Читать книгу Iria - Der Schlüssel der Macht - Lea Loseries - Страница 8
Titel - 3
ОглавлениеWas bei den Jungen allmählich für Ruhe sorgte, ließ die Mädchen noch lange nicht schlafen. Nachdem Hedwig sich von der Last ihrer unfreiwilligen Schlammkur befreit hatte und es ihr gemeinsam mit Marie endlich gelungen war, die Koffer zu entleeren, fragte sie hellwach: „Wollen wir noch zu den anderen Mädchen gehen? Wir könnten ihnen ja… ach, nein, das mit dem Gang bleibt ja unser Geheimnis.“, sie lächelte peinlich berührt und fügte hinzu: „Schade eigentlich. Sonst hätten wir jetzt etwas zu erzählen gehabt.“ „Ich bin mir sicher, dass dir auch so die Worte nicht ausgehen.“, bemerkte Marie keck, „Aber wollen wir jetzt wirklich noch mit denen reden? Die schlafen doch bestimmt schon fast alle.“ Hedwig schnaufte. „Von wegen.“, meinte sie, „Eben noch putzmunter durch die Gänge gepoltert und jetzt im Tiefschlaf, na klar. Komm schon!“ „Na schön.“, gab Marie nach und tröstete sich mit dem Gedanken, vor Aufregung sowieso nicht einschlafen zu können. Bereits im Flur trafen sie auf zwei ihrer Klassenkameradinnen. Das große, schlanke Mädchen mit den langen schwarzen Haaren und spanischem Akzent stellte sich als Anna vor. Neben ihr stand die Kleine, etwas molligere Fabienne. Bald schon fingen sie an, ihren restlichen Abend gemeinsam zu planen. „Wir könnten Brettspiele spielen.“, schlug Anna vor. „Oder die Schule erkunden.“, ergänzte Fabienne mit blitzenden Augen. In diesem Moment sah Hedwig ihre Chance, zum zweiten Mal an diesem Tag ein kleines Abenteuer zu erleben, winkend und flatternd auf sich zu schweben. „Die Schule erkunden klingt super.“, warf sie ein, bevor jemand Anderes sie zu weniger interessanten Brettspielen verdonnern konnte. „Wer ist dabei?“ Wenig später standen die vier etwas ratlos vor der Tür zum Speisesaal und hielten verzweifelt nach etwas Neuem Ausschau. Ganz so wie gestrandete Kapitäne, die sich nach Tagen des Hungers und des Durstes danach sehnen, endlich den Mast eines Segelschiffs am immer gleichbleibend leerem Horizont zu entdecken. „Da können wir lang.“, sagte Hedwig plötzlich, als sie die unscheinbare Tür neben der Treppe zum Ostturm bemerkte und machte die Anderen mit dem Finger fuchtelnd darauf aufmerksam. Sekunden nachdem sie die Tür aufgestoßen hatten, stießen sie mit einer Elftklässlerin zusammen, deren lange, blonde Haare sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte.
„Huch! Was macht ihr denn hier?“, rief sie erstaunt aus, „Ich dachte, diese Räume hier werden euch erst morgen gezeigt.“ Bei diesen Worten warf sie zusätzlich einen vielsagenden Blick auf die Uhr, ganz so, als wolle sie die Mädchen nonverbal ins Bett schicken. „Ja, schon...“, druckste Anna herum. „Bevor wir einschlafen wollten wir eben unbedingt wissen, wie es im Rest des Gebäudes aussieht.“, erklärte Hedwig.
„Na gut, wenn das so ist“, das fremde Mädchen schmunzelte und gab sich einen leichten Ruck, „ich kann euch gerne noch schnell herumführen. Mein Name ist übrigens Esther. Und wer seid ihr?“ Nachdem die vier Mädchen sich vorgestellt hatten, folgten sie Esther einen breiten, schummrigen und vom flackernden Licht der Kerzen hell erleuchteten Gang entlang. Nach wenigen Metern hielt Ester an und öffnete eine Tür. Neugierig traten die Mädchen ein. Zu ihrer aller Erstaunen war der Raum ziemlich groß und hatte verhältnismäßig viele Fenster. An der Wand ihnen gegenüber standen mehrere Klaviere, daneben ein Schlagzeug, Trommeln und verschiedene, kastenförmig verpackte Instrumente, wie Geigen oder Posaunen. In dem großen Regal, das die eine Wand vollständig bedeckte, konnten die Mädchen allerlei kleinere Instrumente, sowie wahnsinnig viele Notenhefte und zusammengeklappte Notenständer entdecken. „Das ist unser Musikzimmer.“, erklärte Ester, „Hier können sich die Schüler jederzeit an den verschiedensten Instrumenten ausprobieren. Ihr dürft sie euch sogar ausleihen und mit aufs Zimmer nehmen, vorausgesetzt natürlich, ihr behandelt sie gut.“ „Und wem müssen wir Bescheid sagen, wenn wir uns etwas ausleihen wollen?“, fragte Marie interessiert. „Frau Mühlstein, unsere Bibliothekarin ist für den ganzen Bereich hier zuständig.“, antwortete Esther. „Und wer schleppt mir das Klavier den Ostturm herauf, falls ich in Ruhe üben möchte?“, fragte Hedwig lachend und betrachtete staunend das große Instrument. „In so einem Fall kannst du dir den Raum für eine Stunde reservieren.“, schmunzelte Esther. Nachdem Hedwig aufgegeben hatte, darüber zu diskutieren, ob sie jetzt, mitten in der Nacht, Schlagzeug spielen durfte, gingen sie weiter. Der nächste Raum war gefüllt mit verschiedenen Spielen, die meisten davon waren Brettspiele. Überall verteilt standen Tische, an die man sich setzen konnte, um seine Freizeit so zu gestalten. Als nächstes kamen sie in die Bibliothek. Leider war Frau Mühlstein schon schlafen gegangen, sodass Hedwig sie nicht um die Erlaubnis bitten konnte, mit den Instrumenten Krach zu machen. Marie fand einige sehr interessante Bücher und sie beschloss sich diese bei der nächsten Gelegenheit nacheinander auszuleihen. Als letztes kam der Gemeinschaftsraum. Dort waren Sofas, Sessel und Sitzkissen über das ganze Zimmer verteilt, meist in Nähe des großen, in die Wand eingelassenen Kamins, dessen Feuer aber bereits erloschen war. Am Ende des Flurs befand sich noch eine weitere Tür. Esther erklärte: „Hier geht es zu den Zimmer der Oberstufenschüler.“ Sie gähnte und fuhr fort: „Ich gehe dann auch mal ins Bett. Aber vorher muss ich den Bereich hier noch abschließen, das habe ich Frau Mühlstein versprochen.“ Also begleitete sie die vier in die Eingangshalle. Dort verabschiedete sie sich und wünschte ihnen eine gute Nacht. Nachdem die Tür hinter Esther ins Schloss gefallen war und vernehmlich klickte, hörte die Mädchen auf einmal in einem der Gänge Stimmen. Langsam bewegten sie sich Richtung Ostturm. Als sie an besagtem Gang vorbeikamen, wurden sie Zeugen davon, wie Professor Ferono und Herr Maschael heftig miteinander diskutierten. Doch verstehen konnten sie aus dieser Entfernung kein Wort. Unsicher blieben sie am Treppenabsatz stehen. Marie wollte einfach nur zurück in ihr Zimmer und sich schlafen legen, doch Hedwig schien andere Gedanken zu haben. Ebenso Fabienne. Leichthin sagte Letztere: „Ich wollte Professor Ferono sowieso noch fragen, wann wir unsere Schuluniformen bekommen.“ Im nächsten Moment ging sie bereits schnurstracks auf die beiden sich gedämpft streitenden Lehrer zu, dicht gefolgt von Hedwig. Marie und Anna folgten etwas zögerlich. Jetzt konnten sie ein paar Gesprächsfetzen aufschnappen. Bei jedem Schritt wurden die Worte klarer, bis sie schließlich alles einwandfrei verstehen konnten. Jetzt waren die Mädchen nur noch wenige Meter von den beiden entfernt, doch die Lehrer waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie die vier nicht bemerkten.
„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie ihren Frust nicht an unseren Schülern auslassen dürfen!“, zischte Professor Ferono sowohl eindringlich, als auch empört. Jetzt war es an Herrn Maschael, etwas zu erwidern. Seine Stimme war wesentlich lauter. „Ach ja? Habe ich das denn?“, fragte er mit wütend blitzenden Augen, die so weit aufgerissen waren, dass man befürchtete, sie im nächsten Moment aus ihren Höhlen heraus kullern zu sehen. Seine Fäuste hatte er geballt und seine schmalen Lippen so stark zusammengekniffen, dass man nur noch weiß sah. Sprich: man sah ihm an, dass er Schwierigkeiten hatte, sich zu beherrschen. „Oh ja, das haben Sie.“, sagte Professor Ferono in einem eisernen Tonfall, „Machen Sie ruhig so weiter! Sie wissen ja, das dies hier ihre Bewährungsprobe ist. Wenn Sie versagen, ist es erst einmal vorbei!“
„Du hinterlistige Schlange!“ Erschrocken über das laute Gebrüll zuckten die Mädchen zusammen. Nachdem Herr Maschael seiner Wut genug Ausdruck verliehen hatte, wurde seine Stimme wieder etwas leiser. Er packte die Schulleiterin am Arm und zerrte sie mit sich, während er sich über sie beugte und fragte: „Na, was hast du ihnen erzählt? Was auch immer es ist, bestimmt werde ich mit deiner Hilfe alles wieder in Ordnung bringen!“ „Lassen Sie mich los!“, schrie Professor Ferono und versuchte sich zerrend aus der Umklammerung ihres unheimlichen Kollegen zu befreien, „Und überhaupt, wie kommen Sie dazu, mich zu duzen?“ Auf diese Frage hin fuhr eine seltsame Regung durch Herrn Maschaels verkniffene Züge. Jetzt verfestigte er seinen Griff um den Arm der Schulleiterin so stark, dass diese sich vor Schmerzen krümmte. Verängstigt und unfähig, irgendetwas zu tun, standen die Mädchen daneben. „Lassen Sie mich los!“, wiederholte Professor Ferono mit belegter Stimme und spannte ihren ganzen Körper an. Als Herr Maschael nicht reagierte, geschah etwas sehr Sonderbares: die gutmütige, schlanke Frau, die einen Kopf kleiner war als der vor Wut rasende Herr Maschael, löste sich mit einigen geschickten Griffen aus seiner Umklammerung, packte ihn und riss ihn zu Boden. Einige Sekunden lang behielt sie diese Stellung bei und schaute dem verblüfften Mann direkt ins Gesicht. Die Mädchen zerbrachen sich auch Wochen danach noch den Kopf darüber, was er in den sonst so freundlich funkelnden Augen der Schulleiterin gelesen haben mochte, das eine solche Reaktion rechtfertigte. Kurz darauf rappelte sich Herr Maschael nämlich panisch auf, rannte in sein Büro und schloss sich ein. „Weg hier!“, zischte Marie, sobald sie fähig war, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Blindlinks und ohne nachzudenken, rasten die vier Mädchen zurück in ihre Zimmer. Dort ließen sie sich sprachlos auf ihre Betten fallen.
Als Marie versuchte einzuschlafen, löste sich ihre eingetrocknete Zungen dann doch vom Gaumen und sie begann, das Entsetzen mit ihrer Freundin zu teilen. „Was war das denn?“, fragte sie leicht zitternd, was vermutlich zum größten Teil an der Kälte im Raum lag. „Ich weiß es nicht.“ war die Antwort.
In der Nacht wälzte sich Hedwig unruhig hin und her. Sie wurde schon seit Wochen von immer ein und demselben Alptraum gequält. Es war schrecklich. Nacht für Nacht sah sie bleiche Gestalten in schwarzen Umhängen, die um ein Feuer tanzten, schauerlich lachten und gequält mit kurzen Stöcken auf dem Boden herumstampften. Sie hatte Angst. Angst vor den Spinnereien ihres eigenen Gehirns. Und Angst davor, was dieser Traum vielleicht bedeuten könnte. Doch plötzlich war etwas anders. Sie hörte diese eine Stimme zum ersten Mal und wahrscheinlich auch zum letzten. Denn eigentlich hätte sie sie gar nicht hören dürfen. Sie hörte sich an, als sei sie schon seit ewiger Zeit tot. Sie fing an, unzusammenhängende Sätze von sich zu geben. Doch der Klang ihrer Worte lösten in Hedwig Angst und Zweifel aus. Plötzlich konnte sie verstehen, was die Stimme sagte. Daraufhin setzte Hedwig sich im Schlaf auf und warf wie verrückt mit Kissen nach den Geräuschen. Sie wollte nichts mehr hören. Nachdem einige Zeit vergangen war, in Hedwigs Empfindung eine Ewigkeit, hörte es auf. Dann war die Stimme wieder da, so klar wie nie zuvor. „Du bist viel zu menschlich, um die Wirklichkeit zu sehen… gib nach… Werde zu deinem eigenen Wohl blind, wie auch diese.“ und in ihrem Traum sah sie die Namen. Sie sah sie, verstand sie aber nicht. Auf einmal wurde sie stutzig. Einen Namen erkannte sie. Die Erinnerung wurde schlagartig wach. Ein verschwundenes Mädchen.
Schreiend und schwitzend wachte Hedwig auf. Sie konnte sich an nichts erinnern, nur daran, dass es furchtbar gewesen war und sie keine Ahnung hatte, was das sollte. War das nur ihr Gehirn oder eine Art Botschaft? Sie wusste es nicht. Auf einmal war ihr eiskalt. Zitternd vergrub sie sich in ihrer Bettdecke und nickte wieder ein. Wunderbare Ruhe umgab sie nun. Um sie herum spürte sie nun einen unendlich starken Schutz.
„Ahhmm...“, Jonas räkelte sich behaglich in seinem Bett. Es war bereits 8:30 Uhr, das Frühstück war schon vorbei und die Schüler sollten sich am ersten Tag um 9:00 Uhr unten in der Einganghalle treffen. Nach ein paar wirklich beherzten Versuchen, die Augen zu öffnen gab Jonas es auf. Er würde hier wohl noch so lange liegen bleiben müssen, bis die Müdigkeit von ihm abgefallen war. Und das konnte dauern. Zufrieden und mit fest geschlossenen Augen lehnte er sich zurück. Leo war bereits wach, hatte sich fertig gemacht und seinen Koffer ausgeräumt. Jonas hoffte inständig, dass er ihn frühstens fünf vor neun zum Aufstehen zwingen würde. Da klopfte es an der Tür. „Herein.“, sagte Leo, der seinen Schulbademantel trug, da er vermutete, dass ihnen noch die Schuluniformen gebracht werden würden. Ein großer, kräftiger junger Mann trat ein, mit glänzend schwarzem Haar und einer fadenförmigen Verbrennung, die sich über seine gesamte linke Gesichtshälfte zog. Man sah ihm an, dass er Südostasiat war, allerdings nicht von der kleinen, niemals ernst dreinblickenden Sorte, die das r nicht aussprechen kann. Er hatte breite Schultern und durch sein entstelltes Gesicht sah er durchaus furchteinflößend aus. Dennoch zierte ein breites, ungläubiges Grinsen sein Gesicht. „Aufstehen, Jungs! In einer halben Stunde erwarte ich euch unten. Hier sind eure Schuluniformen.“ Jetzt blieb Jonas nichts übrig, als ein Auge zu öffnen. Blinzelnd musterte er den Mann, der Leo die Schuluniform zuwarf. Dieser fing sie geschickt auf. Um sich nicht zu blamieren und des Anstands halber, quälte sich auch Jonas jetzt aus seiner geliebten Bettdecke und stand einen Moment später unsicher auf seinen beiden Füßen. Doch bereits im nächsten Moment flog etwas wie ein Stück Stoff in einer solchen Geschwindigkeit auf ihn zu, dass er versuchen musste, es abzuwehren und bei diesem Versuch direkt wieder auf seinem Bett landete, das, empört über die grobe Behandlung, ohrenbetäubend quietschte. Als Jonas sich von dem kleinen Schock erholt hatte, merkte er, das das Stück Stoff, das auf ihm lag, seine Schuluniform war und das der Lehrer ihn grinsend ansah. Was für eine Blamage! Doch zum Glück verließ der Mann wenig später das Zimmer, nicht ohne die Jungen vorher noch einmal zur Eile zu treiben. Immer noch schläfrig klaubte Jonas die jetzt auf seinem ganzen Bett verteilten Kleidungsstücke zusammen. Die Schuluniform bestand aus einer schwarzen, eng anliegenden Jeans, einem roten Pullover, dessen Ärmel mit einem goldenen Faden gesäumt waren und einem schwarzen Gürtel. Natürlich gab es noch weitere dazu passende Stücke, wie zum Beispiel Strümpfe, ein T-Shirt, Mützen, Jacken und Schuhe. Diese allerdings sahen so unbequem aus, dass Jonas beschloss, sich bei der nächstbesten Gelegenheit selbst schwarze Turnschuhe zu kaufen. Nach wenigen Minuten waren die Jungen tatsächlich fertig umgezogen. Zwar standen Jonas blonde Haare ihm wie elektrisiert zu allen Seiten ab und Leo hatte es nicht geschafft, die Kleidung vom Boden aufzuheben und zum Schrank zu transportieren. Dennoch standen sie nun tatsächlich im Flur und waren im Begriff, hinunter in die Eingangshalle zu gehen, um nicht zu spät zu kommen. Dort war bereits die gesamte Klasse eingetrudelt. Sie sahen alle merkwürdig aus: immer in dieselben Farben gekleidet und recht verschlafen. Unter den Mädchen konnten die Jungen auch Hedwig und Marie entdecken. Beide hatten sich für dieselben Kleidungsstücke entschieden wie die Jungen. Nur zwei der Mädchen trugen anstelle der Hose einen goldenen Rock mit roten Streifen. „Ah, da seid ihr ja endlich!“, begrüßte sie eine Lehrerin mit dunkler Hautfarbe, „Wir haben schon auf euch gewartet. Dann kann es ja endlich losgehen.“ Leo stöhnte leise, als ihm klar wurde, dass sie trotz ihrer Pünktlichkeit immer noch die Letzten zu sein schienen. „Mein Name ist Frau Nalisa und das ist mein Kollege Professor Xynulaikaus.“ Sie deutete auf den Lehrer, mit dem Jonas und Leo bereits Bekanntschaft gemacht hatten. „Ich unterrichte Hebräisch, aber noch seid ihr nicht alt genug, um in den Genuss meines Unterrichtes zu kommen.“ Sie lachte auf, „Dafür könnt ihr an meiner Spanisch AG teilnehmen, wenn ihr wollt.“ Bevor die Frage gestellt werden konnte, berichtete nun auch Professor Xynulaikaus: „Und ich unterrichte Griechisch und bin der Leiter der Schwertkampf AG.“ Nun ergriff wieder die fröhliche Lehrerin das Wort: „Ich glaube, jetzt solltet ihr euch auch noch vorstellen. Schließlich möchten wir ja wissen, mit wem genau wir in der nächsten Zeit zusammenleben.“, wieder lachte sie auf, „Erzählt einfach, was ihr möchtet, euren Vor- und Nachnamen, euer Alter, eure Hobbys… was auch immer euch einfällt.“ Bei diesen Worten schaute Marie skeptisch zu Leo hinüber. So wie sie ihn einschätzte hatte er genauso wenig Lust, einen Vortrag über sein Leben zu halten wie sie. Und sie hatte recht. Sein Gesichtsausdruck sprach deutlich genug. Da niemand freiwillig anfing zu sprechen, sondern alle nur unsicher schwiegen, wählte Frau Nalisa Hedwig aus, um mit der Vorstellungsrunde zu beginnen. „Ich bin Hedwig Ela.“, begann diese etwas zögerlich, „Ich bin bald elf Jahre alt und das Fach, das ich am wenigsten mag ist Irianische Geschichte.“ Sie rümpfte die Nase, als hätte sie etwas Ekelhaftes gerochen. Das löste die Stimmung ein wenig und ein paar Schüler kicherten. Als nächstes stellte sich Anna als Anna Kastanja vor, die keine Bohnen mochte und danach Fabienne Millers, dessen Lieblingsessen Süßigkeiten waren. Danach sagte ein Mädchen mit sehr heller Haut und asiatisch anmutenden Gesichtszügen: „Ich heiße Basillje Usats, komme aus dem Norden von Kanada und freue mich, dass es hier so warm ist.“ Irgendwann ging das gesamte Gespräch vor Lachen unter. Zuvor stellte sich noch ein irianisches Mädchen namens Natascha Sudanie vor und dann ein kleiner, braunhaariger Junge als Werner Zeitlich. Außerdem waren da noch der schwarzhaarige Achmed Orgül, ein israelitischer Junge namens Jakob Willis und der ewig grinsende Mino Karell. Die witzige, ja fast ein wenig dämliche Vorstellungsrunde nahm ein abruptes Ende, als Jonas sich mit seinem ganzen Namen vorstellte. Er war anscheinend entweder total in Gedanken versunken gewesen oder hatte sich zu sehr auf die Erzählungen der Anderen konzentriert, jedenfalls kam er mit seinem Namen durcheinander. Er stellte sich als
„Jonas Lieskep“ vor. „Heißt du nicht Gierskep?“, fragte Leo halb verwundert, halb lachend. Die anderen Klassenkameraden grinsten nur dümmlich, doch die Mienen der Lehrer waren plötzlich starr. Jonas berichtigte sich etwas verwirrt und sah sich dann dem nächsten Problem gegenüber gestellt: die Lehrer schienen ihm seinen Nachnamen nicht glauben zu wollen. „Bist du sicher, dass du nicht vielleicht doch Lieskep heißt?“, fragte Professor Xynulaikaus prüfend. Nach kurzem Überlegen antwortete Jonas genervt: „Ja, ganz sicher!“ Der Lehrer machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch da stellte sich schon Leo mit seinem Namen und dem Zusatz vor, dass er überrascht über das gute Essen in diesem „Internat“ sei. Doch die Sache mit dem Namen schien noch nicht aus der Welt geschafft zu sein. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen, aber die Lehrer schienen höchst beunruhigt zu sein.
„Sisa, könntest du dich noch ein paar Minuten länger als abgemacht um die Klasse hier kümmern? Ich muss dringend mit Professor Ferono sprechen.“, entschuldigte sich Professor Xynulaikaus schließlich. Daraufhin erwiderte die Frau: „Kein Problem, Suro, die Elftklässler sind froh, wenn ich nicht pünktlich bin. Ich kann solange ja ein paar Fragen klären.“ Und so verschwand er.
„Tyra!“, rief Herr Xynulaikaus, noch bevor er die Tür zum Büro der Direktorin zugeschlagen hatte, „Wo bist du denn?“ „Hier bin ich.“, klang es hinter einem der Bücherregale hervor. Ein paar Sekunden später trat Professor Ferono mit einem überraschten Gesichtsausdruck in das Blickfeld ihres Besuchers. „Warum bist du so aufgeregt?“, fragte sie verwundert. „Dieser Junge heißt wirklich Jonas Gierskep!“, verkündete Professor Xynulaikaus ohne Umschweife und so aufgewühlt, als sei es eine fürchterliche Nachricht. Nach ein paar Sekunden Stille, in denen die Schulleiterin Zeit hatte, zu begreifen, wovon er sprach, seufzte sie: „Ja, ich weiß.“ Professor Xynulaikaus kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und runzelte die Stirn. „Aber warum sagst du ihm dann nichts?“, fragte er verständnislos.
„Weil wir uns nicht hundertprozentig sicher sind.“, antwortete Professor Ferono geduldig, „Sigor Maschael soll ruhig selbst sein wahres Gesicht zeigen, wir sollten ihn nicht einfach so hinterrücks enttarnen. Falls er es überhaupt wirklich ist...“ „Aber warum nicht? Warum erzählt er dir nichts? Man könnte ihn doch darauf ansprechen und dann würde sich vielleicht alles klären.“ „Er spricht nicht mit mir, Suro.“, stoppte Professor Ferono seinen Redefluss, „Außerdem haben wir keine Beweise. Er würde alles abstreiten.“ „Und was wenn nicht?“, fragte der Lehrer aufgeregt, „Was ist, wenn er doch nicht so gefühlskalt ist, wie wir ihn eingeschätzt haben?“ Etwas in den Augen der Direktorin änderte sich. Sie erinnerte sich. Ihr sonst so freundlicher, aufgeschlossener Gesichtsausdruck verhärtete sich und in ihre Augen trat etwas bleischweres, berechnendes, das alle Schönfärberei enthüllte. Dann sagte sie etwas, dass Professor Xynulaikaus noch mehr verwirrte. „Wir müssen nicht nur auf Jonas aufpassen Suro, sondern auch auf uns. Wir dürfen nicht unbedacht handeln. Wir müssen mit allem rechnen. Und wir dürfen nicht jedem mehr blind vertrauen.“
Sobald Professor Xynulaikaus zurückkehrte, wurde er von seiner gut gelaunten Kollegin empfangen, die ihm berichtete, dass sie die Schüler bereits den AGs zugeteilt hatte. Jonas und Leo hatten sich für die Bibelkickermannschaft gemeldet, Marie und Achmed für die Schwertkampf AG, Fabienne und zu Maries großem Erstaunen auch Hedwig für den Chor und Natascha und Werner für die Spanisch AG. Der Rest wollte Musikunterricht nehmen. Nachdem Professor Xynulaikaus Marie und Achmed versichert hatte, dass er sich sehr freue, sie in seiner AG begrüßen zu dürfen, wurden der Klasse die Räume gezeigt, die die Mädchen bereits am letzten Abend besucht hatten. Dieses Mal durfte Hedwig sogar Schlagzeug spielen. Als sie jedoch merkte, wie laut es tatsächlich war, gab sie bestürzt auf und sagte kopfschüttelnd: „Taub werde ich wenn ich alt bin sowieso noch. Bis dahin will ich es aber so weit wie möglich hinauszögern.“ „Wusstest du etwa nicht, wie ein Schlagzeug klinkt?“, fragte Jakob lachend. „Nein, wusste ich nicht.“, antwortete Hedwig gekränkt, „Wir haben zu Hause nicht einfach so mal eins rumstehen, auch wenn das bei dir vielleicht normal ist.“ „Ist es nicht, aber in unserer Welt gibt es Internet.“, antwortete Jakob stirnrunzelnd, „Da musst du einfach nur auf einem Display herumtippen und schon läuft die Musik, die du hören möchtest.“ Nach einer hitzigen und mehr oder weniger sinnvollen Debatte zwischen Irianern und Nichtirianern über das Internet ging es weiter. In der Bücherei trafen sie Esther, die Hedwig, Marie, Fabienne und Anna freundlich zuwinkte. Außerdem machten sie Bekanntschaft mit Frau Mühlstein, der Bibliothekarin. Sie war eine sympathische, ältere Frau, die ihre langen, weißen Haare offen trug. Wenig später spazierte die Klasse über den sonnendurchfluteten Innenhof in eines der Nebengebäude, das jedoch direkt an das Hauptgebäude angebaut war. „Früher gab es eine Tür zwischen den beiden Häusern.“, erzählte Frau Nalisa und schmunzelte, „Ungünstigerweise befand sich diese inmitten der Schulküche und die Schüler sind mit ihren dreckigen Uniformen immer von den Unterrichtsräumen durch die Küche in das Hauptgebäude und anders herum gelatscht. Das hat unseren damaligen Küchenchef wahnsinnig gemacht. Deshalb müssen die Schüler und Lehrer jetzt immer außen herum laufen.“ Mit diesen Worten traten sie ein. Die langen Flure waren, genauso wie im Hauptgebäude, mit Fackeln beleuchtet und an jeder Tür stand der Name des Faches, das in dem Raum unterrichtet wurde. Auf der Tür des ersten Raumes, den sie betraten, stand in goldenen Buchstaben das Wort „Zukunft“. Mit einem langgezogenen: „Hä?“, machte Werner seiner Verwirrung ohne Umschweife Luft.
„Mein großer Bruder hatte aber erst ab der neunten Klasse Zukunftsunterricht. Ich dachte, wir haben ganz normal Politik?“ „Da hast du recht.“, stimmte Professor Xynulaikaus ihm bei, „Aber der Politikunterricht findet auch in diesem Raum statt. Unterrichten wird euch Professor Ferono.“ Nachdem alle zwölf Schüler in den mittelgroßen Raum eingetreten waren, staunten sie nicht schlecht. Es sah aus wie in einem kleinen Palast. Die Wände waren mit sehr dunklem, ja fast schwarzem Holz vertäfelt und der Fußboden nicht mit Teppich, sondern mit dunklen Marmorplatten bedeckt. In der Mitte des Raumes waren mit weißen Marmorplatten merkwürdige Zeichen gelegt. „Was bedeutet das da?“, fragte Jonas und deutete fragend auf den Fußboden. Professor Xynulaikaus wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als Marie schon zu sprechen begann. „Das sind die beiden griechischen Buchstaben Alpha und Omega, also der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets.“ Jonas verstand den Zusammenhang zwischen diesen Buchstaben und dem Unterrichtsraum zwar immer noch nicht ganz, dennoch nickte er schweigend und schaute sich weiter um. Die ganze Klasse war still. Alle bewunderten die bunten Bilder an den Wänden, auf denen Bibelstellen dargestellt waren und die sich im Wind, der durch die zwei großen Fenster drang, wiegten. Die roten, mit kleinen Sonnen bestickten Gardinen, die die Fenster umrahmten, verliehen dem Raum etwas Gemütliches. Vorne hing statt eines nie funktionierenden, fetten Aktivboards eine große, dunkle Schiefertafel und davor standen die aus dunklem Holz angefertigten Tische und Stühle, sowie das Lehrerpult. Auf den Stühlen lagen rote, ebenfalls mit kleinen, goldenen Sonnen bestickte Kissen. „Wow.“, staunte Natascha, sobald sie ihren offenen Mund wieder zugeklappt hatte, „Das sieht ja ganz anders aus als in den Grundschulen. Obwohl ich aus Iria komme, hatte ich keine Ahnung, wie die Unterrichtsräume hier ausgestattet sind!“ Werner grinste. „Ich bin froh, dass es hier anders aussieht, als in unserer alten Schule. Erinnerst du dich noch an die ganzen Tierchen, die uns während des Unterrichtes Gesellschaft geleistet haben? Spinnen, Mäuse, Kakerlaken...“ „Igitt!“, rief Fabienne bestürzt, woraufhin Werner seine Ausführungen aus Rücksichtnahme beendete. Der nächste Raum, den sie betraten, war der Fachraum für Irianische Pflanzen und Tiere. Er sah genauso aus wie der letzte, nur, dass die Gardinen und Kissen hier grün waren und das Muster auf dem Boden ganz klar eine Rebe mit vielen Weintrauben darstellte. Am Pult stand eine ältere Frau, die ihre weißen Haare zu einem strengen Dutt zusammengebunden hatte und gerade dabei war, undefinierbare Zeichnungen an die Wände zu hängen. Sie begrüßte die Schüler freundlich und stellte sich als Professor Grünschnabel, ihre zukünftige Lehrerin in IPT, vor. Genauso wie viele andere Lehrer auch, trug sie einen roten, mit Goldfaden bestickten Umhang. Als sie wieder zurück auf den Flur traten, flüsterte Leo Jonas zu: „Also Geldprobleme scheint diese Schule ja nicht zu haben. Du solltest dir mal die Räume ansehen, in denen man bei uns zu Hause unterrichtet wird!“ „Nein, danke.“, grinste Jonas, „Ich glaube, ich will gar nicht wissen, wie es da drin aussieht!“ Er wollte noch etwas hinzufügen, doch plötzlich erstickte ohrenbetäubender Lärm seine Worte. Die Schüler brauchten einen Moment, um zu realisieren, woher dieser Lärm kam. Doch bald wussten alle, dass die Glocken im Ost- und Westturm ununterbrochen läuteten. Die Schüler schrien wild durcheinander, ohne dass irgendjemand den anderen verstehen konnte. Leo konnte sich aus dem Stimmengewirr nur erschließen, dass das Glockengeläut eine höchste Alarmstufe signalisierte. Es musste etwas Furchtbares passiert sein. Erschrocken fingen die beiden Lehrer an, ihre Schüler zurück in das Hauptgebäude zu lotsen. Auf ihrem Weg in die Einganghalle gesellten sich immer mehr Leute zu ihnen. Unter ihnen waren Schüler, Lehrer, Reinigungskräfte und Köche. Es herrschte allgemeiner Tumult. Hedwig spürte, wie sich die Angst aufgrund der Ungewissheit langsam von ihrem Bauch aus im gesamten Körper ausbreitete. Als ihr Blick auf einen schwitzenden, leichenblassen Wachmann fiel, der eigentlich das Tor hätte bewachen sollen und jetzt doch mit ihnen floh, fing sie an zu schreien. Es war fürchterlich. Alle guten Vorsätze, die im Fall einer Katastrophe eingehalten werden sollten, damit das Ganze geordnet abfolgen würde, waren vergessen. Niemand wusste, was geschehen war, aber bei allen zeigte der lähmende Geruch der Gefahr seine Wirkung.