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An diesem Abend lief Tess ihre anstrengendste Route.

Sie rannte die Boston Street hinunter und in die Canton hinein. Vorbei an den teuren Eigentumswohnungen, die man direkt am Wasser hochgezogen hatte, als die Canton Street noch als das heiße Viertel der Zukunft galt. Dazu war es nie so richtig gekommen, und so standen nun lediglich einige hohe Wohnblocks zwischen den Reihenhäusern wie ein paar Gullivers im Lande Lilliput. Es wäre doch reizend, dachte Tess, wenn die Bewohner eines Morgens aufwachen würden und feststellen müssten, dass ihre teuren Behausungen über Nacht am Boden festgepflockt worden waren und dass nun all die um sie herumschwärmten, die bisher in ihrem Schatten gewohnt hatten.

Sie erhöhte ihr Tempo. Obwohl die Sonne schon untergegangen war, herrschte noch Schwüle, und ihr lief der Schweiß herunter. Sie hatte gehofft, dass ein tüchtiger Lauf sie abkühlen und ihre Gedanken klären würde, aber sie fühlte sich immer noch vergammelt und schmutzig, fest im Griff von miesem Essen und miesen Gedanken. Die vielen Pizzastücke und Hotdogs der letzten Woche schwitzten ihr aus den Poren, und in ihrem Kopf drängten sich die unangenehmen Bilder. Sie sah Ava Reizwäsche in ihre Aktentasche schieben, sah den großen Kopf von Michael Abramowitz, der auf seinem winzigen Körper schwankte wie ein unhandlicher Luftballon, als er zu seiner Verabredung mit Ava durch die Lobby des Renaissance Harborplace hüpfte.

Sie hatte mit ihrer instinktiven Abneigung gegen Ava recht gehabt, aber das bereitete ihr wenig Freude. Wie hatte sie nur so dumm sein können, diese Situation nicht vorherzusehen? Denn Kitty hatte das alles ja nur zu deutlich erkannt. Von Anfang an hatte Tess gehofft, dass Ava Übles im Schilde führte, und hatte es genossen, dass sie die Möglichkeit bekam, es zu beweisen, in dem Glauben, es sei eine gute und nützliche Tat, Rocks Verlobung zu lösen. Sie hatte sich zwar vorstellen können, wie es wäre, Ava zu beschatten, und hatte es am Schluss sogar genossen. Sie hatte sich die langen Stunden damit vertrieben, zu überlegen, was sie mit dem Geld anstellen wollte, das Rock ihr gab. Aber sie hatte sich niemals vorgestellt, wie es wäre, Rock darüber Bericht zu erstatten.

Bei dem Gedanken an Rocks Gesicht rannte sie noch schneller.

Sie konnte es nicht, nicht für alles Geld der Welt. Aber auf ihre Bezahlung wollte sie auch nicht verzichten. Und sie wollte auch, dass Rock erfuhr, was sie entdeckt hatte, nur, es ihm zu sagen, diese Verantwortung wollte sie nicht übernehmen.

Es gab nur eine Möglichkeit. Ava musste es gestehen, und Tess würde sie irgendwie dazu manipulieren müssen.

Zu Hause in ihrer Wohnung, frisch geduscht und mit Talkum bepudert, wählte Tess Avas Telefonnummer. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Sie wollte gerade auflegen, da hatte sie eine plötzliche Inspiration. Sie wusste, was Ava dazu bringen würde, ans Telefon zu gehen, falls sie denn zu Hause war und mithörte.

»Miss Hill?«, fragte sie mit der hellen, fast zu klaren Stimme eines Collegemädchens, mit einer Stimme, die am Ende eines jeden Satzes sogar noch höher wird.

»Hier spricht Denise von Nordstrom? Ich habe Sie bedient, als Sie zum letzten Mal bei uns waren? Also, ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir einen ganz besonderen Ausverkauf von Donna-Karan-Artikeln machen, einen Ausverkauf, den wir nur unseren ganz besonderen Kundinnen zwei Tage vorher ankündigen, und ich wollte Sie jetzt nur über die Einzelheiten informieren? Wir geben auf einige Herbstkostüme bis zu 75 Prozent Rabatt?«

Ava nahm ab. »Ja, ich bin da. Haben Sie noch ein paar in Größe vier?«

Völlig überwältigt von dem Erfolg ihres Plans, bemerkte Tess, dass sie sich den nächsten Schritt gar nicht überlegt hatte. Sie kehrte zur Wahrheit zurück.

»Eigentlich bin ich gar keine Verkäuferin bei Nordstrom. Ich bin Privatdetektivin – jedenfalls so etwas Ähnliches, und ich habe Sie beschattet. Ich glaube, es wäre in Ihrem Interesse, wenn Sie sich mit mir treffen würden.«

Ava legte auf. Tess rief wieder an und hatte wieder den Automaten am Apparat, aber sie wusste, dass Ava daneben stand und horchte.

»Ich habe da so ein paar Informationen, Miss Hill«, sagte sie und konnte nur hoffen, dass ihre Stimme kühl und erfahren klang. »Informationen über Ihre … Betätigungen in der Mittagspause. Informationen, die ich meinem Klienten weitergeben werde, wenn Sie sich nicht mit mir treffen.«

Sie spürte, dass Ava dort drüben, nur ein paar Straßen entfernt, wartete und überlegte. Nach einer Woche Beschattung fühlte sich Tess ihrer Beute seltsam nahe. Sie mochte sie zwar trotzdem nicht, aber sie spürte etwas Trauriges und Kaputtes an ihr, wodurch sie schwerer zu hassen war. Sie wollte Avas Version der ganzen Geschichte hören, auch wenn sie bezweifelte, dass sie sie würde glauben können. Aber davon sagte sie ihr nichts, sie sagte überhaupt nichts mehr, während sie darauf wartete, dass die Verbindung mit einem Piepen unterbrochen würde.

Ava nahm ab, unmittelbar bevor das Band des Anrufbeantworters zu Ende war. »Am Sonntag«, sagte sie. »Um acht Uhr abends. Früher kann ich nicht.«

»Gut. Dann treffen wir uns im Point.«

»Im Point?«

»Das ist eine Bar, auch bekannt unter dem Namen Spikes Taverne, draußen an der Franklintown Road, ungefähr dort, wo die Interstate 70 endet.«

»Ich werde es bestimmt finden. Ich bin gespannt darauf, Sie zu sehen. Ich habe noch nie einen weiblichen Schnüffler kennengelernt.« Und sie knallte den Hörer wieder auf.

Soll sie ruhig diese Runde für sich verbuchen, beschloss Tess. Die nächste gewinne ich. Sie setzte sich an ihren Computer und schrieb zwei Theaterstücke, beide mit nur zwei Darstellern. Tess und Rock. Tess und Ava. Der einzige Trick dabei würde sein, dass man die Darsteller dazu brachte, einem Text zu folgen, von dessen Existenz sie noch gar nichts wussten.

Am nächsten Morgen, einem bewölkten Samstag, nahm sie Rock bei der Hand, als sie zusammen das Jimmy’s verließen.

»Komm, gehen wir ein bisschen spazieren«, sagte sie. Sie hatten beim Frühstück nicht über Ava gesprochen. Sie hatten jetzt zehn Tage lang nicht über Ava gesprochen, was hieß, dass sie praktisch aufgehört hatten zu reden. Es war einfach das einzige Thema auf der Welt.

»Weißt du etwas?«, fragte er.

»Ja, aber es ist nicht gerade einfach, es dir zu sagen.«

Er schluckte schwer und wurde unter seiner Sonnenbräune ganz blass. Tess führte ihn den Kai hinunter bis zu einer kleinen Bank, von der aus man den ganzen Hafen überblicken konnte.

»Ich habe Ava jetzt fast eine Woche lang praktisch ununterbrochen beobachtet. Ich glaube, ich weiß, was mit ihr los ist.«

Rock ließ keinen Blick von ihr, brachte aber kein Wort heraus. Er erinnerte Tess an einen alten Hund, der darauf vertraut, dass ihn sein geliebtes Herrchen nicht einschläfern lassen wird – bis Herrchen einfach keine andere Wahl mehr hat.

»Sie klaut in Läden. Kleinigkeiten, Sachen, die sie nicht einmal brauchen kann. Ich habe gesehen, wie sie Unterwäsche und Hemdchen eingesteckt hat, und zwar Sachen, die nicht mal ihre Größe hatten.«

Wie erwartet war das für Rock eine Erleichterung. Er seufzte, und die Luft entströmte seiner gewaltigen Lunge, als habe er sie tagelang angehalten. Diese Sache war zwar schlimm, aber doch bei Weitem nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Er konnte damit umgehen. Er konnte ihr helfen. Er richtete sich auf, um etwas zu unternehmen.

»Ich bin sicher, dass sie droben im Phipps jemanden haben, der sich mit Kleptomanie auskennt«, sagte er und bezog sich damit auf die psychiatrische Abteilung an der Johns Hopkins. Tess wandte den Kopf ab, damit er nicht sah, dass sie lächelte. Er war so vorhersehbar. Natürlich war er sofort zu dem Schluss gekommen, dass Avas Diebstähle eine Krankheit und somit heilbar waren. Auf dieser Reaktion fußte ihr ganzer Plan.

»Ich habe mich schon erkundigt. Dr. Hauer ist der führende Experte für diese Art von Krankheit.« Diese Lüge bedrückte sie nun doch ein wenig, wie sie sie hier so glatt einem vertrauensvollen Freund servierte, aber zumindest der Name stimmte, sie hatte ihn aus einem ärztlichen Ratgeber, den die Johns Hopkins jedes Jahr an die Presse verteilte.

»Ich habe schon von ihm gehört. Er hat einen ausgezeichneten Ruf.«

»Ja, das stimmt. Aber seinen Rat zu befolgen, könnte dir trotzdem schwerfallen. Er sagt, es sei ganz wichtig, sie damit momentan nicht zu konfrontieren. Ich habe ihm geschildert, was ich beobachtet habe, und er sagte, seiner Meinung nach sei sie kurz vor der Krise. Wenn du jetzt ein wenig Geduld hast, wird sie sich dir bald anvertrauen.«

»Aber wenn sie geschnappt wird? Das könnte ihre Karriere ruinieren. Sie würde niemals als Rechtsanwältin zugelassen.«

Tess hatte auch diese Frage vorhergesehen. »Ich glaube nicht, dass das passiert. Dass sie geschnappt wird, meine ich. Ich habe sie doch nur deswegen ertappt, weil ich sie schon beobachtet habe, Rock. Die Verkäuferinnen beobachten sie ja nicht. Sie ist gut gekleidet, sie sieht wie eine nette, berufstätige junge Frau aus. Die sind viel zu sehr mit den Kids beschäftigt, die Schule schwänzen, als dass sie jemanden wie Ava beobachten würden. Aber falls sie tatsächlich eingesperrt wird, sagt Dr. Hauer, dann könne er erreichen, dass die Anzeige fallen gelassen wird. Das macht er ständig.«

Eine lächerliche Behauptung. Kein Psychiater, wie hoch angesehen er auch sein mochte, konnte bei der Polizei erreichen, dass eine Anzeige fallen gelassen würde. Aber Tess rechnete mit Rocks Mangel an Erfahrung mit Polizeibeamten und mit Freilassungen auf Kaution.

Trotzdem war er nervös. Sie wusste, dass es Rock schwerfallen würde, nichts zu tun. Dies war der riskanteste Punkt ihres Plans – Rock davon abzuhalten, dass er Ava vor morgen Abend auf diese Sache ansprach.

Sie ergriff seine Linke mit beiden Händen. Die Handfläche war dick mit Hornhaut gepolstert. Die Hand eines Ruderers. Es war, als hätte man einen riesigen Topfreiniger in der Hand.

»Vertrau mir«, sagte sie, in dem Bewusstsein, dass sie sein Vertrauen gar nicht mehr verdiente. »Gib der Sache eine Woche Zeit. Wenn sie bis dahin nicht zu dir gekommen ist und dir alles erzählt hat, dann gehen wir über zu Plan B.«

»Plan B?«

»Eine Intervention, wie sie auch bei Drogenabhängigen üblich ist. Aber erst in einer Woche. Versprochen?«

»Na ja, wenn Dr. Hauer das für das Richtige hält … ich rede mit ihr nicht darüber, jedenfalls eine Woche lang. Du hast mein Wort.«

Und sein Wort, das wusste Tess, war wirklich etwas wert. Es war genauso verlässlich wie der Scheck, den er ihr in die Hand drückte, über 1080 Dollar. Ihr erster Einakter war ohne Zwischenfall über die Bühne gegangen. Jetzt musste sie nur noch den zweiten in Szene setzen und aufführen. Mit Fortsetzungsgeschichten war das immer so eine Sache.

Tess war schon monatelang nicht mehr im Point gewesen, und Spike erinnerte sie auch sofort daran.

»Hey, Tesser, na, kommst du auch wieder mal deinen alten Onkel Spike besuchen? Magst du immer noch so gerne Mozzarella-Sticks? Ich sag dir was. Extra für dich lasse ich jetzt Tommy frisches Öl nehmen. Und ein Rolling Rock Bier, stimmt’s? In der Flasche, ohne Glas. Siehst du, ich weiß noch alles, auch wenn du mich so selten besuchst.«

»Du hast wirklich ein großartiges Gedächtnis, Onkel Spike. Von wem hast du das nur geerbt?«

»Ich hab von niemand nix geerbt, Tesser. Das weißt du doch.« Er drehte dem Spiel der Orioles den Ton ab und verschwand in der Küche, um ihre Mozzarella-Sticks persönlich zu überwachen.

Spike war ein Verwandter, aber niemand wusste, von wem, denn keine der beiden Familien erhob Anspruch auf ihn. Tess’ Vater behauptete immer mit Überzeugung, dass er ein Cousin aus einem schwachen Zweig des Weinstein-Stammbaums sei. Ihre Mutter hielt dagegen, dass sie ihm bei ihrer Einheirat in die Familie Monaghan zum ersten Mal begegnet sei. Spike selbst ließ nichts über die verwandtschaftliche Beziehung verlauten, obwohl er dem Aussehen nach am ehesten etwas mit Oma Weinsteins Spaniels zu tun hätte haben können. An Spike, mit seinem blassen Gesicht und seiner erstaunlichen Menge von Leberflecken, war vor allem sein Kahlkopf bemerkenswert, der in einer Spitze endete. Daher der Name seines Lokals, das überall an den Wänden Scherenschnitte seines kahlen Kopfes zeigte, die der Tellerwäscher aus schwarzem Tonpapier ausgeschnitten hatte.

Tess liebte ihn und seine Bar heiß und innig. Als sie fünfzehn war, hatte er ihr eine unbegrenzte Einladung für den Point ausgesprochen, wobei er zu ihr gesagt hatte, dass es wichtig sei, das Trinken unter Leuten zu lernen, denen man vertrauen kann.

»Wenn du hier zu viel trinkst, ist das Schlimmste, was dir passieren kann, dass du auf meinem Sofa aufwachst und ein paar Brösel auf dich gefallen sind«, sagte Spike. »Wenn du aber dort draußen zu viel trinkst …«, er zeigte mit dem Kinn auf die Welt jenseits der Franklintown Road, ließ sich aber nicht dazu herab zu erklären, was einem betrunkenen jungen Mädchen dort draußen alles passieren konnte. Unfälle jedenfalls, sowohl im Straßen- als auch in anderem Verkehr.

Spikes Plan, so unorthodox er war, funktionierte gut. Als Tess aufs Washington College ging, wusste sie bereits ganz genau, wie viel sie vertrug. Es war erstaunlich viel. Die Männer, mit denen sie ausging, waren weit eher als sie in Gefahr, umzukippen. Manche taten das gelegentlich auch. Als wirkliche Dame nutzte sie solche Situationen natürlich niemals aus.

Für heute Abend hatte sie sich Spikes Taverne ausgesucht, weil sie hoffte, dass dieses Lokal Ava verunsichern würde. Sie war im Begriff, ihr zweites Rolling Rock zu bestellen, als Ava kam, mit zehn Minuten Verspätung und ohne sich dafür zu entschuldigen. Sie stolzierte herein, in einem weißen Body, einem türkisfarbenen Miniröckchen, Wildlederstiefeln und einer Lederjacke. Ihr schwarzes Haar war auf ihrem Kopf zu einem Pferdeschwanz aufgesteckt, der wie ein Geysir in die Höhe stand. Etwas Ähnliches hatte man hier im Point noch nie gesehen. Einer der älteren Männer fiel von seinem Barhocker, als Ava an ihm vorbeiging.

»Darauf brauchen Sie sich nichts einzubilden«, sagte Tess zu ihr und blickte auf George, der auf dem Boden saß. »Das macht der immer.«

»Ich kenne Sie doch«, sagte Ava, aber ihr Blick verriet Tess, dass sie nicht wusste, wo sie sie hintun sollte. Sie hatten sich nur ein paarmal gesehen. Rocks Leben war sehr klar unterteilt, und Ava hatte wenig Interesse am Rudern gezeigt, das rein zufällig der einzige Sinn seines Lebens war.

»Vielleicht glauben Sie, dass Sie mich kennen, weil ich Sie schon so lange beschatte. Wahrscheinlich haben Sie mich mehrmals gesehen, das aber bis jetzt gar nicht registriert. Ich habe nämlich festgestellt, dass Sie auf die Welt um sich herum nicht sehr achtgeben.«

Ava rutschte ihr gegenüber auf die Bank und setzte sich so, dass nur ein winziger Streifen ihres winzigen Hinterns mit dem verschmierten, aufgeplatzten Vinyl in Berührung kam. Sie warf einen Blick auf die Speisekarte, schauderte ein wenig und legte sie beiseite. Tess hatte eigentlich vorgehabt, ihr die Kalbskoteletts zu empfehlen, weil sie gerne gesehen hätte, wie Ava das gummiartige Fleisch zu schneiden versuchte. Sie hoffte außerdem, Ava werde einen Chardonnay bestellen. Der Weißwein im Point schmeckte wie Essig, und zwar wie schlechter Essig.

Aber Ava wusste instinktiv, was das Richtige war, sogar am falschen Platz. Sie orderte – das Wort war Tess noch nie so passend vorgekommen wie hier – ein Black Label vom Fass, nahm sich einen Mozzarella-Stick von Tess’ Teller, lehnte sich dann zurück und hob eine Augenbraue. Du bist dran, sagte die Augenbraue.

Gut, dachte Tess, ich habe meine Zeit auch nicht auf der Straße gefunden.

»Ich besitze Informationen darüber, dass Sie ein Verhältnis mit Michael Abramowitz haben.«

Ava sah überrascht aus, aber nur sekundenlang. Dann lächelte sie Tess mit aller Macht an. »Informationen? Schon möglich. Aber haben Sie auch Beweise?«

»Natürlich.«

»Tatsächlich? Die würde ich ja gerne sehen, oder hören. Ich hoffe, ich komme auf den Fotos gut raus.« Sie nippte vorsichtig an ihrem Bier.

»Meine Beweise bekommt mein Klient. Trotzdem bin ich an jeder Erklärung interessiert, die Sie eventuell zu geben wünschen.«

Ava aß noch einen Mozzarella-Stick und ließ sich dabei viel Zeit. Sie schien währenddessen etwas zu überlegen und sprach erst wieder, nachdem sie das letzte Stück geschmolzenen Käse gegessen und sich die Lippen mit einer Serviette abgetupft hatte.

»Wissen Sie, als Sie mich anriefen, dachte ich, ich wüsste, für wen Sie arbeiten, aber die Person, an die ich dachte, hätte jemand Fähigen beauftragt, jemanden, der weiß, wie man so etwas angeht – vorausgesetzt, da wäre etwas anzugehen. Also, für wen arbeiten Sie?«

»Sagen Sie mir doch, für wen Sie glaubten, dass ich arbeite, und ich sage Ihnen, ob Sie recht hatten.«

»Ich bin gar nicht sicher, ob Sie überhaupt für jemanden arbeiten. Vielleicht sind Sie ja nur eine schmutzige kleine Erpresserin und arbeiten für sich selbst.«

»Ich arbeite für Darryl Paxton. Das ist Ihr Verlobter, soviel ich weiß. Jedenfalls hält er sich dafür.«

»Na, das gefällt mir ja«, sagte Ava. »Ich dachte immer, Verlobte würden einander vertrauen.« Sie sah verletzt aus, aber auch ein bisschen erleichtert. Wen hatte sie denn ursprünglich in Verdacht gehabt? fragte sich Tess. Abramowitz, der dafür bekannt war, dass er um seiner Karriere willen geradezu mönchisch lebte, war sein Leben lang Single gewesen. Er hatte keine Ehefrau, die ihm nachschnüffeln konnte.

»Verdient eine Frau das Vertrauen ihres Verlobten, wenn sie eine Affäre hat?«

»Verdiene ich es, diese Unterhaltung über mich ergehen lassen zu müssen, wenn Sie gar keine Beweise haben?«

»Ich sagte doch schon, dass ich welche habe. Ich folge Ihnen schon längere Zeit. Ich habe Sie mit ihm im Renaissance Harborplace gesehen. Ich habe Sie in der Galerie gesehen. Stehlen Sie die Unterwäsche, um sie für Ihren Chef zu tragen? Oder ist das nur ein Hobby, das nichts damit zu tun hat?«

Das ging ihr schon stärker an die Nerven, wie Tess sofort erkannte. Seinen Verlobten zu betrügen war so eine Sache, aber es hielt einen nicht davon ab, seine Zulassung als Rechtsanwältin zu bekommen. Als Ava jetzt wieder aufschaute, hatte sie Tränen in den Augen, und ihre Lippen zitterten. Spar dir das dafür, wenn du das nächste Mal wegen überhöhter Geschwindigkeit erwischt wirst, dachte Tess.

»Werden Sie das Darryl erzählen?« Tatsächlich zitterte auch ihre Stimme.

»Dafür werde ich bezahlt. Er hat mir den Auftrag gegeben, herauszufinden, warum Sie sich so seltsam benehmen. Ich glaube, ich weiß die Antwort.«

»Aber Michael hat nichts damit zu …«, fing sie an, hielt dann aber abrupt inne und nahm wieder ihren normalen, überheblichen Gesichtsausdruck an. Auch ihre Stimme änderte sich wieder und klang plötzlich amüsiert und ungezwungen.

»Natürlich müssen Sie ihm das erzählen«, stimmte sie zu. »Aber erst muss ich selber mit ihm reden.« Tess lächelte, eine Dramaturgin, die glücklich die Schlusspointe herannahen sah. Aber dass die Hauptdarstellerin ganz von selber so gut improvisieren würde, das hatte sie nicht vorhersehen können.

»Ja, ich rufe ihn an und erzähle ihm, dass mein Chef von mir verlangt hat, dass ich mit ihm schlafe, sonst hätte ich meinen Job nicht behalten. Ich erzähle ihm, dass das alles ganz ähnlich wie bei Anita Hill ist und dass es mich völlig fertiggemacht hat, deswegen habe ich auch mit dem Stehlen angefangen. Darryl wird mir glauben, und er wird mir verzeihen. Es ist ganz egal, was Sie ihm erzählen.«

»Sie sind doch Anwältin. Ich nehme an, wenn Sie tatsächlich sexuell belästigt worden wären, würden Sie damit ein wenig geschickter umgehen, als Sie es tun.«

»Haben Sie von diesem Fall in Philadelphia gehört? Eine Anwältin hat ihren berühmten Partner verklagt, und die Geschworenen haben zu ihren Gunsten geurteilt, sprachen ihr dann aber keinerlei Schadenersatz zu. Was nutzt das? Ein Opfer verdient Wiedergutmachung, finden Sie nicht auch?«

»Sind Sie ein Opfer?«

»In diesem Fall ist das Ansichtssache, und ich finde, ich bin eins«, sagte Ava. Sie stand auf und nahm ihre Tasche eng an sich, machte aber keinerlei Anstalten, Geld für ihr Bier auf den Tisch zu legen. »Vielleicht würde mir ein Gericht nicht zustimmen, aber Darryl wird es tun, da bin ich mir sicher. Und er ist das einzige Geschworenengericht, das ich überzeugen will.«

Tess war völlig durcheinander und unfähig zu antworten. Sie hatte angenommen, Ava würde davoneilen, um Rock ihre Version zu erzählen, und sich damit ihr eigenes Grab schaufeln, indem sie zu viel enthüllte. Sie hatte damit gerechnet, dass Ava ihre Affäre mehr zu schaffen machte als ihr Drang zu Ladendiebstählen. Aber in ihrer Version war der Sex, der aufgezwungene, der Grund für ihre Diebstähle. Und wenn Rock ihr jetzt glaubte? Und wenn sie tatsächlich die Wahrheit sagte?

George fiel wieder vom Barhocker, als Ava an ihm vorbeiging, und riss sie mit sich zu Boden. Das Durcheinander von Gliedmaßen amüsierte Tess nun doch ein wenig, aber Ava war in der Lage, sogar unter einem 150 Kilo schweren, manchmal inkontinenten Alkoholiker so viel Kühle zu bewahren wie Fürstin Gracia Patricia. Als sie aufstand und ihren nicht mehr ganz so weißen Body zurechtstrich, sah sie selbstsicher und unberührbar aus.

»Auf die Plätze, fertig, los«, rief sie über die Schulter. Bis Tess begriff, was sie meinte, und zur Tür des Lokals rannte, war Ava schon in ihrem silberfarbenen Miata und betätigte das Autotelefon, während sie den Parkplatz verließ und unerlaubterweise nach links abbog.

Der Geliebte der Verlobten

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