Читать книгу Iria - Der Schlüssel der Macht - Lea Loseries - Страница 10

Titel - 5

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Das Klackern der rosa Stöckelschuhe hallte durch den gesamten Raum und ließ Fräulein Quietsch´s quirlige Stimme noch lebhafter erscheinen, als sie es ohnehin schon war. Die Schüler waren froh, ein Thema gefunden zu haben, mit dem sie die Lehrerin von dem eigentlich bevorstehenden Vokabeltest ablenken konnten. „Also, Ehrfurcht vor Gott zu haben, heißt nicht etwa, dass wir Angst vor ihm haben müssen, Jakob.“, erklärte sie dem Jungen, der das Thema angeschnitten hatte und wedelte ihm bei diesen Worten belustigt mit einem der vielen knallpinken Pommel ihres rosa Pelzmantels vor dem Gesicht herum. „Es heißt einfach nur, dass wir uns bewusst machen, dass er allmächtig ist und ihm nicht egal ist, was wir tun. Deshalb sollten wir aus Respekt vor ihm versuchen, nach seinem Willen zu leben und danach zu fragen. Natürlich kann Gott Menschen auch bestrafen. Aber er liebt sie auch und will ihnen helfen, ihr Leben erfüllend zu gestalten und zwar um jeden Preis. Deshalb hat er ja auch seinen Sohn Jesus geschickt, der am Kreuz für unsere Schuld bezahlt hat. Wenn wir das wissen und annehmen, brauchen wir uns nicht vor Gott zu fürchten.“ Mit diesen Worten war der kleine Exkurs zum Thema „unverständliche Ausdrücke in der Bibel“ beendet. Mit einem lauten Knall fiel der Ordner mit den Vokabeltests aufs Lehrerpult. Bald darauf machte sich die Lehrerin daran, mit zusammengekniffenen, pink angemalten Lippen, die Blätter auszuteilen. Also war es den Schülern doch nicht gelungen, sie abzulenken. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Aber eines nahmen sie aus dieser Stunde mit: nämlich, dass doch nicht alle Lehrer ein und denselben rot- goldenen Umhang trugen. Nach den beiden Englischstunden stand als nächstes das Fach „Verschiedene Ansichten“ an. Als Leo erfuhr, dass Herr Maschael sie in diesem Fach unterrichten würde, sank seine Laune augenblicklich unter den Gefrierpunkt. Er war nicht der Einzige.

Wenig später saß die ganze Klasse durchgeschwitzt und vor Anstrengung heftig atmend in einem kühlen Kellergewölbe. Sie hatten es gerade noch rechtzeitig geschafft, den Raum zu finden, denn Herr Maschael war nicht gekommen, um sie dort hinzuführen. Diesen Raum hier konnte man fast als das komplette Gegenteil der anderen Räume bezeichnen. Wo normalerweise bunte Kissen die modernen Stühle zierten, machten einem hier unbequeme Holzschemel aus wahrscheinlich schon längst vergangenen Zeiten das Leben schwer. Der Raum hatte keine Fenster. Stattdessen waren an den Wänden Fackeln angebracht und auf jedem Tisch standen zwei Kerzen. Es roch feucht und modrig. Die restliche Raumausstattung war sehr einfach. Hinter dem alten Lehrerpult hing eine Schiefertafel, die noch mit dem Inhalt der letzten Stunde beschriftet war. Ansonsten war hier nichts. Keine Bilder an den Wänden, keine Plakate, gar nichts. In diesem Moment öffnete sich die Tür mit einem ohrenbetäubenden Quietschen und fiel sofort darauf wieder mit einem lauten Krachen zu. Herr Maschael eilte durch die Reihen nach vorn und verursachte auf diese Weise einen kühlen Luftzug, der jeden frösteln ließ, der ihm zu nahe kam. Außerdem bewegte er sich inmitten einer Parfümwolke. Die Schüler waren froh, den Raum doch noch rechtzeitig gefunden zu haben, denn die Aufmachung ihres Lehrers ließ nichts Gutes erahnen. Die normale Lehrerkluft trug er ebenso wenig wie Fräulein Quietsch. Stattdessen war er so gekleidet, wie man es auf einer Beerdigung erwarten würde. Sein Outfit passte erschreckend gut zu dem düsteren Raum. Nachdem er es sich auf seinem harten Stuhl bequem gemacht hatte, begrüßte er die Schüler mit verstellt freundlicher Stimme. „Guten Morgen, liebe fünfte Klasse! Ich hoffe, ihr fragt euch nicht etwa, warum wir hier Unterricht haben.“ Der zweite Teil des Satzes klang eher wie eine Drohung. Doch es folgte die Erklärung. „Ich persönlich befürworte die Kühle und die Schlichtheit von Unterrichtsräumen. Meiner Meinung nach fördert sie das Denken und lenkt die Schüler nicht so sehr vom Unterrichtsstoff ab. Leider werde ich euch in diesem Raum nur während des Sommers unterrichten können. Eure Schulleiterin will meine Lehrmethoden einfach nicht akzeptieren!“, stieß er verächtlich hervor. „Zum Glück.“, murmelte Mino, so leise, dass der Lehrer es nicht hören konnte. „Dieser Raum ist absolut hässlich!“, regte sich Fabienne leise auf, „Wie kann der uns so etwas zumuten? Bestimmt ist unter den Tapeten alles voller Schimmel!“ Anna antwortete flüsternd: „Na, Hauptsache wir bekommen hier während des Unterrichtes keinen Besuch von Ratten.“ Daraufhin verzogen einige Mädchen angeekelt das Gesicht. Doch eine von ihnen musste zu laut ihren Unmut geäußert haben. Jedenfalls drehte sich Herr Maschael, der gerade noch dabei gewesen war, die Tafel zu wischen und neu zu beschriften, langsam um und ließ seine Habichtsaugen kalt und beinahe schadenfroh durch die Reihen schweifen.

„Höre ich noch einen Mucks von irgendjemandem, muss die gesamte Klasse am Samstag nachsitzen.“, sagte er barsch. Der Rest der Stunde verlief ähnlich bedrückend. Das Schlimmste war, dass der Lehrer nie laut wurde und seine Schüler anschrie. Stattdessen herrschte durch seine Ausstrahlung eine eiskalte Stille. Immer, wenn ihm etwas nicht passte, durchbohrte er die Schüler bei lebendigem Leibe mit seinen Blicken und brummte ihnen harte Strafen auf. Nach einer gefühlten Ewigkeit war sein Unterricht, der hauptsächlich daraus bestanden hatte, still vor sich hin zu arbeiten, zu ende. „Nächste Woche findet schon das erste Bibelkicker Spiel statt!“, berichtete Jonas aufgeregt, kurz nachdem Leo und er vom Training zurückgekehrt waren. „Toll.“, antworteten Marie und Hedwig nur mittelmäßig interessiert wie aus einem Mund.

„Und, gegen wen spielt ihr?“, fragte Marie nach einer Weile, um Jonas nicht zu enttäuschen. „Alle drei Schulen spielen gegeneinander und dieses Mal treffen wir uns in Sinistro.“, erklärte Jonas strahlend. „Meine Schwester hat mir erzählt, dass alle Sinistro-Fans sich bei den Spielen als Enten verkleiden.“, kicherte Anna, die mit den beiden Mädchen im Spielraum saß und „Pinienthron“ spielte. Sie hatte schon ein riesiges Gebäude errichtet, das allerdings weder Möbel, noch Tapeten, Bewohner, einen Garten oder ein Dach hatte. „So wirst du nie gewinnen.“, sagte Jonas etwas mürrisch, da er ihr Kommentar zu der wunderbaren Botschaft, dass Leo und er bald ihr erstes Spiel haben würden, nicht sehr schmeichelhaft gefunden hatte. „Wenigstens der Grundriss deines Gebäudes muss komplett fertig sein. Kennst du das Spiel denn nicht?“ Doch Anna nahm keine Notiz von ihm. „Habt ihr an dem Tag schulfrei, an dem ihr nach Sinistro fahrt?“, fragte nun stattdessen Hedwig. „Klar.“, nickte Leo,

„Und jeder, der mitkommen will, auch. Ihr kommt doch mit, oder?“ Bittend schaute er in die Runde. „Na klar.“, grinste Hedwig, „Ich interessiere mich zwar nicht für Fußball, aber das ist immerhin noch besser als Unterricht.“ „Das ist kein Fußball!“, protestierte Jonas und lief rot an. Doch bevor er zu weiteren Erklärungen ansetzen und es zu einem Streit kommen konnte, fuhr Anna dazwischen. „Ist jetzt doch auch egal.“, sagte sie, „Ich fahre auf jeden Fall mit. Bestimmt treffe ich dann auch meine Schwester.“ „Und du, Marie?“, jetzt waren vier Augenpaare auf Marie gerichtet und starrten sie gespannt an. Doch sie zögerte. Die Aussicht darauf, schon wieder etwas völlig Neues kennenzulernen, jetzt, nachdem sie sich hier so gut eingelebt hatte, machte sie nervös. Außerdem hätte sie viel lieber Unterricht gehabt, statt den ganzen Tag lang auf einer Tribüne zu sitzen und Anderen dabei zuzusehen, wie sie wie die Verrückten einem hässlichem, dreckigem Ball hinterherrennen. Aber das hätte sie natürlich niemals zugegeben. „Na gut.“, willigte sie nach einer Weile ein, „Immerhin können Hedwig und ich uns dann zusammen langweilen.“ Das hätte sie lieber nicht sagen sollen. Jonas fing an zu schmollen und verließ beleidigt den Raum, woraufhin Hedwig genervt den Kopf schüttelte. Nicht einmal Leo konnte das Verhalten seines Freundes nachvollziehen. „Da waren´s nur noch vier.“, war sein einziges Kommentar dazu, während er sich seufzend einen Stuhl heranzog und sich zu den Mädchen setzte. „Wisst ihr eigentlich, dass wir bald einen Ausflug machen?“ „Nein.“, Marie zog etwas skeptisch die Stirn in Falten und fragte dann: „Wohin denn?“ „Nach Miniklu.“, erklärte Hedwig, die ebenfalls informiert war, „Aber Ausflug kann man das eigentlich nicht nennen. Wir machen nur ein paar Besorgungen.“ Und zum besseren Verständnis fügte sie hinzu: „Miniklu ist die kleine Stadt, in der wir den Schulen zugeteilt wurden.“ „Weißt du, wie wir dahin kommen?“, fragte Leo, „Es sind ja schon ein paar Kilometer.“ „Hoffentlich müssen wir nicht wieder laufen.“, stöhnte Anna und ließ sich auf ihren Stuhl sinken, „Ich hasse es, durch diesen dunklen Wald zu latschen.“ „Ein bisschen Bewegung würde euch wahrscheinlich schon ganz gut tun.“, lachte Hedwig angesichts dieser Einstellung, „Und so weit ist es außerdem gar nicht. Trotzdem vermute ich, dass wir mit Fliegulas fliegen.“

Die nächsten Tage vergingen schneller als erwartet. An einem Samstagmorgen sammelten sich alle Schüler in der Eingangshalle, um zusammen nach Miniklu zu fliegen. Obwohl es nicht allzu viele Schüler waren, summte und wisperte es in der gesamten Halle. Die Stimmung war ausgelassen und es fiel den Schülern schwer, Professor Ferono zuzuhören, die gerade ihre Ansagen machte und ihnen erklärte, dass sie tatsächlich mit Fliegulas transportiert werden würden. Als sie endlich fertig war, strömten die Masse laut rufend nach draußen in den Innenhof. „Was gibt es in Miniklu eigentlich alles zu kaufen?“, fragte Marie, die gerade versuchte, einen Fliegula für sich und ihre Freunde zu ergattern. „Keine Ahnung.“, antwortete Hedwig, „Aber wir werden bestimmt finden, was wir brauchen.“ „Warum fragst du?“, erkundigte sich Leo, während er sich auf einen Fliegula mit olivgrünem Federkleid schwang. „Mein kleiner Bruder hat bald Geburtstag.“, erzählte Marie,

„Und ich dachte, dass es schön wäre, wenn ich ihm etwas schicken könnte, wenn ich schon nicht bei ihm bin.“ Jonas überhörte das leise Bedauern in ihrer Stimme und berichtet begeistert: „Ich habe gehört, dass es dort einen Bonbonladen gibt, in dem man total leckere Sachen kaufen kann. Ich habe mir extra einen großen Rucksack mitgenommen, nur für den Fall, dass ich vielleicht ein bisschen mehr kaufen sollte...“

„Und du dich für die nächsten Jahre mit diesem Zuckerzeug eindecken würdest.“, ergänzte Leo grinsend. Plötzlich durchfuhr die vier ein Ruck. Erschrocken sah Marie nach unten und bemerkte, dass der Fliegula, auf dem sie saßen, soeben abgehoben war. Mit einem etwas mulmigen Gefühl krallte sie sich in seine weichen Federn, um ja nicht herunterzufallen. Doch nach einer Weile genoss sie den Flug. Sie konnte die gesamte nähere Umgebung betrachten: die Wiese mit dem Weg aus blauen Kieselsteinen, den unheimlichen Wald mit dem kleine Städtchen, das dahinter lag und natürlich die Schule, die mit jedem kräftigem Flügelschlag immer kleiner und kleiner wurde, bis man sie kaum mehr ausmachen konnte. Während sie die Umgebung bestaunte, diskutierte Hedwig mit Jonas und Leo über das Thema Tier- und Umweltschutz. In der Zwischenzeit warf Jonas immer und immer wieder etwas von seinem Bonbonladen dazwischen. Die Vorfreude auf den Ausflug war fast greifbar. Und glücklicherweise schien die Diskussion zwischen den drein auch nicht in einen Streit auszuarten; ganz im Gegenteil. Hedwig schaffte es sogar, die beiden Jungen für die Spezies Fliegulas mit ihren vielen besonderen Fähigkeiten zu begeistern. Nach einer Weile meinte Jonas: „Schade, dass Fliegulas nicht sprechen können.“ „Oh, da wäre ich mir nicht so sicher.“, erwiderte Hedwig daraufhin unverblümt, „Viele Erwachsene jedenfalls tun oft so, als würden sie sich mit ihnen unterhalten.“ „Echt?“, fragte Jonas verblüfft, „Davon habe ich noch nie etwas mitbekommen.“ „Dabei ist es doch eigentlich nur logisch.“, sagte Marie, nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte und erklärte: „Wenn sie uns nicht verstehen würden, woher wüssten sie denn dann zum Beispiel, wo sie uns jetzt hinbringen sollen? Sie sind ja schließlich keine Pferde, die man mit einem Zaumzeug lenken kann.“

„Allerdings.“ Die Stimme, die ihr da gerade zustimmte war tief und warm, fast so, als gehöre sie einem würdevollen, gutmütigem alten Mann. Jonas war verwirrt. „Äh… wer hat das gerade gesagt?“, fragte er und schaute seine Freunde der Reihe nach skeptisch an. Auch Leo war die Sache nicht ganz geheuer. Deshalb reagierte er etwas ungehalten. „Weiß ich doch nicht. Und jetzt guck uns nicht so komisch an, wir waren es ganz bestimmt nicht.“ „Ich war es.“, klang nun die warme, tiefe Stimme wieder an ihr Ohr. Es schien so, als würde sie von unten kommen. „Leide ich jetzt unter Halluzinationen oder habt ihr das auch gehört?“, fragte Leo verstört, der die Stimme immer noch niemandem hatte zuordnen können. Marie hingegen beachtete ihn gar nicht. Stattdessen beugte sie sich ein Stück vor, zum Kopf des Fliegulas und fragte verwundert: „Du kannst wirklich sprechen?“ Jetzt war Leo nahe daran, durchzudrehen. Gehetzt schaute er sich um und fragte ungläubig: „Marie, mit wem bitte redest du?“ Allmählich brannten auch bei seinen Freunden die Sicherungen durch. Allerdings in die andere Richtung. „Mit dem Fliegula, du Blitzmerker!“, kam es von allen Seiten. „Was?“ Man sah Leo tatsächlich an, wie er mit sich kämpfe. Konnte das denn wirklich sein? Doch dann endlich kapierte er. „Oh.“, machte er verwundert, „Tut mir leid.“ Diese Entschuldigung galt vor allem dem Fliegula. „Wie heißt du denn?“, fragte Jonas, von der Tatsache, dass Tiere sprechen können, sichtlich hingerissen. „Orog.“, antwortete der Fliegula, „Bei uns bedeutet das Rache.“ Jonas verzog bekümmert das Gesicht. Dann platzte unkontrolliert aus ihm heraus, was er dachte: „Das ist aber kein so schöner Name.“ Und als er merkte, wie unhöflich das klang, versuchte er, zu beschwichtigen: „Ich meine, der Name an sich ist natürlich schon schön, aber die Bedeutung eher nicht. Was meinst du, warum haben dich deine Eltern so genannt?“ „Mich interessiert etwas ganz Anderes.“, warf Hedwig dazwischen, „Wieso ist es nicht allgemein bekannt, dass Fliegulas sprechen können? Nicht einmal im Unterricht wurde uns das beigebracht. Warum wird ein so großes Geheimnis daraus gemacht?“ „Nicht jeder Fliegula erlernt die Sprache der Menschen.“, antwortete Orog und fügte verächtlich hinzu: „Und jeder, der sie versteht und sprechen kann, sollte eigentlich verachtet werden, wenn er dieses Wissen benutzt, um mit Menschen in Kontakt zu treten.“ Den Freunden wurde es langsam mulmig zumute. So wie der Fliegula das Wort „Menschen“ ausgespien hatte, schien es, als würde er eine starke Abneigung gegen sie pflegen. „Aber warum?“, fragte Leo in die beklemmende Stille hinein, „Was ist an uns so falsch?“ Wieder entfuhr dem Schnabel des Fliegulas ein verächtlicher Laut. Aber statt es Leo zu erklären, antwortete er mit einer Gegenfrage: „Kommst du aus Iria?“ „Nein. Ich komme aus einem Land, das man Deutschland nennt. Aber das kennst du wahrscheinlich nicht.“, berichtete Leo. „Oh nein, dieses Land kenne ich tatsächlich nicht.“, gab ihm der Fliegula Recht. Dann herrschte für einen Moment Stille, sodass die vier sich wieder mehr oder weniger entspannt zurücklehnten, in der Hoffnung, die Sache wäre damit gegessen. Aber das war sie nicht. Stattdessen dröhnte plötzlich eine Stimme in ihren Ohren, von der sie nie erwartet hätten, dass Orog zu so einem Laut fähig war. Aus den tiefen, warmen Tönen war das gefährliche Brausen und Dröhnen eines Wirbelsturms geworden. „Wie sollen wir Fliegulas dieses Land auch kennen? Wir gelten dort, in dieser anderen Welt, bereits seit Generationen als ausgestorben, geschweige denn, man erinnert sich überhaupt noch an uns. Eure Vorfahren haben uns gejagt. Sie haben uns ausgerottet und das alles nur wegen unserer Federn. Ein letzter, kleiner Teil, der sich vor diesen Barbaren retten konnte, ist hier nach Iria geflohen. Doch das war ein Fehler.“ Jetzt klang sogar ein wenig Wehmut in der Stimme des Fliegulas mit. „Wir sind nie mehr wieder von hier weggekommen. Stattdessen kam eines Tages dieser Löwe daher. Er machte uns zu Sklaven. Er ist Schuld daran, dass wir immer noch von euch Menschen ausgebeutet werden. Für euch sind wir doch nur seelenlose Transportmittel ohne Gefühle und Verstand. Und das alles ist sein Werk. Das Werk eines mächtigen, majestätisch Tieres, das sich auf die Seite der Menschen gestellt hat. Er muss weg. Und ihr Menschen gleich mit ihm.“ Die Angst kroch in den Freunden hoch wie lähmendes Gift, das von außen wirkt. Für einen Moment waren sie unfähig zu sprechen. Marie war es, die den vorhandenen Sachverhalt schließlich treffend feststellte. „Dann fliegen wir jetzt nicht nach Miniklu.“, sagte sie düster. In diesem Moment fiel es auch den Anderen wie Schuppen von den Augen. Aus der Masse lösten sich ein paar grimmig drein blickende Fliegulas und folgten Orog, der plötzlich einen völlig anderen Kurs einschlug. „Was haben wir denn getan?“, schrie Hedwig, um die angsterfüllten Schreie der anderen Schüler zu übertönen, „Wir wussten doch nichts davon. Und es tut uns Leid!“ Orogs dröhnende Lache ließ sie innerlich erschüttern. „Leid tun wird es euch später noch viel mehr!“, rief er, „Es ist Zeit, dass in diesem Land aufgeräumt wird.“ Die Schüler erstarrten. Sie konnten nichts mehr tun und waren den Riesenvögeln schutzlos ausgeliefert. Hilflos drehten sie sich zu allen Seiten, in der Hoffnung, dass ihnen jemand zu Hilfe kommen würde. Vielleicht ein paar der anderen Fliegulas. Doch diese Hoffnung war zwecklos. Sie hatten sich bereits viel zu weit von den Anderen entfernt. Sie konnten sie nicht einmal mehr sehen. „Lass uns sofort runter!“ Verzweiflung klang in Maries Stimme mit, als sie dies sagte. „Gerne.“, antwortet Orog und setzte zum Sturzflug an. Urplötzlich pfiff den Freunden der Wind um die Ohren, so stark, dass ihr Atem stockte und sie meinten, sie müssten ersticken. Der Boden näherte sich ihnen mit rasender Geschwindigkeit und sie dachten, der Waldrand da unten, der mit jeder Sekunde größer und größer wurde, wäre das letzte, was sie in ihrem Leben sehen würden. Sie lagen fast richtig. Alle schafften es heil bis zum Boden, doch dann sprangen dunkle Gestalten hinter den Bäumen hervor auf die Schüler zu und pressten ihnen übel riechende Tücher ins Gesicht. Sie konnten nicht anders, als früher oder später einzuatmen. Dann verschwand die Welt vor ihren Augen und sie glitten blitzschnell in einen anderen Bewusstseinszustand über.

Nebelschwaden zogen aus dem Boden herauf auf und hüllten die moorähnliche Landschaft ein, sodass man nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen konnte. Es wurde merklich dunkler. Mitten in dieser Suppe aus trübem Nichts erhob sich ein riesiger, steinerner Bau mit vielen spitzen Türmen und mehreren Etagen. Im Keller dieses Hauses saßen ein paar in Lumpen gehüllte Jugendliche und bibberten vor Kälte. Das grelle, eiskalte Licht machte das Ganze kein Stück besser. Der festgestampfte Lehmboden unter ihnen war hart und bohrte sich seit Stunden unbarmherzig in ihre wunden Knöchel. Vor ihnen thronte ein Mann in einem schwarzen, warmen Mantel auf seinem gepolsterten Sessel wie ein König vor seinen Untertanen. Seine Stimme war kalt und emotionslos. Und zum Erstaunen des einen Jungen völlig frei von Schwindel und falscher Freundlichkeit. „Von welchen Schulen kommt ihr?“, hallte es kalt von den Wänden wider. „Sinistro.“, flüsterte ein etwa vierzehnjähriger Junge, der sich zitternd in die hinterste Ecke des kleinen Raumes drückte. „Terabehnas.“, stieß ein Mädchen mit langen, eisblonden Haaren leise hervor. „Firaday.“, raunte ein schwarzhaariger Junge. „Sinistro.“, piepste ein für ihr Alter viel zu kleines, zierliches Mädchen. „Schön, schön.“, grinste der Lehrer, „Aber das ist jetzt vorbei. Euer neues Zuhause heißt Belorroun.“ Der schwarzhaarige Junge stütze resigniert den Kopf auf seine zusammengepressten Knie. Dann schaute er auf und fragte provozierend: „Was machen Sie eigentlich hier, Herr Maschael? Hat ihnen der Job in Firaday nicht mehr gefallen?“ Es hatte ihn einige Überwindung gekostet, dies zu sagen, auch wenn er es niemals zugegeben hätte. Doch die kalte, bedrohliche Atmosphäre machte selbst ihm zu schaffen. Der Mann im schwarzen Mantel gab einen verärgerten Laut von sich und zischte: „Hier spricht man nicht unaufgefordert!“ Dann schlug er dem Jungen ins Gesicht. Dieser konnte den Schmerz kaum spüren. Die ewige Kälte hatte ihn beinahe taub gemacht. „Und jetzt zum Unterricht.“, seufzte der Mann zufrieden, als sein Werk vollendet war und positionierte sich wieder in seinem bequemen Sessel. „Michal, sag mir, gibt es jemanden, der außer mir die Kontrolle über euch hat in diesem Raum?“ Das Mädchen mit den eisblonden Haaren schluckte trocken. So harmlos sich diese Frage auch anhören mochte, sie wusste, worauf man hier hinaus wollte. Jeder Lehrer machte sich selbst zu einer Art Gott und alle wollten sie ihnen eintrichtern, dass sie ihnen chancenlos und von Gott verlassen gegenüberstanden. Sie wollten ihnen alle Hoffnung nehmen. Und nebenbei aus ihrem Mund hören, dass sie ihren Glauben verleugneten. Michal wusste, dass sie nicht einfach sagen konnte, was der Mann wollte. Sie hätte sich ihm damit völlig ausgeliefert. Also antwortete sie verängstigt, aber bestimmt: „Ja.“ „Falsch!“, zischte der Lehrer und schlug ihr mit einem Stock auf die Finger, „Ich sehe, ihr habt eure Lektion immer noch nicht gelernt. Hier bestimmen wir über euch. Wir allein. Und nur der Herr Belorrouns will die absolute Macht über euch. Und ich bin sicher, es wird ihm gelingen.“ Ein hässliches Grinsen fuhr über das Gesicht des dürren Mannes.

„Niemals!“, murmelte der schwarzhaarige Junge deutlich hörbar. „Du hast schon zum zweiten Mal gegen die Regeln verstoßen.“, erklärte Herr Maschael mit einem eisigen Lächeln, „Also lernen wir sie zusammen auswendig.“ Er stand auf, packte den in sich zusammengesunkenen Jungen und schleifte ihn zur gegenüberliegenden Wand. Dort war ein großes Schild angebracht.

Regeln Belorrouns, der Schule des Bösen

Im Unterricht wird nicht unaufgefordert gesprochen.

Alle Anweisungen der Lehrer oder höherrangigen Schülern werden befolgt.

Es werden keine Unwahrheiten ausgesprochen.

Es darf niemals gegen die Rangordnung verstoßen werden:

Erster Rang: Direktor, Lehrkräfte

Zweiter Rang: sehr vorbildliche Schüler, Angestellte

Dritter Rang: vorbildliche Schüler

Vierter Rang: Schüler mit befriedigendem Verhalten Fünfter Rang: unterdurchschnittliche Schüler

Gefangene haben keinerlei Rechte und werden deshalb nicht in Ränge eingeteilt

Die Rangordnung gibt vor, welche Kleidung getragen werden darf und an welcher Stelle man steht. Man hat immer die Möglichkeit, im Rang aufzusteigen.

Der Herr Belorrouns ist der einzige, alles, was an einen anderen Herrscher erinnert muss vernichtet werden, ob Gegenstände oder Menschen!

Mit einem ekligen Lächeln nahm Herr Maschael das Schild ab und hielt es so, dass der Junge nicht darauf sehen konnte. „Also.“, fing der Lehrer genüsslich an, „Jamiro, sag mir die Regeln Belorrouns auf!“ „Ähm...“, der Pulsschlag des Jungen erhöhte sich. Er hatte keine Ahnung! Er hatte es nicht einmal für nötig gehalten, sich die Regeln durchzulesen. Das bereute er jetzt. Er konnte sich nicht einmal ausmalen, was mit ihm geschehen würde, wenn er es nicht schaffte. Zutrauen würde er dem Mann, der vor ihm stand, alles. Aber jetzt musste er es versuchen. Eine Regel wusste er wenigstens. „1. Es wird nicht unaufgefordert gesprochen.“, sagte er und hoffte inständig, dass es richtig war. „Weiter!“, zischte Herr Maschael, der wie ein Raubtier auf den erstbesten Moment lauerte, in dem sein Opfer Schwäche zeigte und so für ihn angreifbar wurde. Jetzt konnte Jamiro nicht anders, als zu raten. Das Einzige, was er nicht wollte war, seine Unkenntnis zuzugeben und sich von diesem Verräter verspotten zu lassen. „Mhmm… Die Schüler dürfen sich nicht auf richtige Stühle setzen?“ „Falsch.“, antwortete Herr Maschael triumphierend. Im nächsten Moment zischte es und eine knochige Hand landete in Jamiros Gesicht. Er spürte, wie seine Schläfe pochte. „Die zweite Regel ist: Alle Anweisungen der Lehrer oder höherrangigen Schülern werden befolgt.“ Das schaurige Schauspiel setze sich bis zum Ende des Unterrichts fort. Bei jedem Schlag zuckten die zusammengekauerten Schüler zusammen, bis sie sich schließlich nicht einmal mehr trauten, ihren Freund anzusehen. Doch sie konnten nichts für ihn tun. Das Einzige, was blieb, war zu hoffen, dass es bald aufhörte. Schließlich konnte Jamiro die Regeln auswendig. Sein Gesicht war an manchen Stellen dunkelrot angelaufen und seine Lippe blutete. Stöhnend wischte er sich eines der roten Rinnsale mit dem Zipfel seines verlotterten Ärmels ab. „Sehr schön.“, grinste Herr Maschael, „Das nächste Mal bringe ich dir die Grundsätze der Realität bei. Das wird lustig. Mal sehen, wie viel dann von deinem Hirngespenst namens Gott übrig ist.“ Jamiro kochte innerlich schon seit Stunden. Doch jetzt kochte er über. Er spürte, wie sich Blut in seinem Mund ansammelte. Aber statt zu schlucken, spuckte er dem Lehrer, der gerade mit dem Rücken zu ihm stand, voller Abscheu in den Nacken. Herr Maschael bemerkte die Bescherung erst ein paar Momente später. Er hatte nicht mitbekommen, wer ihn angespuckt hatte. Wutentbrannt schrie er: „Wer war das?“ Keine Antwort. Wenn die Schüler noch etwas länger warteten, würde er sie alle bestrafen. Doch dann hob sich eine schweißnasse Hand. Sie gehörte dem Jungen aus Sinistro. Mit schnellen, wütenden Schritten stampfte Herr Maschael auf ihn zu und spuckte ihm ins Gesicht: „Erster Regelverstoß, Florian!“ Dann schlug er ihn, sodass seine Lippe aufplatze und dickflüssiges Blut hervorquoll. Die Mädchen sogen erschrocken Luft ein. „Vielleicht hilf dir das dabei, deine Spucke nächstes Mal bei dir zu behalten.“, sagte Herr Maschael trocken. Dann verkündete er: „Der Unterricht ist für heute vorbei. Ich habe noch etwas Besseres zu tun, als mich Tag und Nacht mit unbelehrbaren, wertlosen Kindern abzugeben. Man sollte euch alle beseitigen!“

Nachdem Herr Maschael gegangen war, blieb den Schülern endlich Zeit, um aufzuatmen. Sie liefen durch den stinkenden, nur spärlich beleuchteten Keller, bis sie schließlich in einen kleinen Raum gelangten, auf dessen kalten Boden ein paar Decken verteilt waren. Fröstelnd wickelte sich Michal, das Mädchen aus Terabehnas, in die ihre und lehnte sich schwer atmend an die kalte Wand. Nach einer Weile des Schweigens murmelte Jamiro: „Danke, Florian.“ „Kein Problem, das war doch selbstverständlich.“, antwortet dieser und reichte Jamiro freundschaftlich eine Decke.

„Bitte Jamiro, sei nicht immer so vorlaut.“, bat ihn das für sein Alter sehr kleine Mädchen, während es versuchte, seine ausgekühlten Füße mit Wärme zu versorgen.

„Denkst du etwa, ich lasse mir das gefallen, Serach?“, entrüstete sich Jamiro, „Ich stehe zu dem, was ich glaube und lasse mir den Mund nicht verbieten, niemals! Ich bin kein Feigling!“ Serach schluckte. „Manchmal denke ich daran, wie leicht es wäre einfach aufzugeben.“, seufzte sie und schloss die Augen, „Nur ein paar simple Worte und schon wären diese elenden Quälereien vorbei. Du verleugnest Jesus und mit ihm dein ganzes Sein. Alles, was du als richtig erkannt hast, stempelst du als falsch ab, nur damit man dich endlich akzeptiert.“ Jamiro starrte das Mädchen mit großen Augen an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. In Wahrheit kannte er diesen Gedanken nur allzu gut. Er selbst hatte sich diese eine Frage nach seiner Ankunft hier bereits unzählige Male gestellt: War es das wirklich wert? Doch jedes Mal aufs Neue war er zu dem Schluss gekommen, dass es das war. Und er wusste, dass er es schaffen würde. Nicht alleine, aber mit Gottes Hilfe. Er wusste nicht wie und wann, aber er wusste, dass alles gut werden würde und dass er am Ende dastehen und endlich den Sinn seines Aufenthaltes hier erkennen würde. Aber hatte Serach Zweifel? Wollte sie wirklich aufgeben? Michal schien sich mit ähnlich schweren Gedanken zu plagen. „Meinst du wirklich?“, fragte sie leise. „Es ist doch so, oder etwa nicht? Es wäre so leicht.“, jetzt hatte Serach die Augen wieder geöffnet und sah ihre Freunde an. Schließlich fügte sie mit einem Lächeln hinzu: „Aber jedes Mal, wenn ich das denke, spüre ich tief in meinem Herzen, dass der Kampf schon gewonnen ist. Ich werde nicht aufgeben. Komme, was wolle.“ Mit diesen Worten lehnte sie sich wieder zurück. Ihren Freunden fiel ein Stein vom Herzen. Sie konnten Serachs Empfindungen nur allzu gut nachvollziehen. Mit einem Mal erfasste sie alle eine merkwürdige Welle. Sie erinnerten sich daran, wie viel Trost und Mut Gott ihnen während dieser Zeit hier gegeben hatte und wie ihr Glaube gewachsen war. Innerhalb dieser Mauern hatten sie größere Trauer und Furcht denn je in ihrem Leben erlitten. Doch das war nichts im Vergleich zu der Liebe und Freude, die sie jeden Tag neu erfüllte. Gott kümmert sich um seine Leute. Nie zuvor war ihnen das so bewusst gewesen. Schweigend sahen sie sich an. Nach einer Weile griff Michal das ursprüngliche Thema wieder auf: „Du solltest aber wirklich vorsichtig sein, Jamiro.“, mahnte sie ihn, „Weißt du denn nicht, was bei deinem dritten Regelverstoß passiert wäre?“ Jamiro wusste es nicht. Stattdessen antwortete Florian: „Du wärst vor der ganzen Schule ausgepeitscht worden.“ Mit einem Mal wurde die Tür aufgerissen. Einen Moment später stand ein Mädchen mit dunkelbraunen Haaren und blauen, ungewöhnlich funkelnden Augen im Raum. An ihrer Kleidung erkannte man, dass sie zum zweiten Rang und damit zu den besten Schülern gehörte. „Carenszura.“, raunte Serach unheilvoll. „Richtig erfasst!“, grölte das Mädchen grinsend, „Ich komme, um euch zu euren heutigen Herren zu bringen, Sklaven! Jamiro dient heute Eward, Florian Annaschella und Michal mir.“ Sie tat so, als wolle sie wieder gehen, doch dann schien es so, als hätte sie etwas vergessen. Gespielt mitleidig lächelnd drehte sie sich um und säuselte: „Ach ja, die kleine Serach wird leider nicht gebraucht.“ Das auf dem Boden hockende Mädchen war den Tränen nahe. Sie wusste, was das bedeutete. Sie würde heute wieder nichts zu essen bekommen. Noch viel länger würde sie das nicht durchhalten. Zwar war es nicht gerade angenehm, vorbildlichen Schülern, die einen selbst als eine Art Abschaum betrachteten, die Wohnung zu säubern oder die Haare zu flechten, aber immerhin war es dort oben warm und man wurde mit etwas Wasser und einer Scheibe Brot entlohnt. Doch Serach war schon seit sieben Tagen nicht mehr gebraucht worden. Die Anderen hatten versucht, etwas für sie herunter zu schmuggeln, allerdings ohne Erfolg. Ihr Bauch schmerzte schon eine halbe Ewigkeit lang. In diesem Moment fragte sich Serach so ernsthaft wie nie zuvor in ihrem Leben, ob sie den morgigen Tag noch erleben würde. „Wird´s bald? Ich habe heute auch noch etwas Anderes vor, als hier den ganzen Tag lang nur herumzusitzen und dir dabei zuzuschauen, wie du den Boden putzt. Beeil dich gefälligst!“, Carenszura machte ihrem Unmut lautstark Luft. Michal krabbelte flink auf dem marmornem Fußboden herum, von einer Ecke zur anderen und putzte was das Zeug hielt. In ihrer Hand hielt sie einen alten, zerfledderten Lappen. Doch der werten Dame, die es sich in ihrem weichem Sessel bequem gemacht hatte, ging das alles nicht schnell genug. Ohne groß zu überlegen stand Carenszura auf, nahm einen Lederriemen von der Wand und schlug damit zu, um das Gesindel, das ihr da unten den Boden säuberte, zur Eile anzutreiben. Der Schmerz durchfuhr Michal mit der Heftigkeit eines elektrischen Schlags. Sie gab sich alle Mühe, nicht zu jammern, sondern stur und in noch schnellerem Tempo weiterzuarbeiten. Dass Carenszura sie schlug kam nicht selten vor. Besonders die angesehenen Schüler dieser Schule hatten in solchen Dingen keinerlei Skrupel und so viel Achtung vor der Menschenwürde wie vor der Würde einer lästigen Kakerlake. Nach einer Weile verebbten das Zischen des Riemens durch die Luft sowie das hässliche Geräusch, das beim Aufprall erklang, wenn sich der Riemen in Michals Haut einschnitt. Das lag vermutlich entweder daran, dass Carenszura befürchtete, die Arbeitsqualitäten ihrer Sklavin dadurch erheblich zu verschlechtern oder aber daran, dass sie einfach keine Lust mehr hatte. Mit der Miene eines launischen Kindes, das gerade den Spaß daran verloren hat, mit einem neuen Spielzeug zu spielen, zog sich Carenszura wieder in den hinteren Teil ihrer geräumigen Wohnung zurück. Die Zeit verstrich und es wurde Abend. Nachdem Michal sich bereits die Finger wund gearbeitet hatte, kehrte Carenszura schließlich in ihre Nähe zurück. In ihren Händen hielt sie einen alten, riechenden Holzbecher, gefüllt mit Leitungswasser, sowie ein großes Stück steinhartes Brot. Sie legte es vor Michal auf den Tisch und zog sich dann wieder zurück, beinahe so, als wäre das Mädchen in den zerlumpten Kleidern und mit den Striemen auf den Armen ein wildes, verwirrtes Tier, dem jetzt der Fraß vorgeworfen wird. Michal stand auf und ging auf den Tisch zu. Sie gab sich alle Mühe, nicht gebeugt zu wirken, was ihr aber sehr schwer fiel. Diese Schule schaffte es tatsächlich Menschen, die sich dem Willen Anderer nicht hatten beugen wollten, bis aufs Letzte zu entwürdigen. Zaghaft knabberte Michal an dem harten Brot. Sie wartete wie jeden Abend darauf, dass Carenszura sie aus den Augen ließ und sie das Stück Brot mit in den Keller würde schmuggeln können. Doch die Chance, dass ihre Aufseherin endlich gehen würde, war gering. Es war, als hätten sich alle Schüler gegen den „Abschaum aus dem Keller“ verschworen und einen Pakt geschlossen, damit sie Serach nichts zu essen geben konnten. Doch heute war es anders. Nach einer Weile stand Carenszura tatsächlich auf und machte sich daran, den Raum zu verlassen. Bevor sie die Tür öffnete, warf sie Michal einen stechenden Blick zu und spie ihr voller Verachtung entgegen: „Wenn ich wiederkomme, solltest du verschwunden sein. Es sei denn du möchtest die ganze Nacht lang Katz und Maus mit mir spielen.“ Michal fröstelte es. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was Carenszura damit gemeint haben mochte. Als endlich die Tür zuschlug, wagte sie es, das Brot unter ihrer Kleidung zu verstecken. Dann trank sie das Wasser und schlich sich schnellstmöglich durch die düsteren Korridore davon. Unten im Keller angelangt, präsentierte sie Serach lächelnd ihren Fund. Diese schlang das Brot erleichtert, und nicht ohne den harten Teig mit Wasser aufzuweichen, hinunter. Dann sagte sie lächelnd: „Danke!“ Mittlerweile waren auch die Anderen eingetroffen. Zur ihrer aller Überraschung war es auch Florian gelungen, ein Stück Brot mit hinunter zu schmuggeln. Er hielt es Serach hin, doch diese bestand darauf, dass er es sich mit Michal teilte.

Sie flogen über ein sumpfiges Gebiet. Marie, Jonas, Hedwig und Leo lagen betäubt auf Orogs Rücken. Da ging ein Ruck durch den Körper des Fliegulas. Der Vogel wechselte mit einem Mal den Kurs. Hedwigs Körper, der am weitesten außen lag, drohte, in die Tiefe hinabzustürzen. Orog bemerkte dies, machte sich aber nichts daraus. Nachdem das schlafende Mädchen wenig später, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wie ihr geschah, hinabgefallen und mit einem hässlichen Klatschen im Moor gelandet war, wurde die Last auf seinem Rücken endlich leichter. Er flog noch ein paar Kilometer, dann landeten er und ein paar andere Fliegulas inmitten eines dunklen Waldes. Es raschelte. Die Vögel hörten mit einem Mal auf zu singen. Es war gespenstisch still. Aus dem düsteren, undurchsichtigen Gebüsch trat ein alter Mann hervor. Sein Körper war verbraucht und gebrechlich. Und doch richteten sich sofort alle Augen auf ihn. Ihre Augen begegneten den seinen und sogleich umschloss sie alle ein dunkler Schatten. Seine Augen waren schwarz. Natürlich könnte man jetzt vermuten, dass das an dem wenigen Licht lag, das sie umgab. Aber nein, seine Augen waren wirklich schwarz. Und sie schienen die Schwärze noch zu verbreiten. Sobald man sie ansah, wurde man hineingezogen in einen finsteren Sog aus unendlicher Dunkelheit. In diesen Augen las man keine Emotionen. Keine Freiheit. Keine Kraft. Die Leere und Hoffnungslosigkeit waren ansteckend. Das Virus infizierte sogleich jeden der Vögel, die dort vor ihrem Obersten standen und auf seinen Befehl warteten, den er nicht selbst geben würde. Er war nur ein beinahe von allen Lebensgeistern verlassener, alter Mann. Sie warteten. Er kam näher. „Seid gegrüßt, Meister.“, grüßte Orog. Seine Stimme echote tiefer denn je. „Seid gegrüßt.“, erwiderte der Alte. Seine Stimme war überraschend hoch. Fast schon eine Art Lispeln, beinahe ein Zischen. Hätte man sie gehört, hätte man ernsthaft angezweifelt, ob sie von einem menschlichen Wesen stammte. Die Tonlage war so hoch, dass sie die Stimmen aller Kastraten und asiatischen Opernsängerinnen in den Schatten stellte. Doch gleichzeitig war sie so schrecklich. Ihr Klang hallte in den Ohren nach und verursachte Kopfschmerzen. Und sie war tot. Diese Stimme war tot. „Wie viele habt ihr?“, erklang sie noch einmal. „Insgesamt haben wir vierzehn mitgenommen.“, berichtete Orog. Einen größeren Kontrast als zwischen seiner und der Stimme des Alten hätte es nicht geben können. „Sechs haben wir draußen im Moor fallen gelassen.“ „Sehr gut.“, zischte der alte Mann. Ein scharrendes, keuchendes Lachen umhüllte die Ohren aller und ließ ihnen beinahe das Trommelfell platzen. „Fünf nehmen wir als Geiseln und die restlichen drei bringen wir nach Belorroun. Wäre ja möglich, dass sie doch noch zu was zu gebrauchen sind. Und wenn nicht“, er holte erneut Luft, um dieses gesetzeslose Lachen auszustoßen, „unsere Kinderlein brauchen ja auch Versuchskaninchen, nicht wahr?“ „Und wen genau sollen wir als Geiseln nehmen, Professor Schnieddle?“, mischte sich jetzt eine dunkelviolette Flieguladame ein. „Gierskep nehmen wir auf jeden Fall als Geisel.“, grinste Professor Schnieddle, „Nur für den Fall, dass Toskan und Carenszura ein wenig Unterstützung benötigen. Außerdem nehmen wir noch Millers, Munaki, Lellwor und Pevpor. Schneider und Lining kommen nicht aus Iria, ich glaube nicht, dass sie uns als Geiseln etwas nützen würden. Ebenso wenig wie Schakbwa, er ist niemandem wichtig genug. Zumindest niemandem, der wichtig für uns wäre.“, fügte der Alte mit diesem hässlichen, gelbzahnigem Lächeln hinzu. Die Fliegulas befolgten die Anweisungen ihres Obersten. Sie fesselten und knebelten die immer noch schlafenden Schüler und luden die fünf, die als Geiseln dienen sollten, der dunkelvioletten Flieguladame auf den Rücken. Nachdem diese, gebeugt unter der schweren Last, davon geflogen war, wurde Orog noch ein weiterer Junge aufgeladen, der Leo und Marie auf seinem Rücken Gesellschaft leisten sollte. Danach flog der Fiegula davon. Es vergingen mehrere Stunden. Noch war keiner der drei aufgewacht, sodass sie das bedrohliche, steinerne Gebäude, das vor ihnen aus dem dichten Nebel auftauchte, nicht sehen konnten. Doch hätten sie es erblickt, hätte ihnen der Anblick einen kalten Schauer über den Rücken gejagt. Orog landete in einem quadratischen Innenhof, der so aussah, als wäre er Teil einer mittelalterlichen Festung. Doch hier gab es keine Narren, keine rauschenden Feste oder Ritterturniere. Hier gab es nichts. Keine einzige Pflanze war in Sichtweite. Stattdessen konnte man ganz hinten, am anderen Ende des Hofes die Umrisse eines langen Strickes vermuten. Eine Tür knarzte und fiel mit einem lauten Scheppern zu. Eine Gestalt bewegte sich auf die Fliegulas zu und begrüßte sie. „Da seid ihr ja endlich!“, die ungeduldige Stimme gehörte niemand Anderem als Herrn Maschael. „Ich kümmere mich um sie.“ Mit diesen Worten winkte er zwei große, bullige Männer herbei, deren Haut komplett schwarz war. Doch nicht etwa, weil sie zu lange in der Sonne gewesen oder Afrikaner waren. Nein, diese Farbe schien Teil eines seltsamen Kultes zu sein. Jedenfalls sah das Ganze so aus, als sei es Schminke oder Ruß. Sie trugen die drei Schüler mit einer erschreckenden Leichtigkeit in einen Raum, der ausgeschmückt war mit ein paar Betten, einem Tisch und mehreren Stühlen. Es war komplett dunkel, bis Herr Maschael eine Kerze anzündete. Die zwei Männer platzierten die Schüler mit gleichgültigen Mienen in den Betten. Dann verschwanden sie wieder. Herr Maschael blieb bei ihnen. Er setzte sich an den Tisch und fing an, bei Kerzenlicht irgendwelche merkwürdigen Zeichen in ein Papier zu ritzen.

Iria - Der Schlüssel der Macht

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