Читать книгу Die Nacht der Delfine - Lauren St John - Страница 10

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Innerhalb weniger Stunden hatten die kräftigen, salzigen Winde des Kaps und der bloße Anblick des saphirblauen, gegen die Küste brandenden Meers Martines böse Ahnungen wie weggefegt. Es kam ihr auch entgegen, dass sie gar keine Zeit zum Nachdenken hatte. Nach einem Besuch in der Pinguinkolonie von Simon’s Town, dem größten Marinestützpunkt Südafrikas, und einem Picknick mit Mangosaft und Sandwiches mit geräuchertem Barrakuda ließ Miss Volkner die ganz große Überraschung platzen. Noch vor der Sardinenwanderung würden sie zur sogenannten Shark Alley fahren, um dort Touristen beim Käfigtauchen mit Weißhaien zu beobachten.

Haigasse! Schon der Name ließ Martine erschauern. Es war ihr sofort klar, dass sie einen Vorwand haben musste, um von diesem Ausflug verschont zu werden – eine Lebensmittelvergiftung zum Beispiel. So würde sie der Gefahr aus dem Weg gehen, dass ihr Albtraum Wirklichkeit werden könnte und sie sich in einer bewegten blauen Bucht inmitten von Haien tummeln müsste. Doch dann wurde ihr schnell klar, dass eine vorgetäuschte Krankheit in diesem Stadium der Reise, noch bevor sie an Bord des großen Schiffes gegangen waren, unweigerlich zur Folge hätte, dass man sie nach Sawubona zurückschicken würde, zu ihrer Großmutter. Da waren ihr selbst Haie noch lieber.

Wenig später durchpflügte das Tiefseefischerboot Prowler IV die kabbelige See mit ihren weißen Schaumkämmen. Auch Martine war an Bord gegangen und bereute es nicht, ihren Ängsten widerstanden zu haben, die ihr im Nachhinein lächerlich vorkamen. Schließlich war es keineswegs so, dass sich alle Träume verwirklichten. Einmal hatte sie zum Beispiel geträumt, sie habe vergessen, ihre Schuluniform anzuziehen und dies erst beim Betreten der Schule bemerkt. Und sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, je etwas Derartiges auch nur im Entferntesten erlebt zu haben.

Und die Höhlenmalerei bedeutete vielleicht nur, dass sie in nächster Zeit viel von Haien und Delfinen umgeben sein würde. Das traf ja durchaus zu. Vielleicht hatten die Buschmänner einfach vergessen, das Schiff zu malen. Auf jeden Fall beschloss Martine, sich nicht weiter den Kopf zu zermartern und stattdessen den Tag zu genießen. Eigentlich konnte ja gar nichts schiefgehen, denn die Sicherheitsvorkehrungen auf der Prowler IV waren äußerst streng. Jedes Mal, wenn das Boot auf eine Welle auffuhr, spürte Martine die hochschießende Gischt wie Nadeln auf ihrem Gesicht, doch solange sie nicht über Bord fiel, bestand eigentlich keine Gefahr, dass sie im Meer untergehen könnte.


Auf der Felseninsel Geyser Rock lebten eine Kolonie von rund 40.000 Pelzrobben und Hunderte von Brillenpinguinen. Die Robben ließen sich von Fels zu Fels plumpsen, bellten, heulten und posierten mit ihren Schnauzen und Barthaaren einmal nach links und einmal nach rechts für die Touristenkameras. Ihre Körper glänzten im diesigen Sonnenlicht, als wären sie aus Bronze.

«Leckerbissen für Haie», spaßte Greg, der Kapitän der Prowler IV, ein mit Sommersprossen übersäter Südafrikaner mit kupferbraunem Seemannsbart. «Das hier ist die Ausgehmeile der Großen Weißen.»

Martine zuckte bei dieser Vorstellung innerlich zusammen. Es machte sie traurig, doch sie wusste andererseits auch, dass eine Überpopulation von Robben, die alle um Raum, Paarungspartner und Nahrung im Wettstreit wären, das sichere Ende der Kolonie bedeuten würde. Die Robben brauchten die Haie ebenso sehr, wie die Haie die Robben brauchten.

Wegen des leckeren Schmauses, der sich ihnen hier bot, bevölkerten Weißhaie den seichten Kanal zwischen Dyer Island und Geyser Rock, und um das mitzuerleben, kamen Touristen aus aller Welt zum Käfigtauchen dorthin. Martine wusste nicht genau, wobei es beim Käfigtauchen eigentlich ging, bis ihnen Greg erklärte, dass das Käfigtauchen für Naturliebhaber und Adrenalinsüchtige gleichermaßen eine einzigartige Gelegenheit bot, mit den gefürchteten Meereskillern auf Tauchstation und Tuchfühlung zu gehen. Es gab verschiedene Techniken, doch meistens wurden Stahlkäfige aus zwölf Millimeter dickem galvanisiertem Maschendraht verwendet. Diese zylindrischen Körbe, in die bis zu vier Menschen passten, wurden dann mitten zwischen die fressenden Haie hinuntergelassen, meistens nicht viel tiefer als ein Meter unter der Wasseroberfläche.

Die Naturschützer seien in Sachen Käfigtauchen geteilter Meinung, sagte Greg. Während die einen die Theorie verträten, dass das Käfigtauchen das Verhalten der Haie veränderte und damit das Risiko von Haiattacken an Badestränden erhöhte, seien die anderen – so auch er selbst als bekennender Haifreund – überzeugt, dass der Kontakt mit Haien in ihrer natürlichen Umgebung den Menschen zeigen könnte, wie einzigartig diese Tiere sind. Filme wie Der Weiße Hai hätten die Meerestiere zu Bestien gemacht, dabei fräßen viele Haie nur Plankton, und auch die Großen Weißen griffen nur äußerst selten Menschen an. Die meisten Unfälle ereigneten sich, wenn Surfer oder Schwimmer von Haien für Robben oder Fische gehalten wurden.

Greg unterbrach seine Erklärungen, um die Prowler IV neben ein kleineres Boot zu manövrieren, das bereits in der Shark Alley festgemacht hatte. An Bord waren zehn Touristen: drei japanische Geschäftsleute, zwei Deutsche und eine Gruppe jovialer Amerikaner – alle mit Hollywoodgebiss. Sie hatten den ganzen Morgen beim Inseltörn verbracht und waren in bester Stimmung. Nun stiegen sie auf die Prowler IV um, auf der es jetzt etwas eng wurde, und tranken Kaffee und südafrikanischen Rooibostee aus großen Tassen, um sich für das bevorstehende Tauchabenteuer zu stärken. Martine unterhielt sich mit Norm und Mary Weston, einem Ehepaar aus Florida, das mit dieser Urlaubsreise Norms Ruhestand nach einer langen Karriere als Staubsaugerverkäufer feierte.

«Wir haben uns gesagt: So, jetzt machen wir einmal all das, wofür wir früher zu wenig Mut oder zu wenig Geld hatten», meinte Mary augenzwinkernd zu Martine. «Norm fragte mich, ob ich es nicht einmal mit Käfigtauchen probieren wolle. Darauf sagte ich ihm: ‹Darling, du darfst dich liebend gerne mit Haien im Wassern tummeln, wenn du mich zum Bungee-Jumping und Riverrafting lässt.›»

Martine machte das Gespräch mit den Amerikanern Spaß, doch als Norm den dicken Taucheranzug, Handschuhe und Stiefel anzog, um sich gegen das eiskalte Winterwasser zu schützen, spürte sie, dass sich hinter Marys Kühnheit auch eine gehörige Portion Angst versteckte. Die Sonne war in den Wollknäueln einer Wolkenbank verschwunden, und das Meer war mehr grau als blau. Es sah nicht besonders einladend aus.

In der Zwischenzeit hatte Greg eine Mischung aus gemahlenen Fischköpfen und anderen übelriechenden blutigen Zutaten, die man Chum nannte, ins Meer geschüttet, um die Haie zu ködern. Dann half er Norm und drei anderen Männern in den Käfig. Sie rangen nach Atem und stöhnten, als sie mit dem kalten Wasser in Berührung kamen. Sobald die Haie aufkreuzten, würde man die Touristen in ihrem Käfig unter die Wasseroberfläche sinken lassen und über Luftschläuche vom Boot aus mit Sauerstoff versorgen. Hinter der großen Taucherbrille war Norms erwartungsvolles Gesicht zu sehen. Man hätte dem 65-jährigen Mann nicht mehr als 45 Jahre gegeben.

«Dort drüben!», rief Scott Henderson. Sofort stürzten sich alle auf seine Seite, wo ein schwarzer Schatten langsam aus der Tiefe des Ozeans nach oben glitt. Er war so groß, dass Martine ihn zuerst für einen Wal hielt, doch als er näher kam, wurden die unverwechselbaren Konturen eines Hais sichtbar. Ohne Warnung schoss er aus dem Wasser. Kinder und Touristen wichen erschreckt zurück. Während eines furchterregenden Augenblicks blieb er in nächster Nähe so in der Luft hängen, dass er auf dem Boot zu landen drohte. Martine konnte die flache graue Schnauze, die leichenhaften Augen und die nadelscharfen Zahnreihen deutlich sehen. Dann verschwand er mit einer Bauchlandung wieder im Meer und begoss sie mit einer ekligen Mischung aus Chum und Eiswasser.

Sofort kamen weitere Weiße Haie hinzu, und schon war das Boot von achtzehn Haien umgeben. Ihre schrecklichen Mäuler schnappten nach den Fischen, die in nächster Nähe der Käfige im Wasser schwammen. Martine sah, wie Norm aus der sicheren Warte des Stahlkorbs mit der Unterwasserkamera Bilder knipste.

Plötzlich machte er keine Bilder mehr und wurde unruhig. Er schien ein Problem mit seiner Luftversorgung zu haben. Gregs Helfer eilte zum Kran, um den Käfig aus dem Wasser zu hieven, und Greg eilte Norm zu Hilfe. Doch noch bevor er bei ihm war, hatte Norm bereits die Einstiegsluke des Käfigs geöffnet, um herauszuklettern.

«Immer mit der Ruhe, Norm!», warnte ihn Greg, über die Reling hinauslehnend. «Vorsicht, die Haie sind rasend vor Hunger. Es wird dir nichts passieren, aber du musst dir von mir helfen lassen.»

Norm lächelte tapfer. Er setzte einen Fuß auf den Rand des Käfigs und griff nach Gregs sommersprossiger Hand …


Als Martine später versuchte, die Ereignisse dieses Vormittags zusammenzufügen, bestätigte sich für sie die gängige Vorstellung, dass Unfälle in Zeitlupe ablaufen. Tatsächlich ereignen sich Unfälle natürlich in wenigen Sekundenbruchteilen, doch werden sie in einer ganz anderen Zeitdimension wahrgenommen. Im ersten Bild sah Martine Norm wie einen schwarz geflügelten Kranich auf dem Käfigrand balancieren und die Hand nach Greg ausstrecken, dann wurde die Zeit schleppend langsam, und Martine sah, wie der vom Sauerstoffmangel unsicher gewordene Amerikaner Gregs Hand verpasste und rücklings in die schäumend schwarze See stürzte.

Marys Schreie gellten über das Wasser, während die Möwen oben ihre Kreise zogen.

Als Norm platschend ins Wasser fiel, zerstreuten sich die Haie für einen Augenblick. Mittlerweile war die Szenerie fast unwirklich geworden. Der lächelnde Mann, mit dem Martine vor einer knappen halben Stunde noch Kaffee getrunken und Kekse gegessen hatte, lag jetzt wild um sich schlagend und um sein Leben kämpfend im blutroten Wasser. Konnte das sein? Doch sie war nicht im Kino. Der größte Weißhai, ein bestimmt sieben Meter langes Exemplar, das laut Greg über drei Tonnen schwer war, hatte bereits gewendet, um herauszufinden, ob Norm essbar war. Im Boot herrschte das blanke Chaos. Greg versuchte, für Ordnung zu sorgen, während sein Helfer mit einem Bootshaken in den Händen über die Reling hinauslehnte, um den Hai, sollte er in Reichweite kommen, an seiner empfindlichsten Stelle, der Schnauze, zu treffen.

Der bedrohliche Schatten umkreiste Norm zweimal. Der Hai steckte seine platte Schnauze aus dem Wasser und öffnete kurz sein Maul, als wollte er testen, wie viel von Norm er mit einem Biss erwischen konnte. In diesem Augenblick sah Martine ihre Chance. Mit ihren grünen Augen fixierte sie die tief liegenden grauen Augen des Hais, sammelte die ganze wütende Energie, die sie aufbringen konnte, und richtete sie in einem gebündelten Strahl gegen das Tier, so wie sie es einmal bei einem Rottweiler getan hatte. Mit ihren Gedanken zwang sie ihn, von Norm abzulassen und stattdessen ein Wesen seines Kalibers zu terrorisieren oder – noch besser – sich eine Planktonmahlzeit zu genehmigen.

Gerade als der Kopf des Hais unter der Wasseroberfläche verschwand, warf Gregs Helfer den Bootshaken. Doch dieser verfehlte das Tier und trieb in der Strömung rasch davon.

«STOP!», rief Martine dem Hai in ihrem Kopf entgegen. «STOP!»

Doch der Hai hatte sich schon in Bewegung gesetzt. Wie ein tödlicher, pfeilförmiger Torpedo schoss er auf den angeschlagenen Mann zu. Kurz bevor er Norm erreichte, riss der Hai sein Maul auf, sodass seine wie Sägeblätter angeordneten Zahnreihen deutlich sichtbar wurden. Gleich würde er Norm einen Arm, den Kopf oder gleich den ganzen Rumpf zerfleischen.

«STOP», schrie Martine nochmals lautlos in ihrem Inneren.

Der Hai wandte sich ab und verschwand mit einem gereizten Schlag seiner Schwanzflosse in die unergründliche Tiefe. Die Wellen, die er geschlagen hatte, warfen Norm heftig gegen die Bootswand, wo hilfsbereite Hände ihn sofort aus dem Wasser hievten.

Mary warf sich dankbar auf ihren Mann und übersäte ihn mit Küssen. «Als du gesagt hast, du wolltest mit Haien schwimmen gehen, wusste ich nicht, dass du das außerhalb des Käfigs machen wolltest», schalt sie ihren Mann mit bebender Stimme, in der aber auch eine Prise Humor und eine große Portion Liebe mitschwangen.

Eine warme Welle durchfuhr Martine. Sie stieß einen unfreiwilligen Hurraruf hervor, der im allgemeinen Tumult jedoch von niemandem wahrgenommen wurde. Alle redeten wild durcheinander und versuchten zu verstehen, weshalb der Hai plötzlich von Norm abgelassen hatte.

«Er hat in letzter Sekunde gemerkt, dass du keine Robbe bist, Norm», sagte der sichtlich erleichterte Greg, als er sich aufmachte, warme Tücher und gesüßten Tee für seinen angeschlagenen Kunden zu holen. «Menschen sind nun einmal nicht die Standardnahrung für Haie.»

«Darüber bin ich aber sehr froh», sagte Norm, dessen Wangen langsam wieder Farbe annahmen. «Wenigstens habe ich jetzt zu Hause etwas zu erzählen.»

Plötzlich fiel Martine im ganzen Chaos etwas auf. Während alle ihre Aufmerksamkeit auf das glücklich wiedervereinte Touristenpaar richteten, richtete der im Lotussitz auf dem Kabinendach der Prowler IV thronende Ben seine Aufmerksamkeit auf sie. Er lächelte.

Die Nacht der Delfine

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