Читать книгу Die Nacht der Delfine - Lauren St John - Страница 5

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Als Miss Volkner ihrer Klasse eröffnete, dass sie eine Studienfahrt unternehmen würden, um die «Sardinenwanderung» zu beobachten, musste Martine Allen sofort an silberne, mit Tomatensauce bedeckte Dosensardinen denken – doch in ihrer kuriosen Vorstellung waren die Sardinen noch ganz und wanderten in silbernen Knickerbockern und roten Kniestrümpfen die südafrikanische Küste entlang.

Damit lag sie allerdings völlig falsch. Die Sardinenwanderung war laut Miss Volkner eines der großartigsten Naturereignisse der Welt – eine Wanderung im Meer. Jedes Jahr im Juni und Juli zogen Millionen von Sardinen aus den seichten Gewässern vor Kap Aghulas, der südlichsten Spitze Afrikas, in einer kalten Strömung gegen Osten. Mit weit geöffneten Mäulern verfolgten sie ihre Lieblingsspeise, das nährstoffreiche Plankton, und verschlangen es, während sie unbeirrbar weiterschwammen. Die Sardinen wiederum wurden von Zehntausenden von hungrigen Delfinen, Schwarzhaien, Schildzahnhaien, Kupferhaien und großen Schwärmen von Kaptölpeln mit ihren Jungen verfolgt.

Martine und ihre Mitschüler würden sich also dieser Meereskarawane anschließen und mit der Sardinenwanderung die Küste von KwaZulu-Natal entlangfahren, um schließlich weiter nördlich Dugongs zu zählen.

«Was sind Dugongs?», fragte Martine flüsternd Sherilyn Meyer, woraufhin diese sie aufklärte, dass es sich dabei um «süße, graue Pummel» handelte, «so was Ähnliches wie eine Kreuzung zwischen Flusspferd und Robbe.Früher haben die Seeleute geglaubt, Dugongs wären Meerjungfrauen.»

Die Klasse konnte sich vor lauter Begeisterung kaum einkriegen. Zehn freie Tage mitten im Schuljahr und das auf einem Kreuzfahrtschiff. Auch Martine war außer sich vor Freude, bis Miss Volkner ein Merkblatt verteilte. Ganz oben auf der Packliste für die Klassenfahrt stand: 1 Badeanzug.

Martine streckte die Hand in die Höhe. «Entschuldigen Sie, Miss Volkner, aber warum brauchen wir einen Badeanzug?»

Ein Gekicher ging durch das Klassenzimmer, und auch Miss Volkner konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

«Das Ganze nennt sich Seefahrt, weil wir zur See fahren, Martine», sagte sie. «Nie wieder wirst du so viel Gelegenheit zum Schnorcheln, Tauchen und Herumplanschen haben. Und ich glaube kaum, dass du das so ganz ohne Badeanzug tun möchtest!»

Allgemeines Gelächter.

«Aber, äh …», Martine rang nach den passenden Worten, «… was ist denn, wenn einer von uns nicht schwimmen will?»

«Weshalb in aller Welt solltest du nicht schwimmen wollen?», fragte Miss Volkner überrascht. «Die Riffe sind wunderschön. Ich versichere dir, Martine, wenn du erst einmal im offenen Meer draußen geschwommen bist, den Meeresgrund fast ein Kilometer unter dir, werden wir dich kaum noch aus dem Wasser kriegen.»

Irgendjemand stellte eine weitere Frage. So fiel es denn auch niemandem auf, dass Martines Gesicht aschfahl wurde und ihre Knie unter dem Pult zu zittern begannen.


In dieser Nacht kamen die Haie zum ersten Mal. In dreidimensionalen Albträumen umkreisten sie Martine, die kalten, tief liegenden Augen auf ihre strampelnden blassen Gliedmaßen gerichtet, mit denen sie sich in der stürmischen See über Wasser zu halten versuchte. Woche für Woche kamen die Träume immer häufiger und immer heftiger, sodass Martine schließlich Angst davor hatte einzuschlafen. Zwei Tage vor der geplanten Abreise setzte sie sich sogar mit einem Stapel Bücher auf dem Kopf aufrecht ins Bett, damit diese sofort zu Boden krachten, sollte sie einnicken. Doch beim dritten Mal war sie bereits so erschöpft, dass sie gar nicht mehr hörte, wie die Bücher auf den Fußboden polterten. Sie versank einfach in den Bettlaken und ergab sich den gefräßigen Meeresräubern.

Wild zappelnd wehrte sich Martine gegen das Ertrinken und die gefräßigen Haie in einem Ozean, der so eiskalt war, dass sich ihre Beine wie gelähmt anfühlten, als sie eine Stimme aus dem Nichts aus dem Traum holte. «Aufwachen, Martine! Wir müssen bald los, wenn wir früh am Strand sein wollen.»

Martine zwang sich dazu, richtig wach zu werden. Es war Morgen, und auf ihrer Bettkante saß eine verschwommene Gestalt. Als sie blinzelte, wurde das Bild scharf. Ihre Großmutter, wie immer in Jeans, jedoch in einer hellblauen Bluse anstelle des khakifarbenen Arbeitshemdes mit Löwensignet auf der Brusttasche, musterte sie mit ihren stahlblauen Augen.

«Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht bei offenem Fenster schlafen?», sagte sie leicht vorwurfsvoll. «Kein Wunder, dass du Albträume hast. Du frierst bestimmt. Juni ist Winter in Südafrika, Martine. Das solltest du doch mittlerweile wissen.»

Martine versuchte, sich aus den kalten Tentakeln ihres Traums zu befreien. «Ich war dabei zu ertrinken», sagte sie verschlafen. «Die Haie verfolgten mich, und ich rang nach Luft.»

«Aber sicher doch, du warst dabei zu ertrinken», sagte Gwyn Thomas, während sie sich vorlehnte und mit einem Griff zum Fenster die nach Antilopen riechende Luft aussperrte. «Du hast dich in den Bettlaken verfangen. Doch was sollen die ganzen Bücher auf dem Fußboden?»

Martine befreite sich aus dem Gewirr des Bettzeugs und setzte sich auf. Sie wollte ihrer Großmutter mit ihren Albträumen keine Sorgen bereiten. «Ich habe nach einer guten Bettlektüre gesucht.»

«Und so hast du dir zuerst Das Große Handbuch der Modelleisenbahnen und dann Jeep-Reparaturen – leicht gemacht zu Gemüte geführt?»

Martine antwortete nicht. Sie war zu sehr von dem Bild gefangen, das sich durch das Schlafzimmerfenster hinter dem auslaufenden Strohdach auftat. In der Ferne trotteten ein paar Elefanten wie graue Geistergestalten im winterlichen Morgennebel um das Wasserloch. Obwohl sie jetzt schon seit sechs Monaten in Sawubona war, konnte sie immer noch nicht glauben, dass sie auf einem Wildreservat in Südafrika lebte. Jeden Morgen beim Aufwachen durchfuhr sie ein Schauer, wenn sie die Augen öffnete, sich auf einen Ellenbogen stützte und über die wilde Savanne blickte, die zu ihrer Heimat geworden war. Doch selbst dies vermochte den Knoten der Trauer nicht aufzulösen, der sich in ihrem Magen gebildet hatte, seit ihre Eltern an Silvester beim Brand ihres Hauses im englischen Hampshire ums Leben gekommen waren. Aber es half ihr zumindest dabei.

Es half ihr auch, dass sie eine neue Familie hatte. Es war keine Ersatzfamilie, denn niemand würde je ihre Eltern ersetzen können, die sie mehr liebte als alles auf dieser Welt. Aber wenigstens fühlte sie sich nicht mehr isoliert. Neben ihrer Großmutter war da der hünenhafte Zulu Tendai, der vor Kurzem vom Fährtenleser zum Wildhüter befördert worden war. Tendai weihte sie in die Geheimnisse des Busches ein, gab ihr Tipps für das Überleben in der wunderschönen, aber hochgefährlichen afrikanischen Wildnis und nahm sie zum Frühstück am Lagerfeuer auf einem Plateau hoch über Sawubona mit. Martine verehrte und bewunderte Tendai, doch auch mit seiner Tante Grace verband sie eine ganz besondere Beziehung. Grace war nicht nur eine Sangoma, eine afrikanische Naturärztin und Heilerin, sondern gleichzeitig auch die beste Köchin der Welt. Ihre Vorfahren stammten aus Afrika und der Karibik, und Grace allein kannte das Geheimnis von Martines besonderer Gabe, mit Tieren zu kommunizieren.

Doch das Allerwichtigste für Martine war ihre weiße Giraffe Jemmy (eine Kurzform von Jeremiah). Sie hatte Jemmy gezähmt und war mit ihm über die Savanne geritten. Und da war auch noch Ben, der Junge, der ihr geholfen hatte, Jemmy zu befreien, als dieser entführt worden war. Martine betrachtete Ben und Jemmy als ihre besten Freunde, auch wenn sie ihr das nicht wirklich bestätigt hatten, denn Jemmy konnte nicht sprechen und Ben gab nur selten ein Wort von sich.

«Irgendwann heute noch, wenn es geht», sagte Gwyn Thomas spitz. Martine erinnerte sich, dass sie eigentlich aufstehen sollte. Als sie auf den Wecker blickte, konnte sie nur mit Mühe einen Seufzer unterdrücken. 6 Uhr! Was hatte ihre Großmutter nur gegen ein gemütliches Ausschlafen am Sonntagmorgen?

Als Gwyn Thomas Martines Gesichtsausdruck sah, blitzten ihre Augen belustigt auf. Es hatte mal eine Zeit gegeben, als diese Augen Martine immer nur kalt und feindselig musterten. Doch in diesen Tagen war ihr gebräuntes Gesicht meist von Lachfalten geprägt.

«Du bist bestimmt sehr aufgeregt, morgen mit deiner Klasse wegzufahren», sagte sie. «Zehn ganze Tage auf hoher See. Zehn ganze Tage voll gepackt mit Geschichte und Natur und einer Prise Abenteuer, nehme ich an. Ich beneide dich. Wirklich. Am liebsten würde ich gleich mitkommen.»

«Wollen wir tauschen?»

Gwyn Thomas lachte. «Einen Moment lang klang das beinahe echt, Martine. Du freust dich doch bestimmt auf die Reise, oder etwa nicht?»

«Natürlich», sagte Martine mit dem größten Maß an Überzeugung, das sie aufbringen konnte, und unterdrückte ein Gähnen. «Ich kann es kaum noch erwarten.»

«Ich bin froh, das von dir zu hören. In den letzten Tagen warst du nämlich etwas blass. Die frische Seeluft wird dir bestimmt guttun. Also, dann sehen wir uns gleich unten. Ich mache nur schnell das Picknick für unsere Strandwanderung fertig.»

«Okay, bis gleich», sagte Martine in munterem Ton. Doch sobald sich die Zimmertür hinter ihrer Großmutter geschlossen hatte, vergrub sie den Kopf in den Händen und schloss die Augen. Sie wusste genau, weshalb sie in ihren Träumen von Haien heimgesucht wurde, und es hatte nichts damit zu tun, dass sie bei offenem Fenster schlief, sich in den Bettlaken verwickelte oder vor dem Schlafengehen Käse aß. Diese und alle anderen fadenscheinigen Gründe, die man allgemein für die Entstehung von Albträumen verantwortlich machte, waren aus der Luft gegriffen. Sie hatte die Albträume wegen etwas, das sich vor fast genau einem Jahr ereignet hatte.

Sie war mit ihren Eltern nach Cornwall in Urlaub gefahren. Am letzten Ferientag musste ihr Vater, der Arzt war, zu einem Noteinsatz, weil sich ein paar Jungen bei einem Sturz von einem Felsen verletzt hatten. Martines Mutter, die dabei war, sich von einer Grippe zu erholen, hielt gerade ein Mittagsschläfchen. Da er sie nicht um ihre Ruhe bringen wollte, fragte er Martine, ob es ihr etwas ausmachen würde, während seiner Abwesenheit etwas zu lesen oder zu zeichnen.

Doch es war ein brütend heißer Sommertag, und nach einer Weile langweilte sich Martine und beschloss, zum Strand hinunterzulaufen, um ein kurzes Fußbad zu nehmen. Das sollte sie schaffen, bevor ihre Mutter wieder aufwachte. Als sie am Strand ankam, war das Meer so einladend, dass es nicht beim Fußbad blieb, und so stand sie schon bald bis zur Hüfte im Wasser. Doch dann türmte sich plötzlich wie aus dem Nichts eine Welle vor ihr auf, warf sie um, riss sie mit und schleppte sie über den Meeresboden, sodass Martine sich – wie im Schleuderprogramm einer Waschmaschine – immer wieder überschlug. Gerade als sie glaubte, gleich ertrinken zu müssen, spuckte die Welle sie wieder aus, woraufhin sie sich halb schwimmend, halb kriechend wieder an den Strand zurückkämpfen konnte.

Etwa zur gleichen Zeit hatte ein Fischer einen Riesenhai an Land gezogen. Martine hatte seine düsteren Umrisse im Sand gesehen, als sie über den Strand heimwärts taumelte. Und irgendwie hatten sich die beiden Dinge – der Hai und die Waschmaschinenwelle – zusammen tief in ihre Erinnerung gegraben. Wenig später lag sie in den Armen ihrer Mutter, die sie bereits verzweifelt gesucht hatte und so erleichtert und überglücklich war, sie unbeschadet wiederzusehen, dass es ihr gar nicht in den Sinn kam, sie zu schelten. Weil sie ihre Mutter mit der Geschichte nicht belasten wollte, beschloss Martine, ihr nichts davon zu erzählen, dass sie beinahe ertrunken wäre. Sich selbst aber schwor sie, nie wieder im Meer zu baden, wenn sie es irgendwie vermeiden konnte.

Seither hatte sich auch gar keine Gelegenheit dazu ergeben. Sie waren am nächsten Tag aus Cornwall abgereist. Und im folgenden Winter waren ihre Eltern bei dem Brand ums Leben gekommen. So hatte keiner entdeckt, was Martine nie einer anderen Menschenseele anvertraut hatte, weil sie es sich selbst nicht eingestehen mochte: dass sie panische Angst vor tiefem Wasser hatte.


Die Nacht der Delfine

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