Читать книгу Der Geliebte der Verlobten - Laura Lippman - Страница 4
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ОглавлениеAm letzten Abend im August ging Tess Monaghan in einen Drugstore und kaufte sich ein Schreibheft – eins mit einem schwarz-weiß marmorierten Umschlag. Das tat sie jedes Jahr im Herbst, schon seit sie sechs Jahre alt war, und sie sah auch keinen Grund, daran etwas zu ändern, obwohl inzwischen 23 Jahre vergangen waren. Ungeachtet dessen, dass sie einen Computer mit großem Speicher besaß, dem sie absolut alles hätte anvertrauen können, was sie aufzeichnen wollte, legte sie diese Gewohnheit nicht ab. Ungeachtet auch dessen, dass sie bis zum Rite Aid gehen musste, weil »Weinstein Drugs« von ihrem Großvater schon lange in den Ruin geführt worden war. Und schließlich auch ungeachtet dessen, dass sie nicht mehr zur Schule ging, keinen Job mehr hatte und das Ende des Sommers für sie wenig Bedeutung besaß. Doch Tess glaubte an Routine und Rituale. Also kaufte sie ein Schreibheft für einen Dollar neunundsechzig, nahm es mit nach Hause, schlug die erste Seite auf und schrieb:
Ziele im Herbst:
1. 60 Kilo Bankdrücken.
2. 1000 Meter in viereinhalb Minuten laufen.
3. Don Quijote lesen.
4. Einen Job finden, usw.
Sie saß an ihrem Schreibtisch und las noch einmal, was sie eben geschrieben hatte. Die ersten beiden Punkte waren machbar, wenn auch mit Anstrengung: Sie konnte die fünfzig Kilo bis zu zehnmal heben und brauchte fünf Minuten für tausend Meter. Der Don Quijote hatte sie zwar beim ersten Mal noch besiegt, aber diesen Herbst fühlte sie sich ihm gewachsen.
Punkt 4 war da schon problematischer. Vor allem würde sie sich vorher überlegen müssen, was für einen Job sie überhaupt wollte, ein Dilemma, das sie bereits seit zwei Jahren lähmte, seit nämlich Baltimores vorletzte Zeitung, der Star, eingegangen war und die nunmehr letzte Zeitung, der Beacon, sie nicht hatte anstellen wollen.
Tess schlug das Heft zu, steckte es ins Regal neben die 22 anderen – alle leer bis auf die erste Seite –, stellte den Wecker und war binnen fünf Minuten eingeschlafen. Es war der Abend vor dem ersten Schultag und die Stadt begann, die Schläfrigkeit des Augusts abzuschütteln und frisch in den Herbst einzusteigen. Vielleicht würde das ja auch Tess mitreißen.
Der Wecker klingelte sieben Stunden später, um Viertel nach fünf. Sie zog sich schnell an und lief zu ihrem Auto, wobei sie in die Luft schnüffelte, um herauszufinden, ob der Herbst in diesem Jahr zeitig einsetzen würde. Die Luft aber war bedrückend dick und zäh und scherte sich keinen Deut um Tess’ Erwartungen. Ihr elf Jahre alter Toyota, das Zuverlässigste in ihrem Leben, sprang sofort an. »Danke, mein Schatz«, sagte sie, tätschelte das Armaturenbrett und lenkte den Wagen durch die verlassenen Straßen der Innenstadt.
Auf der anderen Seite des Hafens lag das Bootshaus noch im Dunkeln. Das war morgens um halb sechs oft so, denn für den Hausmeister stellte sein mickriger Lohn keinen besonders großen Anreiz dar, das Bett zu verlassen und noch vor Tagesanbruch in Cherry Hill einzutreffen. Aus diesem Viertel waren die Obstbäume, die ihm einst den Namen gegeben hatten, längst verschwunden, und es galt inzwischen als eine zu jeder Tages- und Nachtzeit üble Gegend. Und obwohl seine sanften Abhänge einen herrlichen Blick auf Hafen und Skyline von Baltimore boten, kam doch niemand wegen der Aussicht nach Cherry Hill.
Zum Glück hatte Tess einen eigenen Schlüssel zum Bootshaus, so wie die meisten Unentwegten unter den Ruderern. Sie sperrte auf, verstaute ihren Schlüsselbund in einem Schließfach im Umkleideraum, rannte die Treppe hinunter und packte ihre Ruder, weil sie unbedingt noch vor den Collegestudenten auf dem Wasser sein wollte. Sie mochte nicht in einen Topf geworfen werden mit Leuten, die sie bei sich die J.-Crew-Meute nannte, diese grünen Jungs mit ihrem ewigen Gequassel von den Prüfungen, die sie so blendend bestanden, und den Bierfässern, von denen sie so viele angestochen hatten. Aber ebenso deplatziert fühlte sie sich unter den erwachsenen Mitgliedern des Baltimore Ruderclubs, diesen tüchtigen Berufstätigen, die nach dem Morgentraining zur Arbeit davoneilten, und zwar zu einer richtigen, im Krankenhaus und im wissenschaftlichen Labor, in der Anwaltskanzlei und an der Börse.
»Pass auf meine Schnur auf, Mädel«, rief ein Krebsfischer, dessen Stimme von der feuchten Morgenluft ganz belegt klang.
»Seh ich schon«, sagte sie, während sie ihren Alden Ocean Shell über dem Kopf balancierte und das Dock hinunterging, vorbei an dem ganzen Durcheinander der Krebsfischer, das aus Leinen, Hühnerhälsen und 35- Liter-Eimern bestand. Die Krebsfischer – Leute aus Baltimore, die ihre Sozialhilfe durch die Gaben des Patapsco River aufbesserten – hatten heute Morgen Glück, auch wenn der größte Teil ihres Fangs illegal war: eiertragende Weibchen oder Krebse, die insgesamt weniger als zwölf Zentimeter lang waren. Tess würde sie nicht verpfeifen. Ihr war das egal. Sie aß grundsätzlich nichts aus den heimischen Gewässern.
Zumindest ließ sich der Alden, der städtisches Eigentum war, leicht im Wasser aufsetzen. Die Sonne lugte gerade erst hinter der Francis Scott Key Bridge hervor, als Tess in dem kabbeligen Wasser losruderte und Kurs Richtung Fort McHenry nahm. Fast automatisch summte sie »Star-Spangled Banner«. Oh say can you see? Immer wieder ertappte sie sich dabei, hörte zu singen auf, fing dann aber ganz automatisch wieder an; schließlich ruderte sie ja auch auf die Geburtsstätte dieser Hymne zu. And the rockets’ red glare, the bombs bursting in air …
Das Wasser war an diesem Morgen sehr wellig, und das machte Tess nervös. Ein Alden kenterte zwar nur schwer, aber unmöglich war es nicht, und sie wollte unter keinen Umständen mit der trüben Brühe hier im mittleren Arm des Patapsco Bekanntschaft machen. Einmal hatte sie ein paar Spritzer Flusswasser in eine Wunde an ihrer Hand bekommen, und die war dann drei Monate lang nicht mehr zugeheilt. Am besten erst mal langsam rangehen, sich aufwärmen und die morgensteifen Muskeln entspannen und dehnen. Auf dem Rückweg konnte sie sich dann ja richtig reinlegen und wie in einem Rennen rudern.
Das war Tess’ Routine, ihre einzige, seit der Star eingestellt worden war. Sechs Tage die Woche ruderte sie morgens und lief abends. Dreimal die Woche ging sie zum Krafttraining in eine altmodische Boxschule in Ost-Baltimore. Am siebten Tag ruhte sie, weichte ihren langen Körper in einer heißen Wanne ein und träumte von einem Mann, der ihr gleichzeitig die Füße und den Nacken massieren konnte.
Auf dem College war Tess eine mittelmäßige Skullerin gewesen, die zu einem mittelmäßigen Team gekommen war, weil sie kräftig war und muskulöse Beine sowie die breiten Schultern einer Schwimmerin hatte. Der Übergang vom Skullen zum Rudern hatte ihren Stil nicht verbessert. Tess wusste, oder glaubte zu wissen, wie hässlich es aussah, wenn sie über das Wasser kroch. Wie ein Käfer in der Kloschüssel, nichts als Zuckungen und Krämpfe. Sogar jetzt, wo sie langsam hinausfuhr, runzelte sie die Stirn und biss sich auf die Zunge, so sehr musste sie sich konzentrieren. Nein, nichts an Tess sah beim Rudern natürlich aus. Sie war einfach nicht gut. Sie wollte auch gar keine Rennen gewinnen. Und doch ließ sie an fast keinem Tag das Training aus. Ihre Freunde sagten immer, es gebe einfach kein einziges eingefahrenes Gleis, das Tess nicht liebe. Das verletzte sie nicht. Es stimmte nämlich. Und ihre Liebe zur Routine hatte ihr auch geholfen, die Monate ohne Arbeit zu überstehen.
Aber an diesem Morgen, während sie versuchte, ihre Riemen flach zu halten, in einer Luft, die zum Schneiden dick war, kam ihr das alles plötzlich fadenscheinig vor. Der erste Tag im September sollte kühl sein, dachte sie, oder zumindest kühler als heute. Sie sollte in diesem Sport inzwischen gut sein, oder zumindest besser, als sie war. Ganz abrupt holte sie die Riemen ein und ließ das Boot treiben. Sie suchte den Himmel nach Regen ab, damit sie eine Ausrede hatte, aufzuhören. Dicker Nebel hing über der Skyline, aber keine Wolken. Von diesem Blickpunkt aus wirkte Baltimore einfach nur schmutzig und mutlos.
»Willkommen in Charm City«, sagte sie zu einer Möwe, die nach toten Fischen tauchte. »Willkommen in Baltimore, Süße.«
Weder Tess noch ihre Heimatstadt hatten ein gutes Jahr. Sie hatte keine Arbeit und bekam keine Arbeitslosenunterstützung. Baltimore war dabei, eine noch nie da gewesene Mordrate zu erreichen und den bisher für unschlagbar gehaltenen Rekord von 1993 zu brechen, der seinerseits einen damals für unschlagbar gehaltenen Rekord gebrochen hatte. Jeden Tag gab es einen kleinen Todesfall, die Art von Mord, die höchstens vier Absätzchen ganz weit hinten im Beacon füllte. Doch kaum jemand schien das zur Kenntnis zu nehmen oder sich gar darum zu kümmern – außer denen, die bei der Wette um die Mordziffer des Jahres mitspielten. Der Bürgermeister nannte Baltimore noch immer »Die Stadt, die liest«, aber ansonsten hatte man dieses Motto schon längst umgemodelt.
»Die Stadt, die schießt, Süße«, rief Tess der unbeeindruckten Möwe zu. Die Stadt, die verdrießt. Die Stadt, die niemand genießt. Die Stadt, die man vergisst. Nur konnte Tess das nicht, sie konnte ebenso wenig von hier weggehen, wie sie mit einem Anker um den Hals vom Grund der Chesapeake Bay hätte auftauchen können.
Während sich ihr Blick in der Ferne verlor, tauchte ein weiterer Ruderer aus dem Schatten unter der Hanover Street Bridge auf und bewegte sich so leicht und elegant auf sie zu, als wäre das Wasser eingefettetes Glas. Seine Technik war perfekt, sein Rücken breit, sein weißes T-Shirt bereits grau vor Schweiß. Sein Bild war so plötzlich aus dem Nichts hervorgeschossen wie in einem 3D-Film.
In Sekundenschnelle hatte er die Distanz zwischen ihnen verkürzt und hielt direkt auf Tess zu.
»Hinter Ihnen«, rief sie, in der Gewissheit, dass ein so sicherer Ruderer keine Schwierigkeiten haben würde, den Kurs zu ändern. Ihre Stimme trug in der Morgenstille gut, doch der Ruderer achtete nicht darauf.
»Hinter Ihnen!«, rief Tess noch einmal deutlicher, während das Boot direkt auf sie zuschoss. Ein Zusammenprall schien unvermeidlich. Aus diesem Blickwinkel hatte sie noch nie jemanden rudern sehen, hatte noch nie bemerkt, wie schnell so ein Boot sich bewegte, wenn man ihm im Weg war. Nervös begann sie mit ihren Riemen kleine nutzlose Bewegungen zu machen, um den Alden zu drehen und dem herannahenden Boot aus dem Weg zu gehen. Ihr einziger Gedanke war, den Schaden an dem fremden Boot möglichst gering zu halten, denn es sah zerbrechlich und folglich teuer aus.
Der Alden, dieses bewunderungswürdige Boot, das speziell für Anfänger entwickelt worden war, bewegte sich unter Tess so leicht und behänd wie eine große Kuh. Trotz aller Eile, mit der sie das Boot in hastigen, stümperhaften Bewegungen durch das raue Wasser zu bewegen versuchte, schien sie überhaupt nicht von der Stelle zu kommen. Verzweifelt rutschte Tess mit ihrem Sitz nach vorn und zog die Riemen so heftig durch, wie sie konnte, wobei sie die ganze Kraft ihrer Beine einsetzte. Ihr Boot schoss übers Wasser und dem herankommenden Boot aus dem Weg. Da presste der andere Ruderer die Riemen gegen den Körper und inszenierte einen perfekten Nothalt wenige Zentimeter vor der Stelle, an der sie sich eben noch befunden hatte.
Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie da war.
»Das kriegst du dafür«, schrie eine vertraute Stimme, »wenn du so lasch ruderst.«
»Vielen Dank, Rock«, schrie Tess zurück. »Vielen Dank, dass du mich zu Tode erschreckt hast. Ich dachte schon, du wärest so ein Kamikaze-Ruderer, der mich versenken will.«
»Nö. Nur dein Privattrainer, der dich dazu bringen will, dass du wirklich jeden Tag vollen Einsatz bringst. Wozu kommst du denn überhaupt hier raus, wenn du dich überhaupt nicht forderst?«
»Wozu komme ich überhaupt hier raus? Darüber hab ich gerade nachgedacht, bis ich dann wegen dir diese Überdosis Adrenalin ausschütten musste.«
Rock jedoch sah das Rudern als seine eigentliche Berufung an. An den Wochentagen beugte sich Rock, der dann Darryl Paxton hieß, von acht bis siebzehn Uhr in seiner Funktion als Forscher über eines der 20000 Mikroskope in der Johns Hopkins Medical School. Tess wusste nicht so genau, worüber er forschte, denn Rock gehörte zu den seltenen Menschen, die nie über ihre Arbeit sprachen. Rock arbeitete nur, um rudern zu können und so viel Geld wie möglich für seine einzige Leidenschaft beiseitezulegen. Er aß auch nur, um rudern zu können, schlief nur, um rudern zu können, hielt sich nur fit, um rudern zu können. Bis er sich in diesem Frühling verlobte, hatte Tess geargwöhnt, dass er überhaupt keine für das Rudern unwesentlichen Dinge tat. Es würde interessant sein, zu beobachten, wie seine Verlobte auf die Herbsttermine der wichtigsten Rennen reagierte, die Rock bis Thanksgiving zweimal täglich aufs Wasser rufen würden. Wenn die Verlobung diese Saison überlebte, dachte Tess, dann würde sie mit Freuden auf der Hochzeit im nächsten März tanzen. Vielleicht würde sie sogar mit der Braut tanzen. Schließlich sollte sie ja Brautführer sein.
Komisch, dabei hatte Tess sich zunächst von Rock ganz eingeschüchtert gefühlt. Er sah so aus, wie sich Tess einen Massenmörder vorstellte: stämmig und breit gebaut und so voller Muskeln, dass seine Haut darüber spannte. Hie und da machte sich denn auch ein Muskel selbstständig und zuckte an einer unerwarteten Stelle. Die Adern an seinen Armen waren dick und blau, als hätte er Kugelschreiber unter der Haut, und seine starken, gedrungenen Waden waren so überentwickelt, dass es aussah, als hätte er Baseball-Bälle unter die Knie implantiert bekommen. Ein angehender Arzt an der Johns Hopkins hatte einmal die Theorie aufgestellt, dass Rock aufgrund seiner Mitochondrien überhaupt keinen Schmerz empfinden könne. Tess aber wusste, dass er im Gegenteil alles nur zu tief empfand. Das sah man schon an seinem Gesicht – einem Kindergesicht, rein, arglos, mit runden braunen Augen wie eine Zeichentrickfigur.
»Du siehst ja wie Dondi aus!«, war sie vor fünf Jahren eines Morgens herausgeplatzt, als er nach einem harten Training am Dock anlegte, die blauschwarzen Haare vor Schweiß an den Kopf geklebt. Sie kannte ihn bis dahin nur vom Sehen, als einen der wenigen Einzelruderer in einem Club, der von Vierern und Achtern beherrscht wurde.
Zu ihrer Überraschung hatte das wilde Gesicht gelächelt. »Also, das war doch wirklich ein guter Comic. Wie konnte der Beacon den nur fallenlassen. Und genauso Tweedy. Ich kann immer noch nicht glauben, dass es Tweedy nicht mehr gibt.«
»Tweedy? Ach, ihr armen, benachteiligten Beacon-Leser, mit was für jämmerlichen Sachen ihr leben müsst. Der Star hat die ganzen guten Comics.«
Also waren sie zusammen frühstücken gegangen und hatten sich die Cartoons der drei Baltimorer Zeitungen angeschaut. Das war vor fünf Jahren und vor dem Aus von zwei Zeitungen gewesen. Tess war genauso wie Tweedy aus dem Zeitungswesen der Stadt verschwunden. Der Beacon, der die Light geschluckt und den Star erledigt hatte, besaß jetzt hervorragende Witzseiten, drei insgesamt, die übliche Ausbeute nach einem Zeitungskrieg. Doch Rock war noch immer ihr Freund, und ihre Beziehung lag fest verankert in der von Tess geliebten Routine – rudern, dann ein gemeinsames Frühstück in ihrem Viertel. Andere Ruderer ließen manchmal das Training ausfallen oder verschliefen oder benutzten das Wetter als Ausrede. Doch Rock, für die Nationalmannschaft nominiert, und Tess, ständig arbeitslos, blieben dem Ruderclub und einander treu.
Eingehend betrachtete sie ihren Freund, der die letzten zwei Wochen Urlaub genommen hatte, um zu rudern. Unter seiner sommerlichen Bräune sah er fahl aus, und seine Augenringe hatten sich vertieft.
»Hast du dich denn in New York nicht ein bisschen erholt? Ich dachte, das wäre der Sinn eines Urlaubs.«
Rock schüttelte den Kopf. »Diese ewigen Grillen. Und je mehr ich trainiert habe, desto schlechter konnte ich schlafen. Aber trotzdem geht es mir ganz gut.«
»Mir geht es auch ganz gut.« Das war nur eine halbe Lüge. Körperlich ging es ihr nämlich prächtig.
»Na, wenn du so gut in Form bist, wollen wir doch mal auf dem Rückweg ein Rennen machen, wer als Erster an der Glasfabrik ist. Verlierer zahlt das Frühstück.«
»Mach keine Witze. Ich würde wahnsinnig viel Vorsprung brauchen, damit es überhaupt ein Rennen wird. Wir können ja ein Autorennen auf der Hanover Street Bridge machen, wenn du unbedingt so was brauchst.«
»Ich geb dir fünfhundert Meter Vorsprung.«
»Das genügt auf dieser Strecke nicht. Du würdest mich auf halbem Weg überholen.«
»Also gut, tausend.«
»Um das Frühstück? Aber du lädst mich doch sowieso immer zum Frühstück ein.«
»Heute lade ich dich nicht ein, wenn du es nicht wenigstens versuchst.«
»Oh.« Mag ja sein, dass Armut manche Menschen adelt. Zu denen gehörte Tess jedenfalls nicht. Sie überlebte nur dank eines ausgeklügelten Systems von Nettigkeiten und Einladungen, wodurch sie knauserig und ein bisschen verwöhnt war. »Na gut, du kriegst dein Rennen.«
»Fahr, als wäre es ein wirklich wichtiges Rennen. Ich fahre nicht eher los, als bis ich dich unter der Brücke verschwinden sehe.«
Tess brachte ihr Boot in Stellung und rutschte mit ihrem Sitz nach vorn. Sie fuhr keine Rennen mehr, außer gegen sich selbst, aber die Routine war ihr zur zweiten Natur geworden.
»Leg los«, rief Rock. »Versuch, einen vollen Zehnerschlag aufzubauen.«
Das Wasser war ruhiger geworden, und so fand Tess schnell ihren Rhythmus. Sie ruderte so, wie sie es in alten Zeiten in ihrem Achter getan hatte, und folgte den Befehlen einer nicht vorhandenen Steuerfrau. Zehn Schläge lang volle Kraft, alles, was sie aufbieten konnte, dann zehn Schläge nur mit den Beinen. Sie durchfuhr den Schatten unter der Hanover Street Bridge und kam wieder ans Licht, und jetzt fühlte sie sich zuversichtlich und locker.
Da sah sie plötzlich Rock näher kommen. Sie hatte gedacht, er würde vielleicht ein wenig trödeln und ihr einen kleinen Vorteil lassen, aber Rock konnte nicht anders, als alles zu geben. Eine Art von Zuverlässigkeit, die sie nicht nachvollziehen konnte. Er durchfuhr das Wasser mit erstaunlicher Geschwindigkeit und einer so perfekten Technik, dass Tess am liebsten angehalten und ihm zugesehen hätte. Aber sie musste weitermachen. Es ging um Blaubeerpfannkuchen oder vielleicht sogar um ein Western Omelett.
Auf Höhe des Bootshauses schoss Rock an ihr vorbei. In einem Rennen zieht normalerweise ein Boot Stück für Stück an einem anderen vorbei, und der Steuermann schreit den Ruderern, die überholt werden, Beleidigungen zu. Rock dagegen schien an Tess mit einem einzigen Schlag vorbeizufliegen. Sie konnte einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen, das grimmig und fast grausam aussah, während ihm der Schweiß über die Stirn lief.
Verbissen ruderte sie weiter. Hinter sich hörte sie den Lärm der Glasfabrik, einer übel aussehenden Stätte, die Schwaden von heißer Luft über den Fluss schickte. Dort schienen immer Dutzende von Feuern zu brennen, egal, zu welcher Tageszeit man vorbeiruderte, und doch war nie ein menschliches Wesen zu sehen. Tess ruderte auf diese Feuerwand zu und legte alle Kraft in die letzten dreißig Schläge. In den Armen fühlte sie ein Stechen von der vielen Milchsäure, die sich dort in ihren Muskeln bildete, und es kam ihr so vor, als müsse jeder Schlag ihr letzter sein. Rock hatte natürlich gewonnen, aber sie musste das Rennen zu Ende bringen. Gerade als sie dachte, sie könne keine einzige Bewegung mehr machen, glitt sie an seinem wartenden Boot vorbei.
Als sie aufsah, hatte Rock sich vorgebeugt, und seine Schultern zuckten. Er verausgabte sich oft so sehr, dass er sich erbrechen musste, und Tess war daran gewöhnt, ihren Freund mit ein wenig Speichel auf dem Kinn zu sehen. Ihr selbst war auch etwas übel. Sobald sie sich wieder bewegen konnte, paddelte sie nach vorn, wobei sie sich freute, dass sie ihm so viel abverlangt hatte.
Aber Rock übergab sich gar nicht, er weinte. Vornübergebeugt, das Gesicht auf den riesigen Schenkeln, bebte er am ganzen Körper in heftigen, stillen Schluchzern. Von hinten hatte er auf Tess gewirkt wie jeder Ruderer nach einem harten Training. Aus irgendeinem Grund musste sie an Moses und den brennenden Dornbusch denken. Es war faszinierend und bizarr. Sie streckte die Hand über das Wasser und versuchte, ihn beruhigend zu tätscheln. Ihre Hand rutschte an seinem Trizeps ab, als hätte sie versucht, einen Baum oder eben einen Felsen zu streicheln, wie Rocks Name schon sagte.
»Entschuldige«, sagte er.
Tess machte sich an ihren Ruderdollen zu schaffen, verlegen und unbeholfen.
»Ava«, sagte er knapp.
Ava. Seine Verlobte. Tess hatte sie vergangenes Frühjahr bei den Rennen kennengelernt. Wenn sie dabei war, schien Rock nie gut abzuschneiden. Vielleicht war das gar nicht Avas Schuld, aber trotzdem wäre sie nicht die Frau gewesen, die Tess für ihn ausgesucht hätte. Auch nicht die Frau, die seine Mutter für ihn ausgesucht hätte, oder seine Kollegen, oder sonst jemand, dem an seinem Glück lag, da war sich Tess sicher. Ava war Rechtsanwältin, gut aussehend, tüchtig – und eine richtige Zicke, auf eine Art, die nur eine andere Frau wirklich begreifen kann. Obwohl sie sich schon dreimal gesehen hatten, konnte sie sich nie an Tess’ Namen erinnern.
Aber Tess sagte nur: »Ava?«
»Ich glaube, sie hat …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Schwierigkeiten.«
»Was für welche denn?«
»Irgendwelche, über die sie nicht reden kann. Wenn ich sie spätabends anrufe, ist sie nicht zu Hause, aber auch nicht im Büro. Sie hätte in der zweiten Woche in die Adirondacks nachkommen sollen, aber sie rief in letzter Minute an und sagte, es gebe bei ihrer Arbeit einen Notfall. Ihr Chef, dieser Abramowitz, zwingt sie, sich zu Tode zu schuften wegen dieser Asbestfälle.«
Tess konnte sich noch gut erinnern, wie stolz er gewesen war, als Ava den Job bei O’Neal, O’Connor & O’Neill bekommen hatte, und wie stolz er war, dass der extravagante neue Partner Michael Abramowitz sie zur Assistentin haben wollte.
»Aber das ist doch klar, oder? Das ›Tri O‹ ist ’ne ziemlich hoch aufgehängte Anwaltskanzlei, und diese Fälle mit dem Asbest reißen einfach nicht ab.«
»Ja, vor allem, wenn einer der wichtigsten Klienten Sims-Kever ist, der lieber eine Million Dollar Anwaltskosten zahlen würde, als auch nur einen einzigen müden Dollar Schadenersatz an so einen alten Typ, der keine Luft mehr kriegt.«
Rock zupfte an einer seiner Schwielen herum. »Die Sache ist nur, Ava war vorige Woche gar nicht bei der Arbeit. Ich habe angerufen, und die Sekretärin sagte mir, dass sie Urlaub habe. Ich bin mir aber sicher, dass es trotzdem eine ganz einfache Erklärung dafür gibt.«
»Warum fragst du sie dann nicht einfach?«
»In dieser Hinsicht ist Ava ein bisschen komisch. Wenn ich sie fragen würde, würde sie das so verletzen, dass …« Er schüttelte den Kopf, als könne Tess sich gar nicht vorstellen, wie Ava war, wenn sie sich verletzt fühlte, wie aberwitzig einschüchternd und anbetungswürdig. »Sie ist sehr empfindlich.«
Sie trieben in der leichten Strömung. Hier, in einer kleinen Bucht in der Nähe des Jachthafens, war das Wasser glatt. Tess suchte nach etwas, was sie sagen konnte, etwas, was diesem Gespräch ein Ende setzen und sie näher an ihre Blaubeerpfannkuchen bringen konnte. Avas Verhalten legte alle möglichen Vermutungen nahe, die aber alle wenig schmackhaft für Rock wären.
»Ich bin überzeugt, dass sie einen guten Grund hat«, sagte sie schließlich.
»Aber es gibt nur eine Möglichkeit, es wirklich herauszufinden.«
»Sie zu fragen? Du hast doch gerade gesagt, dass du mit ihr nicht darüber reden kannst.«
»Nein, sie zu beschatten.«
»Würde sie es nicht merken, wenn du ihr folgst?«
»Doch, natürlich«, sagte Rock. »Aber ich habe mir gedacht, sie würde es nicht merken, wenn du ihr folgst.«
»Wie könnte ich ihr folgen? Ich meine, woher soll ich die Zeit dazu nehmen? Ich weiß, ich kann mir meine Zeit einteilen, aber ich sitze trotzdem nicht den ganzen Tag in meiner Wohnung herum und sehe fern.« Das war ein wunder Punkt bei Tess. Viele Leute schienen zu glauben, arbeitslos zu sein sei einfach nur ein Spaß. Aber sie musste zwei Jobs machen, nur um über die Runden zu kommen.
»Ich würde dich bezahlen. Dreißig Dollar Stundenlohn, wie es bei Privatdetektiven üblich ist. Du wirst sicher jemanden finden, der dich für die paar Tage in der Buchhandlung vertritt.«
»Aber ich bin keine Privatdetektivin«, wandte sie ein.
»Nein, aber du warst lange Zeit Reporterin. Hast du mir nicht erzählt, wie du einmal irgend so ein großes Tier aus der Stadt beschattet hast? Und du schreibst Berichte für deinen Onkel. Das könnte so etwas wie ein Bericht sein.« Er tat so, als würde er diktieren. »›Neunzehn Uhr dreißig; sah Ava in die Hemispheris-Klinik an der Johns Hopkins gehen. Empfangsdame bestätigt, dass sie Thrombozyten für jungen Krebskranken spendet.‹ Verstehst du?«
Mein Gott, dachte sie, ihm fällt nicht einmal eine gute Geschichte ein. Es war viel wahrscheinlicher, dass Ava in die Abteilung für Geschlechtsumwandlung an der Johns Hopkins Klinik ging und Rock erst wiedersehen wollte, wenn sie ihre neue Ausstattung hatte.
Trotzdem, dreißig Dollar Stundenlohn, wenn auch vielleicht nur für fünf oder sechs Stunden, das war eine schrecklich verlockende Aussicht. Leichtes Geld. Wenn Ava nichts anstellte, würde Tess einen Freund glücklich machen. Wenn Ava Böses im Schilde führte, würde sie dafür bezahlt, einen Freund vor einem verheerenden Fehler zu bewahren.
»Einen besseren Computer«, säuselte Rock. »Autoreparaturen. Eine erste Rücklage für ein eigenes Boot, damit du nicht immer auf diese Scheißteile hier angewiesen bist.«
Tess stellte bei sich eine andere Liste zusammen: ein Paar Ohrringe, die ausnahmsweise einmal nicht aus dem Dritte-Welt-Laden kamen. Lederstiefel, samt Sohlen. Studiengebühren. Aber sie schob diese Gedanken wieder beiseite und versuchte, den Haken an der Sache zu finden.
»Warum nimmst du dir nicht einen richtigen Privatdetektiv, wenn du schon so einen Preis bezahlen willst?«
Rock blickte über den Fluss, als sei er plötzlich von den drei kleinen Kindern völlig in Anspruch genommen, die am nördlichen Ufer herumwateten.
»Ein richtiger Privatdetektiv wäre schäbig«, sagte er langsam, als müsse er sich die Antwort erst selbst noch zurechtlegen. »Es geht hier um einen Gefallen unter Freunden. Ich biete dir deshalb an, dich zu bezahlen, weil ich weiß, dass deine Zeit wertvoll ist. Und weil ich weiß, dass du nie genug Kohle hast.«
Als Freiberuflerin setzte Tess ihren Stundenlohn bei 20 Dollar an, arbeitete aber oft auch für weniger. Als Staatsangestellte mit Vertrag verdiente sie zehn Dollar pro Stunde. Ihre Tante versorgte sie mit Essen, zahlte ihre Krankenkasse und gab ihr sechs Dollar die Stunde für die Arbeit im Buchladen. Noch nie hatte jemand den Wert ihrer Arbeit auf dreißig Dollar pro Stunde geschätzt.
»Wo arbeitet Ava denn?«, fragte sie.
Er lächelte. Er sah wirklich wie Dondi aus, nur hatte er keinen so leeren Blick.
»Das erzähl ich dir alles bei Jimmy’s.«