Читать книгу Iria - Der Schlüssel der Macht - Lea Loseries - Страница 3
Titel
Оглавление,,Leo!“, schrill erschütterte diese furchtbare Stimme seine tiefsten Gedankengänge und ließ ihn sich die Finger in die Ohren stopfen. Und wieder: ,,Leo! Jetzt komm doch endlich! Deine Schwester braucht deine Hilfe!“ ,,Ist ja gut, Frau!“, schimpfte der rothaarige Junge leise vor sich hin, ,,Reicht es nicht, wenn du es einmal innerhalb von ein paar Sekunden sagst? Ich komm ja schon.“ Mit diesen Worten pfefferte er seine Schultasche gegen das große Fenster, dass den Ausblick auf einen üppigen Pool freigab und stampfte schlecht gelaunt die Treppen hinauf in das Zimmer seiner kleinen Schwester. Er hasste es, wenn er gerade erst von der Schule nach Hause kam, vollkommen in wichtige Gedanken versunken, und ihn seine Mutter dann direkt mit irgendwelchen nervigen Lappalien störte, wie zum Beispiel: ,,Leo, räum die Wäsche weg!“ Oder: ,,Leo, zieh dich um, wir bekommen Besuch!“ Und am schlimmsten: ,,Leo, hilf deiner Schwester bei den Hausaufgaben!“ Die Stunden, die er bisher am Schreibtisch seiner kleineren Schwester verbracht hatte, waren die schlimmsten seines Lebens gewesen. Dieses kleine Biest war darauf aus, Aufmerksamkeit zu bekommen und ließ nicht locker, bis sie genug hatte. Oft endeten die regelmäßigen Übungsstunden dann mit Geschrei und irgendwelchen unsinnigen Bestrafungen, die Leo aufgebrummt wurden. So war es zumindest früher gewesen. Aber seit einiger Zeit erntete er als Strafe dafür, seine kleine Schwester zum Heulen gebracht zu haben nur einen enttäuschten Blick von seiner Mutter. Und das war das Allerschlimmste. Jetzt holte er tief Luft und trat durch die Tür in das nach Räucherstäbchen und Parfüm stinkende Kitschloch seiner Schwester. Sie saß bereits am Schreibtisch, die hellblonden Haare mit zig Prinzessin Lillifee Spangen zurückgesteckt und lächelte keck. Als er sich einen Stuhl geholt und mit verkniffenem Gesichtsausdruck neben sie gesetzt hatte, sagte sie: ,,Ich brauche deine Hilfe.“ und starrte demonstrativ auf das vor ihr liegende Blatt Papier. Wieder holte Leo tief Luft. Schon der Anblick dieses Mädchens machte ihn aggressiv. Jetzt würde sie so lange warten, bis sie ihn weichgekocht hatte und er sie ergeben fragen würde, worin das Problem denn bestünde. Aber Leo sagte nichts. Er verkrampfte die Finger und schwieg. Jede Sekunde mit diesem Kind in einem Raum war ein einziger Machtkampf. Das lag vermutlich daran, dass Leo der Einzige in der Familie zu sein schien, der bemerkte, was seine kleine Schwester für ein fieses, manipulierendes Spiel spielte und der es nicht duldete. Doch nach fünf Minuten war er mit seinen Nerven am Ende. Er hielt dieses seine Zeit verschwendende Schweigen und das verkniffene, brave Lächeln seiner Schwester nicht mehr aus. Grob fuhr er sie an: ,,Was willst du denn jetzt von mir? Ich bin nicht dazu da, den ganzen Tag lang hier zu sitzen und Löcher in die Luft zu starren, nur damit du nicht alleine bist.“ Das triumphierende Lächeln im Gesicht seiner Schwester zeigte ihm, dass er verloren hatte. Dann erklärte ihm das Fräulein mit zuckersüßer Stimme, dass es die Mathehausaufgaben nicht verstünde. Seine Schwester war acht Jahre alt und gerade in die dritte Klasse gekommen. Das aktuelle Mathethema war anscheinend der Zahlenstrahl. Auf dem Arbeitsblatt vor ihr waren vier zum Teil unbeschriftete Linien abgebildet, an denen sie die passenden Zahlen ergänzen musste. Eben dies versuchte Leo ihr verständlich zu machen. ,,Also, Sarah-Annabell.“, er versuchte seine Stimme so ruhig wie nur möglich klingen zu lassen, ,,Diese Begrenzungen hier“, er deutete auf besagte Markierungen, ,,stehen immer für fünf Zahlen. Welche Zahl liegt denn fünf Schritte vor der Zwanzig?“ Sarah-Annabell verzog das Gesicht, so als müsse sie fieberhaft nachdenken. ,,Siebzehn.“, lautete eine Minute später die Antwort. Leo verdrehte die Augen. ,,Zwanzig minus fünf. Wie viel macht das?“, fragte er also noch einmal. ,,Siebzehn.“, beharrte seine Schwester trotzig, ,,Wenn ich sage, dass das siebzehn sind, dann sind es auch siebzehn.“ In diesem Moment hätte Leo ihr das Mathebuch am liebsten gegen den Kopf geschlagen. Er war sich sicher, dass sie diese störrische Haltung von ihren Eltern hatte. Er dachte an das eine Mal, als er seinem Vater beim Zusammenbauen eines Regals geholfen hatte. Dieser hatte sich nicht davon abbringen lassen, es spiegelverkehrt zusammenzusetzen und hatte am Ende Leo die Schuld dafür gegeben. ,,Nein, das sind nicht siebzehn.“, seufzte Leo, ,,Rechne nochmal nach.“ ,,Woher willst du denn wissen, dass du Recht hast und nicht vielleicht ich?“, nörgelte seine kleine Schwester da, ,,Ich bin doch viel besser als du.“
Eine Stunde später rannte Leo die Treppen hinunter, griff nach seiner Tasche und beförderte sie mit beachtenswerter Geschwindigkeit und Treffsicherheit direkt in den Mülleimer, der in seinem Zimmer neben dem überdimensionalen Schreibtisch stand. Dann setzte er sich an sein Klavier und spielte. Er hatte keine Ahnung, welches Stück es war, dass sich so eben den Weg aus seinem Kopf in die Finger bahnte, aber für den Moment hörte es sich sehr gut an. So verbrauchte er seine Energie. All seinen Frust, die Wut und die Schuldgefühle ertränkte er in der Musik. Nachdem er eine halbe Ewigkeit gespielt hatte, ließ er sich aufs Bett fallen und lauschte seinem lauten Atem. Als er sich allmählich beruhigt hatte, griff er nach einem Buch und einem Heft, das auf seinem Nachttisch lag. Das Heft enthielt einen Bibelleseplan. Er schlug betreffende Stelle in der Bibel auf und las sie. Als ihm aber in diesem Moment klar wurde, dass die Situation mit seiner Familie so nicht weitergehen konnte, schlug er sie wieder zu. Er musste mit jemandem reden. Deshalb betete er.
,,Hallo, Marie!“, begrüßte sie ihre Mutter fröhlich, nachdem das Mädchen in die Küche der kleinen Mietwohnung getreten war. ,,Wie war es in der Schule?“ Die Elfjährige zuckte mit den Schultern. ,,Eigentlich so wie immer.“, sagte sie dann, ,,Leider haben wir mal wieder zig Hausaufgaben auf.“ Maries Mutter seufzte. ,,Ich verstehe echt nicht, warum die Lehrer euch die Aufgaben nicht einfach in der Schule machen lassen.“, kopfschüttelnd rührte die kleine Frau in der Suppe umher, die sie gerade zubereitete. Dann sah sie ihre Tochter an und sagte: ,,Tut mir echt Leid, Marie, aber ich muss dich heute nochmal bitten, auf Michelle und Edmund aufzupassen, ja? Ich muss nachher noch arbeiten.“ ,,Aber klar, Mama.“, antwortete das Mädchen mit einem leichten Seufzen und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Da hörte sie schon die Schritte ihrer kleinen Geschwister herannahen. ,,Marie!“, rief Edmund, der Jüngere der beiden und hüpfte auf ihren Schoß, wobei ihre Knochen bedenklich knackten. ,,Hallo.“, begrüßte sie nun auch Michelle, ihre Schwester. ,,Mama, was gibt es heute?“, fragte sie dann und beäugte misstrauisch das auf dem Herd stehende Gebräu. ,,Gemüsesuppe.“, war die Antwort. Als sich wenig später alle gesetzt hatten und die Luft von gefräßigem Schweigen und ein paar Schmatzern erfüllt war, fragte die Mutter beiläufig: ,,Geht der Junge von nebenan nicht in deine Klasse, Marie?“ Die Angesprochene strich ihre braunen, gewellten Haare zurück und fragte dann: ,,Welchen Jungen meinst du? So weit ich weiß haben die Schneiders fünf Söhne und eine Tochter.“ ,,Ich meine ihren Jüngsten.“, antwortete ihre Mutter, ,,Er heißt doch Leo, richtig?“ ,,Ja...“, stimmte Marie ihr ein wenig ausweichend zu, ,,Und? Was ist mit ihm?“ ,,Ich habe überlegt, ihn und seine Familie am Sonntag nach dem Gottesdienst zu uns einzuladen. Sie sind doch neu in unserer Gemeinde. Und ich dachte mir, dass du ihm diese Einladung vielleicht überbringen könntest. Ich würde dann nochmal nebenan klingeln und mit seiner Mutter sprechen.“ ,,Was?“, rief Marie ein wenig zu laut und ließ ihren Löffel in die Suppe fallen, sodass es zu allen Seiten spritzte, ,,Das ist doch total peinlich. Ich kenne ihn doch kaum. Und außerdem… wir haben hier doch gar nicht genug Platz…“, gab sie dann ausweichend zu bedenken und schaute sich skeptisch um. Viel Platzt hatten sie allerdings wirklich nicht. Ihre kleine Wohnung bestand aus einer Küche, einem Badezimmer, dem Kinderzimmer von Edmund und Michelle und einem Zimmer, das durch Vorhänge in zwei Bereiche aufgeteilt war; in dem einen schlief Marie und in dem anderen ihre Mutter. ,,Ach papperlapapp.“, antwortete die Frau und zog die Stirn kraus, ,,Wir werden das schon schaffen. Allerdings muss ich euch bitten, eure Zimmer vorher vernünftig aufzuräumen. Dann können wir uns ja über die ganze Wohnung verteilen.“ Ein Stöhnen ging durch den Raum. ,,Und wovon kaufst du dann das ganze Essen?“, fragte Marie aufgebracht. ,,Marie, bitte nicht schon wieder.“, erwiderte ihre Mutter jetzt streng, ,,Du weißt ganz genau, dass wir mehr als genug haben. Immerhin bekommen wir die ganzen Sozialhilfeleistungen. Und momentan habe ich sogar vorübergehend eine Stelle als Reinigungskraft. Also mach dir darum bitte keine Sorgen.“ ,,Ich soll mir keine Sorgen machen?“, rief ihre Tochter jetzt aufgebracht, ,,Seit Papa tot ist leben wir in diesem Loch! Und du bist immer weg, weil du noch was dazu verdienen musst. Wann bitte haben wir das letzte Mal etwas zusammen unternommen? Und nachdem du dir das Geld schwer erarbeitet hast, gibst du es aus, um die fremden, reichen Nachbarn einzuladen in unsere Bruchbude! Was denkst du dir eigentlich?“ Damit stand sie auf, rannte in ihr Zimmer und schlug die Tür zu. Den Rest des Tages war sie in sich gekehrt und kam nicht einmal wieder heraus, um sich von ihrer Mutter zu verabschieden, die kurz nach dem Mittagessen zur Arbeit aufbrach. Als es schließlich Abend wurde und ihre kleinen Geschwister bereits schliefen, hörte Marie, wie sich der Schlüssel im Schloss der Wohnungstür drehte und diese danach mit einem feinen Klicken aufspringen ließ. Marie lauschte weiter, wie die Schritte ihrer Mutter ins Badezimmer schlurften. Nach einigen Minuten kam sie wieder heraus und bewegte sich auf ihr Schlafzimmer zu. Sie hatte mal wieder kein Abendbrot gegessen. Marie fragte sich, wie sie das nach einem langen Arbeitstag aushielt. Insgeheim bewunderte sie ihre Mutter. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie und hatte gegen den Willen ihrer Eltern schon in jungem Alter einen einfachen englischen Soldaten geheiratet, der zu der Zeit in ihrer Heimatstadt stationiert gewesen war. Dann war sie mit ihm weggezogen, um ein neues Leben anzufangen. Als Marie klein war, waren sie regelmäßig umgezogen. Sie konnte sich noch an das Aussehen der Kasernen erinnern und an den gleichmäßigen Rhythmus, der beim Marschieren der Soldaten durch das Aufprallen ihrer schweren Stiefel auf den Boden entstand. Aber dann, viel zu früh, war ihr Vater bei einer Schießerei in eben so einer Kaserne ums Leben gekommen. Einer seiner früheren Kameraden war durch die traumatischen Erfahrungen des Krieges psychisch erkrankt und hatte seine Kameraden angegriffen. Am Ende hatte er sich selbst erschossen. Seit diesem Ereignis lebten sie hier in dieser kleinen Wohnung und schlugen sich durchs Leben. Eigentlich hatte Marie keinen Grund sich zu beklagen. Das wusste sie. Sie hatten genug zu Essen, ein Dach über dem Kopf, sie ging zur Schule, hatte ein gutes Verhältnis zu ihrer Familie und noch vieles mehr. Dennoch wurde ihr der Verlust, den sie erlitten hatten, in manchen Situation nur allzu deutlich vor Augen geführt. Langsam setzte sie sich auf. Ihre Mutter war ins Zimmer gekommen und schob behutsam den Vorhang ein Stück zur Seite. ,,Gute Nacht, Marie.“, flüsterte sie. ,,Gute Nacht, Mama.“, antwortete das Mädchen. Und dann: ,,Tut mir leid, dass ich dich heute Mittag angeschrien habe. Ich weiß, dass es uns gut geht und dass wir dankbar sein können und ein Problem mit unserer Wohnung habe ich eigentlich auch nicht. Aber… ich schäme mich einfach, wenn Fremde alles über uns erfahren. Erfahren, wie wir leben. Besonders diese Familie. Die haben doch sogar Angestellte. Was werden die wohl von uns denken? Wir haben doch viel weniger als die. Außerdem werde ich in der Schule sowieso immer blöd angemacht, weil ich nicht die neusten Klamotten trage, nicht das neuste Handy habe und so weiter. Wie wird Leo wohl reagieren, wenn er erfährt, wie arm unsere Familie im Gegensatz zu seiner ist? Wird er es den Anderen erzählen?“ ,,Das glaube ich nicht.“, sagte ihre Mutter sanft und legte den Arm um ihre Tochter, ,,Außerdem sind wir nicht arm, Marie. Weltlicher Reichtum macht nicht glücklich.“ Marie seufzte, ,,Och, Mama, das hast du mir jetzt schon so oft erzählt. Ja, ich weiß. Ich kann mich daran erinnern, dass du mir erzählt hast, dass deine Eltern nicht glücklich waren, obwohl sie so viel Geld besaßen. Und ich weiß auch, dass du dich genauso gefühlt hast, bis du Papa kennengelernt hast und er dir von Jesus erzählt hat. Ich weiß, dass du immer sagst, dass Gott das wahre Glück gibt. Aber ich merke immer wieder, dass viele das nicht verstehen.“ Nach einer Pause sog Marie blitzartig Luft ein. ,,Ich habe eine Idee!“, rief sie leise genug, damit ihre Geschwister nicht aufwachten, ,,Am Ende unserer Straße gibt es doch diesen Parkplatz am Waldrand. Den mit der Grünfläche und den vielen Bänken und Tischen. Wie wäre es, wenn wir die Schneiders einfach zu einem Picknick dorthin einladen? Jeder kann dann ein wenig zu essen mitbringen und wir machen ein Buffet.“ ,,Klasse Idee.“, stimmte die Mutter ihr sofort zu, ,,Darauf bin ich gar nicht gekommen. Aber ob die sich auf so etwas einlassen? Vielleicht sind sie zu pingelig.“, gab sie dann zu bedenken. ,,Und wenn schon.“ Marie war jetzt so von ihrer Idee begeistert, dass nichts sie mehr stoppen konnte, ,,Entweder sie kommen oder sie kommen nicht. Wenn nicht machen wir eben etwas zusammen als Familie.“
Nachdem Marie sich den Weg die Treppe hinunter und danach durch die Tür auf den Schulhof freigekämpft hatte, sah sie sich umgeben hässlichen, grauen Mauern, die aussahen, als hätte jemand sie absichtlich mit braunem Schlamm eingesprüht, um dem Ganzen ein wenig Farbe zu verleihen. Langsam trottete sie, ihr Pausenbrot in der Hand, über den Schulhof. Normalerweise mochte sie die Pausen, in denen sie einen klaren Kopf bekommen und mit ihren beiden neuen Freundinnen, Annika und Nadja, quatschen konnte. Aber heute war Annika krank und Nadja hatte in den ersten beiden Stunden einen Arzttermin. Also trottete Marie umher und versuchte sowohl selbstbewusst als auch beschäftigt auszusehen, um ja nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Hier war es so wie an jeder anderen Schule: es gab ein paar ,,Coole“, die meinten, ihnen gehöre die Welt und sie könnten mit den Anderen machen, was sie wollten. Und dann gab es da noch die ,,Loser“ und ,,Streber“, die sich von ihnen alles gefallen lassen mussten. Noch war Marie sich nicht ganz sicher, ob sie eher zum unauffälligem Durchschnittstyp oder zur Gattung der ,,Streber“ und ,,Loser“ zählte, aber sie ahnte eher Letzteres. Ein paar Meter weiter vor ihr fand gerade ein Tumult statt. Einige ältere Schüler, die meisten Jungen, standen im Kreis um etwas oder jemanden herum und amüsierten sich köstlich. Marie hoffte inständig ungesehen an ihnen vorbei zu kommen, da sie genau wusste, dass sie für solche Leute ein gefundenes Fressen war. ,,Na, du kleiner Spießer?“, johlte gerade ein etwa vierzehnjähriger Junge mit Pickeln und fettigem Haar, das aussah, als habe er es mit einem Glätteisen bearbeitet und währenddessen die Bravo gelesen, ,,Da wird deine Mami aber stolz sein! Hast gestern wieder eine Eins geschrieben, richtig?“ Dann meinte ein Anderer: ,,Lasst uns doch mal sehen, ob sein Haar Feuer fängt. Die richtige Farbe hat es ja!“ Daraufhin johlten die Anderen und schubsten den bedauernswerten Jungen in der Mitte hin und her, der sich kein bisschen zu wehren schien. ,,Oh, seht mal, hier!“, schallte es als nächstes aus der Menschentraube, ,,Er hat das neueste Smartphone! Das ist ja ein Ding! He, Kleiner, wenn du nicht so mickrig wärst, könntest du bei den Eltern sogar zu uns gehören.“ Und wieder dröhnendes Lachen. Während sie vorbeiging, versuchte Marie einen Blick in die Mitte der Ansammlung aus größenwahnsinnigen Schaufensterpuppen zu werfen. Diese Bezeichnung passte besonders zu den paar Mädchen unter ihnen. Da sah Marie rotes Haar durch einen Spalt hervorlugen. Und dann das Gesicht. Es war Leo! Unschlüssig blieb sie stehen. Sie wollte ihm helfen, wusste aber nicht wie. Bis sie in diesem Durcheinander einen Lehrer finden würde, der bereit war, sich um das Ganze zu kümmern, würde die Pause schon vorbei sein. Doch die Bande fand weiterhin Gefallen daran, Leo zu mobben, obwohl der keinen Laut von sich gab. In diesem Moment kapierte Marie, dass genau das ein Problem war. Die massigen Dummköpfe fühlten sich durch sein Schweigen irgendwie gedemütigt und provoziert und würden wahrscheinlich so lange weiter machen, bis Leo nachgab. Jetzt fingen sie an, seine Sachen zu durchsuchen. In diesem Moment entstand eine Lücke in dem bisher festen Ring, der ihren Klassenkameraden einschloss. Ohne nachzudenken schlüpfte sie hindurch und stand im nächsten Moment neben dem überraschten Opfer. Doch ehe dieser ein Wort sagen konnte, hatten auch die Älteren Marie schon bemerkt. ,,Was willst du denn hier?“, rief eines der Mädchen abfällig. Und ein Anderes: ,,Verzieh dich, du Drecksschleuder!“ Aber Marie blieb. Ruhig sagte sie: ,,Ja, ich werde gehen. Und zwar sobald ihr ihn in Ruhe lasst.“ Sie deutete auf Leo. Plötzlich wurde sie hochgehoben. In einem unbemerkten Moment hatte einer der Jungen sie an der Jacke gepackt und hochgerissen. Jetzt baumelte sie mit ihm auf Augenhöhe. Ihr ganzer Körper wurde durchzuckt von Adrenalin, als dieser wüste Beschimpfungen wie ein unwillkommenes Unwetter auf sie einprasseln ließ. Aber sie würde nicht schlappmachen. Als der Junge endlich geendet hatte, forderte sie mit ruhiger Stimme, er solle sie herunterlassen. Nachdem sie dies noch einmal gesagt hatte und nichts passiert war, hatte sie es satt. Sie spuckte dem Jugendlichen mitten ins Gesicht. Als dieser sie daraufhin mit einem zum Teil erschrockenem, zum Teil entsetzten Aufschrei fallen gelassen hatte und sich blind den Speichel aus den Augen wischte, trat sie mit solcher Wucht gegen sein Schienbein, dass es krachte. Nach einem weiteren Aufschrei ließ der Junge von ihr ab und Leo und sie bekamen die Möglichkeit, zu verschwinden. Als die beiden eine aus ihrer Sicht sichere Entfernung zwischen sich selbst und die Bande gebracht hatten, rief Marie: ,,Tut mir echt Leid, aber wenn du es nicht anders kapierst...“, sie zuckte mit den Schultern und rannte gemeinsam mit Leo davon. Wenig später schnaufte dieser ein heiseres ,,Danke.“, woraufhin Marie abwinkte. ,,Ich soll dich übrigens fragen, ob du Lust hast, am Sonntag gemeinsam mit deiner Familie zum Waldrand zu kommen. Mama, Michelle, Edmund und ich veranstalten ein Picknick und würden uns freuen, euch dabei zu haben.“ Plötzlich änderte sich Leos Gesichtsausdruck. Er wurde abweisend und hart. Ausweichend murmelte er: ,,Ja, vielleicht kommen wir. Mal sehen...“
Lustlos ließ sich Leo auf seinen Stuhl fallen. Wenigstens war sein Platz ganz hinten in der Ecke, sodass er während des Unterrichts niemandem auffiel. Von hier aus hatte er freien Blick auf Marie, die bereits all ihre Materialien fein säuberlich auf dem Tisch vor sich aufgereiht hatte. Er verdrehte lustlos die Augen. Er mochte den Religionsunterricht nicht. Ihr Lehrer war ein kleiner, dünner Mann mit braunen Locken und Nickelbrille, der die Religionswissenschaft zu seinem Steckenpferd gemacht hatte, sodass Leo nicht lange gebraucht hatte, um zu erkennen, dass das, was dieser Mann hier unterrichtete, so gut wie nichts mit dem christlichen Glauben, sondern vielmehr mit Traditionen, Weltanschauungen, schlauen Einwenden zu eigentlich ziemlich unwichtigen Details biblischer Geschichten und der Eintrichterung des modernen gesellschaftlichen Denkens in die Köpfe der Schüler zu tun hatte. So hatte er ihnen beispielsweise in der letzten Stunde einen ellenlangen Vortrag darüber gehalten, dass es den Teufel ja angeblich nicht gäbe, weil die alttestamentliche Weltanschauung ihn als solchen nicht namentlich benenne. Um ehrlich zu sein hatte Leo rein gar nichts von dem hochgesteckten Geschwafel verstanden, das der hochgebildete Lehrer dort vorne auf seiner Bühne zum Besten gegeben hatte. Irgendwann im Laufe der Stunde hatte Marie sich gemeldet, um darauf hinzuweisen, dass aber sämtliche neutestamentliche Stellen von der Existenz des Teufels sprechen. Was der Lehrer darauf geantwortet hatte, hatte Leo noch weniger verstanden, als das, was er davor zu hören bekommen hatte. Aber eines war für ihn jetzt glasklar: diese Religionswissenschaft oder Theologie, die Herr Schmitz studiert hatte und nun an sie weitergab hatte extrem wenig mit dem zu tun, woran Leo glaubte und wonach er lebte. Von Gott wurde so geredet, als sei er ein schöner Einfall von jemandem, der gerade etwas zu viel Frischluft abbekommen hatte und ob er nun tatsächlich existierte oder nicht war gar nicht die Frage. Im Unterricht zählte einzig und allein, dass sich jeder der Schüler ein eigenes Wertesystem und eine eigene Weltanschauung zusammenzimmerte, die er bei Bedarf sogar schlüssig begründen konnte. Eine Wahrheit gab es in Herrn Schmitz Unterricht nicht. Für jeden war das wahr, was er wahrhaben wollte. Und gesucht wurde nach ihr auch nicht. Stöhnend bettete Leo seinen Kopf auf die Arme, die er soeben ineinander verschränkt auf den Tisch gelegt hatte. Jetzt fing der ganze Mist wieder an. Aber halt: erst die Begrüßung. Zu seinem Leidwesen musste Leo dafür aufstehen. Da er so in Gedanken versunken gewesen war, war er jetzt der Letzte, auf den noch gewartet wurde. Manche, darunter auch der Lehrer, sahen ihn vorwurfsvoll an. Andere kicherten. Na super, Leo, dachte der Junge bei sich. So viel zu nicht auffallen. Herrn Schmitz motiviertes: ,,Guten Morgen, liebe Klasse 5a!“ verursachte bei ihm sogleich Kopfschmerzen. Als die Begrüßungszeremonie endlich vorbei war, ließ er sich wieder auf seinen Stuhl fallen. ,,Heute beschäftigen wir uns mit der Bibel.“, fing Herr Schmitz an, während er amüsiert auf seinen Fußspitzen auf und ab wippte, ,,Wie der aufmerksame Teil unter euch vielleicht bereits bemerkt hat, habe ich eine sehr spezielle Einstellung zu diesem Thema. Ziel unserer Lektion soll sein, dass ihr verschiedene Meinungen kennenlernt, euch selbst eine bildet und diese begründet. In dieser Stunde möchte ich euch meine Sicht der Dinge vortragen und bin mir sicher, dass ihr vieles von mir übernehmen könnt. So, zu Anfang möchte ich klarstellen, was die Bibel überhaupt ist.“ Zu dieser Frage nahm er mehrere Schüler dran, die alle sehr unterschiedliche Antworten hatten. Das Spektrum reichte von: ,,Ein Gesetzbuch!“ über ,,Die heilige Schrift der Christen!“ bis zu ,,Ein unnötiger Staubfänger!“ Dann wurde Marie aufgerufen. ,,Gottes Wort.“, sagte sie wie selbstverständlich. Der Lehrer sah sie mit einem merkwürdigem Gesichtsausdruck an. Dann lachte er heiser. ,,Nein, genau das eben nicht.“, murmelte er und fuhr weiter fort: ,,Also, liebe Schüler. Die Bibel ist tatsächlich nur eine Ansammlung alter Geschichten, von Menschen aufgeschrieben und verändert und nicht etwa Gottes Wort.“ Er schnaufte verächtlich. ,,Wenn ihr etwas älter wärt, würde ich euch jetzt einige Bibelstellen analysieren lassen und euch daran verdeutlichen, wie wunderbar man der Bibel gerade die Deutung entziehen kann, die man eben hören möchte. Aber da das leider noch nicht geht...“ Gegen Ende der Stunde sollten sie ihre eigene Meinung von der Bibel, zunächst noch unbegründet, zu Papier bringen. Leo starrte mutlos auf das Blatt vor sich. ,,Gott“, betete er leise in Gedanken, ,,ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ So kam es, das Leo am Ende der zehn Minuten immer noch kein Wort aufgeschrieben hatte. Zu seinem Pech wurde er auch noch aufgerufen. Unsicher sah er den Lehrer an. Doch von einem Moment auf den nächsten war all seine Angst und die Unsicherheit plötzlich weg. ,,Wissen sie was“, sagte er und schaute Herrn Schmitz fest in die Augen, ,,nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber ich halte nichts von Ihrer Meinung über die Bibel. Ich glaube, dass die Bibel Gottes Wort ist. Ich glaube, dass Gott durch sie zu uns spricht. Ja, sie wurde von Menschen aufgeschrieben, aber ich glaube an einen Gott, der Menschen lenkt. Ich glaube an einen Gott, der allmächtig ist und vor allem lebendig. Ich muss mich in meinen Glauben nicht an irgendwelche seltsamen Philosophien oder Deutungen klammern. Ich habe nach der Wahrheit gesucht. Und gefunden habe ich einen Gott, den man erleben kann.“ Als Bekräftigung für diesen Ausspruch ließ Leo seinen immer noch leeren Block vor sich auf den Tisch fallen, sodass noch mehr befremdete Blicke auf ihm hafteten als sowieso schon. Alle starrten ihn an. Herr Schmitz sagte nichts. Aber dann fiel dem Lehrer doch noch etwas ein. ,,Willst du damit also sagen, dass das, was du glaubst stimmt und alle Anderen sich irren?“, fragte er aufgebracht. Langsam nickte Leo. ,,Ja.“, sagte er, ,,Ich bin Christ. Und das bedeutet weitaus mehr, als dass ich die Möglichkeit in Betracht gezogen habe, dass es einen Gott geben könnte. Ich verstehe auch nicht, warum sie sich so darüber aufregen. Dass ich von dem, was in der Bibel steht, überzeugt bin, heißt ja noch lange nicht, dass sie das auch sein müssen. Das ist ihre Entscheidung. Aber es gibt nur eine Wahrheit. Entweder, es gibt Gott oder es gibt ihn nicht. Ich selbst weiß, dass es ihn gibt.“ Danach hörte man nur noch beklemmende Stille. Das einzige freundliche Gesicht, dass Leo in diesem trostlosen Raum voller Ablehnung entdecken konnte war Maries. Sie lächelte.
Am Sonntagmorgen stand Marie auf und räkelte sich. Sie hatte ihrer Mutter schon von Leos sonderbarer Antwort auf ihre Einladung hin erzählt. Aber da diese sich bereits mit Frau Schneider abgesprochen hatte, gingen alle davon aus, dass sie bei dem nachmittäglichen Picknick nicht alleine sein würden. Gähnend öffnete Marie das Fenster. Die frische, kühle Luft, die daraufhin durch ihre zerzausten Haare fuhr, tat ihr gut. Am liebsten hätte sie gemeinsam mit den Vögeln gesungen, so sehr freute sie sich auf den Tag, unabhängig davon, was er bringen würde. Selbst auf den Gottesdienst freute sie sich. Sie war jemand, der gerne lernte und sowohl im Unterricht, als auch während der Predigten aufmerksam zuhörte. Als sie jünger gewesen war, hatte ihr die fürs Wochenende frühmorgendliche Stunde zu schaffen gemacht, in der sie aufstehen musste, um zum Gottesdienst zu gehen. Einmal hatte sie sogar versucht, gemeinsam mit ihrer Schwester ihre Mutter mit Plakaten und wilden Demonstrationsausrufen davon zu überzeugen, sie weiter schlafen zu lassen. Mittlerweile war das anders. Jetzt war für sie der Tag zum Handeln und die Nacht zum Schlafen da und nicht umgekehrt. Manchmal nahm sie diese selbsternannte Regal allerdings ein bisschen zu genau, was ihr in Zukunft noch einige Scherereien mit ihren Freunden bereiten würde… Nachdem der Gottesdienst zu ende war und sich ihre Mutter und Frau Schneider endlich voneinander losgerissen hatten, um nach Hause fahren und die Sachen für das Picknick vorbereiten zu können, lag Marie in ihrem Zimmer inmitten von unzähligen, winzigen Staubmilben und nieste, sodass ihr die Augen tränten. Sie war unter ihr Bett gekrabbelt, um dort nach dem verschollenen überdimensionalen Mikado zu suchen, dass sich ihrer Meinung nach bestens für ein Picknick eignete. Als sie es endlich gefunden hatte, drängte ihre Mutter bereits zur Eile. Also sprang das Mädchen auf, befreite ihre Hose von den Fusseln, zog sich schnell ein anderes Oberteil an und kämmte sich die Haare. Dann rannte sie aus dem Haus. Dort wartete ihre Mutter bereits mit vorwurfsvollem Gesichtsausdruck auf sie. ,,Wir kommen noch zu spät.“, schimpfte sie. ,,Mama, bitte.“, stöhnte Marie, ,,Du wirst heute noch genug Zeit haben, um mit Frau Schneider zu quatschen. Angefreundet habt ihr euch ja scheinbar schon. Außerdem kommt Leo nie pünktlich zum Unterricht.“ Um diesen Satz zu bekräftigen zog sie geräuschvoll die Nase hoch. Nachdem sie sich von ihrer Mutter hatte anhören müssen, dass von Leo ja nicht auf die ganze Familie Schneider zu schließen sei und dass er eben anscheinend genau so trödelig sei wie sie, waren sie endlich an der Picknickwiese angelangt. Die Schneiders waren noch nicht zu sehen. Also breiteten sie schon einmal das Essen aus und verteilten es auf die Tische. Da bog plötzlich ein ganzer Schwarm rothaariger Leute um die Ecke, die schnell auf die kleine Familie zukamen und zu Maries großer Erleichterung ebenso viel zu Essen mitgebracht hatten wie sie. Ihrer Schätzung nach könnte man mit dem, was sie hier soeben zusammengetragen hatten, ein ganzes Dorf ernähren. Wenig später saßen sie alle beisammen, redeten, aßen und spielten. Glücklich lehnte sich Marie zurück und schloss die Augen. Alles lief wunderbar, bis zu dem Zeitpunkt, als sie plötzlich ganz genau spürte, wie sich eine Spannung zwischen Leo und seiner kleinen Schwester breitzumachen schien. Das Mädchen keifte bereits wild herum und wollte Leo bei seiner Mutter anschwärzen.Um die Situation zu entschärfen und einen Streit zu verhindern, schlug Marie ihrem neuen Freund vor, in ihre Wohnung zu gehen und ein weiteres Gemeinschaftsspiel zu holen. Leo willigte sichtbar erleichtert ein. Während sie von der nachmittäglichen Hitze der Sommersonne umhüllt die Straße entlang gingen, fragte Marie beiläufig: ,,Alles okay mit dir und deiner Familie?“ Sie hatte bemerkt, dass Leo sich während es Picknicks irgendwie nicht wohl gefühlt hatte. Er antwortete nicht gleich. Doch dann holte er tief Luft und sagte: ,,Naja, es geht. Meistens bin ich ziemlich genervt von denen. In meiner Familie bin ich halt der Außenseiter. Ich hätte lieber so eine wie deine.“ ,,Das glaube ich kaum.“, wiegelte Marie ab, ,,Hast du nicht sogar erzählt, dass ihr letzten Sommer alle zusammen auf Island Urlaub gemacht habt?“ Leo nickte achselzuckend.
,,Das ist ja wahnsinnig!“, rief Marie begeister, ,,Die vielen Vulkane und Geysire… die Natur muss ja atemberaubend gewesen sein. Ganz zu schweigen von der interessanten Kultur.“ ,,So toll war es nun auch wieder nicht.“, brummte Leo, ,,Nächstes mal wollen wir in die USA. Das wird bestimmt spannender. Und du? Warst du denn noch nie im Ausland?“ ,,Nie.“, murmelte Marie, ,,Oh doch, klar.“, fiel ihr dann plötzlich ein und ein Strahlen fuhr über ihr Gesicht, ,, Als mein Vater noch lebte, waren wir ab und zu in England und haben unsere Verwandten besucht.“ ,,Schön.“, sagte Leo und versuchte zu lächeln. Aber irgendwie gelang es ihm nicht. Er, der ständig Knatsch mit seiner Familie hatte, machte dauernd irgendwelche Auslandsreisen, die er eben deshalb nicht genießen konnte und Marie hatte seit Jahren keinen anderen Ort mehr gesehen als diesen hier? War das denn möglich? Noch während er seinen Gedanken nachhing, fiel sein Blick auf das Postauto, das gerade vor Maries Haustür parkte. ,,Scheint so, als würdet ihr einen sehr wichtigen Brief bekommen.“, sagte er und runzelte die Stirn, ,,Was macht ein Postauto denn hier an einem Sonntag?“ ,,Keine Ahnung.“, antwortete Marie befremdet die Stirn runzelnd und beschleunigte ihren Schritt. Kurz bevor sie ankamen fuhr das Auto wieder davon. ,,Merkwürdig.“, murmelte Leo, dem wegfahrenden Auto zugewandt. ,,Was?“, hakte Marie nach. ,,Scheint so, als sei das Auto aus dem Ausland.“, bemerkte Leo skeptisch, ,,Hast du nicht auf das Nummernschild geachtet? So eins habe ich wirklich noch nie gesehen.“ In diesem Moment ahnte keiner der beiden, dass dieses Postauto bald ihr Leben verändern und sie letztlich zu einer großen Reise einladen würde. Zu Maries erster Auslandsreise seit dem Tod ihres Vaters und zu Leos bester. Flink glitten Maries Finger in das mit ihrem Namen beschriftete Postfach und zogen einen Brief heraus, der vorne mit einem roten Wachsiegel verschlossen war, der ein ihr unbekanntes Wappen zeigte. Schnell brach sie den Wachs auf und zog einen von Hand mit Tinte beschriebenen Zettel aus dem Umschlag hervor. Ihre Augen wanderten in gespannter Erwartung über das Papier. Je mehr der Worte, die dort geschrieben waren, den Weg in ihr Bewusstsein fanden, desto größer wurden ihre Augen. Für einen Moment legte sie den Zettel beiseite, um den Umschlag genauer unter die Lupe zu nehmen. Er war ganz eindeutig an sie adressiert. ,,Jetzt mach es nicht so spannend!“, drängelte Leo, ,,Was steht da denn?“ Statt einer Antwort gab Marie ihm das Blatt und setzte sich auf die Stufen vor ihrer Haustür. Leo las. Je mehr er las, desto unlogischer erschien ihm alles.