensichtlich nicht mehr eilig, so wie sie sich da mit dem Mann mit dem Squashschläger unterhielt. Lebhaft, fast flirtend, beugte sie sich ihm entgegen und berührte ihn häufig in aller Unschuld. Federleichte Berührungen an seiner Schulter, seinem Handgelenk, seiner Hand. Das alles erinnerte Tess sehr an ihre Technik beim Klauen.

Als der Mann dann endlich ging, schien Ava ihr Gesicht abzuschalten. Sie würde keine so finstere Miene machen, dachte Tess, wenn sie wüsste, dass sich dadurch tiefe Falten um den Mund und auf der Stirn bilden. Ava rannte zu ihrem Auto und schoss so schnell aus ihrem Parkplatz heraus, dass Tess sie in den engen Straßen von Federal Hill fast verloren hätte. In der Light Street holte sie sie wieder ein und folgte ihr zurück zum Eden’s Landing. Der Toyota, der sich normalerweise so anständig benahm, spuckte und gab Fehlzündungen von sich, als bettele er um Rücksicht. Tess fuhr ihn im zweiten Gang und konnte nur hoffen, dass Ava nichts mitbekam.

Sobald sie in ihrem Apartment war, ging Ava nicht mehr ans Telefon. Tess bemerkte das deshalb, weil sie sie in regelmäßigen Abständen anrief, von dem Münztelefon bei Vaccaro aus, einer Eisdiele in Little Italy, die nur einen Block entfernt lag. Nicht einmal der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Wie konnte man es nur ignorieren, wenn das Telefon zehn-, fünfzehnmal klingelte? Ava kam Tess nicht gerade vor wie jemand, der das aushält und ein läutendes Telefon einfach ignoriert. Vielleicht sprach sie auf der anderen Leitung und war so in ihr Gespräch vertieft, dass sie nicht auf das Klicken achten mochte, das anzeigte, dass ein anderes Gespräch hereinkam. Oder sie hatte den Stecker rausgezogen, damit niemand sie erreichen konnte. Damit Rock sie nicht erreichen konnte.

Tess aß ein Pistazieneis und überlegte, was sie bisher alles herausgefunden hatte. Ava klaute in Läden. Ava trainierte. Ava hatte höchstwahrscheinlich einen Silikonbusen. Und mehr Muskeln, als man denken sollte. Das sah nicht nach sehr viel aus. Es sah auch verdammt langweilig aus. Sie rechnete im Kopf zusammen, wie viele Stunden sie dazu bisher verwendet hatte – von 7:30 bis 12:30 Uhr, dann abends noch einmal zwei Stunden. Machte zusammen 210 Dollar. Langweilig, aber einträglich. Tatsächlich hätte sie gegen ein paar solche langweilige Tage nichts einzuwenden gehabt, obwohl ihr klar war, dass sie damit aufhören sollte, bevor sich ihre Stundenrechnung auf tausend Dollar belief. Sie wollte ja Rock nicht um seine Ersparnisse bringen.

Der Geliebte der Verlobten

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