Читать книгу Iria - Der Schlüssel der Macht - Lea Loseries - Страница 9
Titel - 4
ОглавлениеMarie schossen plötzlich Bilder durch den Kopf, die sie bis jetzt nur in ihren schlimmsten Alpträumen gesehen hatte. Ein Soldat, dessen Augen Wahnsinn, Hass und Trauer versprühten und der wild um sich schoss. Und dann ihr Vater, der ihr aus den Wogen der Menge zurief, sie solle sich in Sicherheit bringen und kurz darauf selbst verstummte. Die Tränen und Schweißperlen, die ihr Gesicht benetzten, bemerkte sie nicht. Auch Jonas war völlig aufgelöst. Er atmete heftig und zitterte am ganzen Körper. Der Einzige, dem es zu diesem Zeitpunkt noch möglich war, die Lage mit den Augen eines Menschen im Besitz eines gesunden Verstands zu betrachten, war Leo. Er sah Menschen, die panisch umherliefen. Lehrer und ältere Schüler, die verzweifelt versuchten, die Ängstlichen zu beruhigen und ein wenig Ordnung in die Situation zu bringen. Er sah vor Angst verzerrte Gesichter, spürte die Spannung wie Knistern in der Luft und roch den Schweiß des Wahnsinns. Kaum wurde er selbst von dieser hoffnungslosen Stimmung mitgerissen, fiel die Tür des Speisesaals mit einem lauten Krachen zu und wurde verriegelt. Die Glocken hatten aufgehört zu läuten. Sie waren in Sicherheit. Jetzt war es mit einem Schlag still. Vorne stand Professor Ferono und wies die Schüler und Lehrer so ruhig wie möglich an, sich an die Tische zu setzen. Für die meisten war das kein Problem, dennoch gab es einige, deren Augen panisch glänzten und die der Schreck lähmte. Als auch das Stühlerücken endlich verstummt war, begann die Schulleiterin zu sprechen: „Die Polizei und ein Sondereinsatzkommando werden gleich hier sein und die ganze Sache aufklären. Das Einzige, was wir in dieser Situation auf keinen Fall tun dürfen ist, den Kopf verlieren.“ Plötzlich schien es so, als seien ihr die Worte ausgegangen. Leo vermutete, dass sie mehr wusste, als sie preisgab, sich aber nicht traute, es ihnen zu sagen. „Werden wir sterben?“, fragte ein Achtklässler mit zittriger Stimme. Professor Ferono antwortete so gefasst wie möglich: „Wenn Krieg herrscht und du mit deiner Familie im Keller sitzt, während die Bombenflieger über deine Stadt fegen, kannst du diese Frage dann mit Sicherheit mit Ja oder Nein beantworten?“ Ein paar wenige jüngere Schüler fingen an zu weinen, doch in diesem Moment stand Frau Mühlstein auf, trat nach vorne und begann einfach damit, aus einem Buch vorzulesen. Heute weiß keiner von ihnen mehr, worum es in diesem Buch ging. Aber alle erinnern sich daran, wie sehr es sie beruhigte. Nach und nach wurden sie still und lauschten den Klängen, die beruhigend aus dem Mund der alten Frau drangen. Sie mussten eine Ewigkeit so dagesessen und geschwiegen haben. Jedenfalls kam es ihnen so vor. Doch plötzlich zerriss ein Poltern an der Tür die Stille. Die Menge zuckte zusammen. Professor Ferono stand auf und ging, um zu öffnen. Niemand nahm Notiz von der eigenartigen Blässe, die sich bei jedem weiteren Schritt auf ihr Gesicht legte. Dann erklang eine laute Stimme: „Es ist alles in Ordnung, machen Sie sich keine Sorgen. Die Gefahr ist vorbei!“ Ein helles Aufatmen ging durch den Saal. Wenig später standen zwei Polizisten im Raum. Der eine winkte den Schülern freundlich zu, während der Andere jeden Einzelnen mit ernstem Gesichtsausdruck musterte. Er stapfte nach vorn und bemühte sich darum, die allgemeine Aufmerksamkeit zu gewinnen. „Ist irgendjemand zu Schaden gekommen?“, war seine erste, mürrische Frage. Keiner antwortete. Ein stummes, erleichtertes Kopfschütteln durchfuhr die Reihen. Der Polizist nickte zufrieden und fuhr dann fort: „Der Grund für die Auslösung dieser Katastrophe ist“, er machte eine Pause, womöglich, um die Spannung zu steigern und durchbohrte sowohl Schüler als auch Lehrer mit eisernen Blicken. „Dass sich eine gewisse Person bei uns gemeldet und falschen Alarm geschlagen hat.“ Wieder war da diese künstlerische Pause, die die Nerven der Anwesenden fast zum Zerreißen brachte. Zum Glück fuhr jetzt der andere Polizist mit den Erläuterungen fort, und zwar mit wesentlich freundlicherer Stimme. „Vor etwa einer Stunde hat der Postbote ein Päckchen ohne Absender an eurer Schule abgeliefert. Einer der Wachmänner war gerade dabei es hineinzubringen, um es der Direktorin auf den Schreibtisch zu legen.“ Jetzt wurde der freundliche Mann von dem Anderen unterbrochen, der wichtigtuerisch fortfuhr: „In diesem Moment erhielten wir die Meldung, dass sich in eben diesem Päckchen eine Bombe befinden würde.“ Bei dem Wort „Bombe“ ging ein überraschtes und sogleich verängstigtes Raunen durch den Saal. „Also benachrichtigten wir die Schulleitung und der Wachmann erhielt die Anweisung, das Päckchen schnellstmöglich an einen Ort zu bringen, an dem es weniger Schaden anrichten kann und dann Alarm zu schlagen.“, fuhr der freundlichere der beiden Männer fort, „Als wir hier ankamen, um das Ganze zu untersuchen, stellte sich heraus, dass in dem Päckchen lediglich ein Wecker lag, der übrigens genau in dem Moment anfing zu klingeln, als ein Fachmann das Päckchen öffnen wollte.“ Der Polizist grinste. Das gab dem anderen Zeit, die Erzählung weiterzuführen. „Kurz gesagt: wir wurden für dumm verkauft und es wurde Panik geschürt. Das war weder legal noch besonders witzig. Und wir bitten euch, es sofort zu melden, falls ihr wichtige Anhaltspunkte zu diesem Fall liefern könnt.“ „Das bedeutet“, erläuterte der zweite Polizist, „dass ihr uns alles sagen solltet, was euch wichtig erscheint, damit wir den Täter finden können.“ Leo dachte nach. Er hatte an diesem Tag wirklich nichts Ungewöhnliches bemerkt. Es hatte keinen Streit gegeben und niemand fehlte. Sein Blick schweifte suchend durch die Reihen. Nachdem er alle ihm bekannten Schüler gefunden hatte, suchte er nach den Lehrern. Plötzlich fiel ihm etwas auf: Herr Maschael war nicht da. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch drehte er sich nach Esther um, die hinter ihm saß und die ihm die Mädchen bereits vorgestellt hatten und fragte leise: „Hast du Herrn Maschael heute schon gesehen?“ Nach einer kurzen Überlegung schüttelte Esther entschieden den Kopf. „Nein, unser Unterricht bei ihm ist ausgefallen. Warum, weiß ich auch nicht. Aber darüber wird Professor Ferono sicher Bescheid wissen und der Polizei davon berichten, falls das wichtig sein sollte. Wieso fragst du?“ „Ach, ist mir nur so aufgefallen.“, wiegelte Leo ab. Merkwürdig fand er das Ganze trotzdem.
Nachdem die Schüler wieder aus der Einganghalle entlassen worden waren und sich einigermaßen von dem Schrecken erholt hatten, der ihnen durch Mark und Bein gefahren war, zerstreuten sie sich in alle Richtungen. Leo, Hedwig, Jonas und Marie beobachteten durch ein Fenster hindurch, wie die Polizei wieder abzog. Oder, um es korrekt auszudrücken: abflog. Denn das, was sich dort draußen vor ihren Augen abspielte, war mit das Kurioseste, was Leo und Marie je gesehen hatten. Dort draußen hatte sich gut ein Dutzend riesiger Vögel in den unterschiedlichsten Farben versammelt, auf denen jeweils mehrere Polizisten Platz nahmen. Dann flogen die Vögel ab, bis sie am Himmel nur noch als schwarze Punkte zu erkennen waren. „Was ist das?“, fragte Leo und schaute bittend zu Marie, ganz so, als würde er sie anflehen, ihm zu sagen, dass sie diese Tiere auch sah und es sich nicht nur um eine Illusion handelte. „Das?“, fragte Hedwig ein wenig pikiert, „Du meinst wohl: wer. Tiere haben auch eine Persönlichkeit und besonders die Intelligenz der Fliegulas ist durchaus mit der des Menschen vergleichbar.“ „Fliegu… was?“, fragte Marie verdutzt. „Fliegula.“, erklärte Jonas, „Riesenvögel. Sie werden oft als Transportmittel eingesetzt. Sie sind sogar ökologisch abbaubar und brauchen keine fossilen Brennstoffe, um zu fliegen.“ Hedwig sah ihn mit böse blitzenden Augen an.
„Ökologisch abbaubar?“, keifte sie, „Du hast sie ja wohl nicht mehr alle! Das sind Lebewesen, also behandel sie gefälligst mit ein bisschen mehr Respekt!“ „Ach, und ich bin kein Lebewesen, dass du mich so anschnauzen kannst?“, empörte sich Jonas und stemmte die Hände in die Hüften. Dann schüttelte er den Kopf und stieß verächtlich Luft aus. „Du immer mit deinem Tierfimmel. Weiß gar nicht, was an denen so toll sein soll.“ Bald klingelte die Essensglocke und befreite Leo und Marie mit ihrem Klang von den sinnlosen Streitereien zwischen Jonas und Hedwig. Nach dem Essen setzten sich die vier Freunde in den Spieleraum und versuchten, die wirren Ereignisse des Vormittags so weit wie möglich aus ihren Köpfen zu verbannen. Die helle Mittagssonne warf einen dunklen Schatten auf den Felsvorsprung. Wenig später schob die Hand des Mannes einen Gullydeckel zur Seite. Der Unbekannte verfing sich mit seinem schwarzem Umhang in einem der eisernen Stege, die in die Wand eingelassen waren, sobald er einige Meter in das enge Gewölbe hinabgestiegen war. Doch kein Wort drang von seinen Lippen. Wenig später war da ein Gang. Seine Schritte hallten gespenstisch von den Wänden wider. Zielstrebig und mit langen Schritten bewegte er sich auf ein gusseisernes Tor zu. Die Wachposten wichen zurück, als er kam und gewährten ihm eilig Eintritt. Sobald er in das Gebäude eingetreten war, vernahm man eine Mädchenstimme. „Da bist du ja endlich! Die Schriften sind fertig. Sie werden so viel Verwirrung stiften, dass nichts mehr eins sein wird. Die Leute werden sich gegenseitig von ganz allein zerstören. Wann können wir sie verteilen?“ Ein schreckliches Wort aus dem Mund des Unbekannten und… Stille.
Ein paar Stunden später ließen sich Leo, Marie, Jonas und Hedwig das Abendbrot schmecken. Der Rest des Tages war ereignislos geblieben. Einzig und allein das schwüle Spätsommerwetter hatte ihnen noch zu schaffen gemacht. Sobald sie einen Großteil der belegten Brote verputzt hatten, legten sie sich schlafen. Doch in der Nacht spielte sich nicht allzu weit von ihnen entfernt ein blutiges Spektakel ab. Die Gierungen im dunklen Wald, durch den sie auf ihrem Hinweg zur Schule gekommen waren, stritten miteinander. Ihr Streit kam jedes Mal einem Gemetzel gleich. Doch dieses eine Mal war es besonders schlimm. Es waren nicht zwei oder drei Gierungen, die bis zum Tod miteinander kämpften. Nein, es waren mehr. Die Luft war erfüllt von verschiedensten Geräuschen. Ab und zu ließ einem das schaurige Heulen und Klagen das Blut in den Adern gefrieren. Manchmal war es auch ein Todesschrei, der einem einen Schauer über den Rücken jagte. Doch die meisten von ihnen schrien nicht, wenn sie starben. Nein, sie mordeten. Denn das, was sie der Welt hinterlassen wollten, war keine Botschaft, kein letzter Gruß, sondern einzig und allein purpurfarbenes, frisches Blut. Und dabei nicht nur ihr eigenes. Der Geruch war kaum auszuhalten. Die messerscharfen Krallen konnte man beinahe auf der eigenen Haut spüren. Die mittelgroßen Tiere waren hungrig. Blut spritze, Köpfe rollten, etwas schmatzte. Doch all das konnte man ja nicht sehen. Es war zu dunkel. Und doch sah man es. Sobald einer umgebracht worden war, fiel der Mörder über den Kadaver her und saugte gierig seine Innereien heraus. Doch die Freude über diesen Triumph hielt nicht lange. Auch er fand schnell den Tod. Der einzige Gierung, der sich nicht am Kampf beteiligte, war ein Weibchen. Es gebar stetig neue Kinder und seine Geburtsschreie gingen unter in dem lebensverachtendem Schauspiel. Die Gierungen griffen sich nur gegenseitig an. Keiner wusste, woher sie stammten und wie sie tatsächlich aussahen.
An diesem Morgen wachte Jonas pünktlich auf. Nachdem Leo im Badezimmer verschwunden war, schaute er auf den Stundenplan und atmete auf. Ihm fiel es jedes mal schwer, sein Gehirn am frühen Morgen in Gang zu bekommen. Da kamen die zwei Stunden Sport gerade recht. Während er sich noch den Schlaf aus den Augen rieb, zog er seine Schuluniform an. Da quietschte die Tür zum Badezimmer und Leo kam zurück. „Können wir von hier aus eigentlich auch irgendwie mit unseren Eltern kommunizieren? Wäre schön, wenn sie mir etwas Geld schicken würden, sie haben ja schließlich genug davon.“, fragte er, während er versuchte, aus einem dreckigen Berg von Socken zwei der gleichen Farbe herauszusortieren. Dies gelang ihm jedoch nicht. Seufzend stellte er fest, dass er den Tag heute wohl als Pippi Langstrumpf würde verbringen müssen. Doch das störte ihn nicht weiter. Viel mehr interessierte ihn jetzt das Geld. „Natürlich.“, erklärte Jonas beflissen, „Du kannst ihnen Briefe schreiben und sie unserem Postboten, Herrn Lilo mit auf den Weg geben.“ „Ach, ist das der, der uns den Brief von Professor Hermann gebracht hat?“, fragte Leo grinsend. „Genau der.“, bestätigte Jonas. Doch dann kam er plötzlich auf ein ganz anderes Thema zu sprechen. „Willst du deinen Eltern wirklich nur schreiben, damit sie dir Geld schicken?“, fragte er und eine Spur von Trauer lag in seiner Stimme. Leo war die ganze Sache unangenehm. „Naja...“, druckste er herum, „irgendeinen Gewinn sollte man ja daraus ziehen, wenn man welche hat.“ „Wenn ich Eltern hätte, würde ich sie ganz bestimmt nicht zuerst nach Geld fragen.“, entrüstete sich Jonas, „Ich würde Zeit mit ihnen verbringen und ihnen von der Schule und dem allem hier erzählen. Unterhältst du dich denn nie mit ihnen? Fragst du sie nie, wie es ihnen geht? Oder reden sie etwa nicht mit dir?“ Jetzt wurde es Leo zu viel. Dass Jonas sein Freund war, berechtigte ihn noch lange nicht dazu, ihn über sein gesamtes Leben auszuhorchen, ihn zu kritisieren und ihm Vorschriften zu machen. Außerdem hatte er einen wunden Punkt getroffen. „Worum ich meine Eltern bitte und worum nicht ist immer noch meine Sache. Du hast überhaupt nichts damit zu tun.“ Aber das war noch nicht alles, was er sagen wollte. Er wollte Jonas unmissverständlich klarmachen, wie sehr ihn sein Gerede nervte. Außerdem begann ihm da etwas mehr und mehr die Luft abzuschnüren. Es musste raus, bevor er ersticken würde. Und so setzte er wütend und unüberlegt hinzu: „Nur weil du keine hast, heißt das noch lange nicht, dass Eltern so etwas wie Engel sind. Meiner Erfahrung nach machen die ständig irgendwelche Fehler. Wenn du meinst, du würdest so gut mit deiner Mutter zurechtkommen, wenn sie noch leben würde, toll. Ich tu das jedenfalls nicht. Du hast doch überhaupt keine Ahnung.“ Die Bitterkeit in seiner Stimme war nicht überhörbar. Jonas sah ihn erschrocken an, sagte aber nichts. Als sie gemeinsam mit Hedwig und Marie beim Frühstück saßen, schwieg er noch immer. Daran änderte auch das Essen nichts. Die Einzige, mit der sich Leo hätte unterhalten können, war Marie. Doch er war schlecht gelaunt und hatte keine Lust, sich irgendetwas über ihre Vorfreude auf die ersten Unterrichtsstunden an der neuen Schule anhören zu müssen. Hedwig schien genauso wenig nach Reden zumute zu sein. Sie sah beinahe so aus, als habe sie die ganze Nacht lang über unlösbaren Matheaufgaben gegrübelt. Ihre Haare waren zerzaust, ihr Gesicht aschfahl und unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Unglücklich starrte sie auf ihren vollen Teller und fing an, ein weiches Brötchen nach dem anderen in ihrer Hand zu leichten Flocken zu verarbeiten, ohne irgendetwas davon zu essen. Während Marie ihrer Freundin dabei zusah, fragte sie besorgt, ob alles in Ordnung sei. Doch Hedwig reagierte nicht. Zumindest nicht so, wie man erwartete hätte. Es war, als würde sie sich noch weiter in ihr imaginäres Schneckenhaus zurückziehen und von Sekunde zu Sekunde immer mehr und mehr von der Welt da draußen abzukapseln. Ihr Verhalten erinnerte Leo irgendwie an seine kleine Schwester. Er sah Sarah-Annabell lebhaft vor sich, wie sie dort an ihrem mit Nagellack beschmiertem Schreibtisch saß und in aller Seelenruhe ihr Radiergummi zerpflückte, statt schnell ihre Hausaufgaben zu machen und ihn somit von der Qual des Nachhilfelehrer Spielens zu befreien. Aber das hier war natürlich etwas völlig Anderes. Das Mädchen, das vor ihm saß, hieß Hedwig und sie versuchte auch nicht durch irgendwelche Maschen Aufmerksamkeit zu bekommen, sondern schien einfach nur ziemlich schlecht geschlafen zu haben. Also fragte auch er sie noch einmal: „Hast du schlecht geschlafen?“ Keine Antwort. Stattdessen dieser Blick. Der Ausdruck in ihrem Gesicht, der einen in den Wahnsinn treibt. Plötzlich war da wieder seine Schwester. Ohne groß zu Überlegen, fing er an zu schimpfen. Der Sinn seiner Worte drang kaum an Hedwigs Ohr, doch die Verachtung, die in seiner Stimme mitklang, war wie eiskaltes Wasser, das sie aus ihrem tranceähnlichen Zustand aufweckte. Und auf einmal verstand sie ihn. „Hast du etwa die ganze Nacht lang wach dagelegen und darüber nachgegrübelt, was es mit diesem dämlichen Geheimgang auf sich hat, oder was?“, der Zorn in seiner Stimme war nicht zu überhören, „Nein? Dann hast du dir wahrscheinlich wegen dieses falschen Bombenalarms vor Angst in die Hosen gemacht.“ Er lachte hämisch. Marie starrte ihn entgeistert an. „Was ist denn bitte mit dir los?“, fragte sie ihn aufgebracht. „Mit mir?“, erboste sich Leo, „Was soll denn bitte mit mir los sein? Bin ich derjenige, der hier augenscheinlich unter psychischen Störungen leidet oder Hedwig?“ Bei diesen Worten stand Hedwig geknickt auf und setzte sich, demonstrativ laut mit dem Geschirr klappernd, an einen anderen Tisch. Auch Jonas schnappte entsetzt nach Luft. „Warum verhältst du dich heute so komisch?“, fuhr er seinen Freund an, „Erst hältst du mir einen Vortrag darüber, dass Eltern Geldlieferanten sind und ich davon ja überhaupt keine Ahnung hätte, weil ich keine habe. Und jetzt lässt du deinen ganzen Frust an Hedwig aus? Meine Güte, wir können doch auch nichts dafür, dass du Heimweh hast!“ „Heimweh?“, jetzt lag es an Leo, verblüfft zu sein, „Du denkst, dass ich Heimweh habe?“ Ungläubig schüttelte er seinen Kopf. „Ich habe ganz bestimmt kein Heimweh.“, brummelte er dann, „Und jetzt lasst mich endlich in Ruhe, sonst verschwinde ich auch!“ „Das wäre vielleicht sogar besser.“, meinte Marie und durchbohrte ihn mit ihrem skeptischen Blick. „Also bitte“, schnaubte Leo und setzte sich mit drei völlig fremden Siebtklässlern an einen Tisch, die ihn zwar erstaunt ansahen, jedoch nichts sagten. Nachdem die vier, jeder schweigend und in Gedanken versunken, ihr Frühstück beendet hatten, versammelten sie sich gemeinsam mit dem Rest der Klasse in der Eingangshalle. Dort erwartete sie bereits ein junger Lehrer mit schwarzen Haaren, die er sich mit viel Gel zurückgekämmt hatte. Die dunkle Brille ließ sein Gesicht ziemlich markant erscheinen. Nachdem er sich als Herr Reen, ihr Sportlehrer, vorgestellt hatte, ging er mit ihnen in den Innenhof, ließ sie ein paar Runden laufen und Aufwärmübungen machen und erzählte ihnen etwas darüber, welche Themen sie im Laufe des Schuljahres behandeln würden. Zum Ende der Stunde durften die Schüler selbst ein gemeinsames Spiel bestimmen. Danach hatten sie zwei Stunden IPT. Nachdem sie die Lehrerin begrüßt hatten, verkündete diese lächelnd das neue Thema. Um das Ganze zu eröffnen, stellte sie erst einmal eine allgemeine Frage: „Wer von euch kann sagen, was er über die Fliegulas weiß?“ Da Hedwig gerade nicht in der Stimmung war, irgendetwas zu erzählen, meldete sich einzig und allein Werner, der ebenfalls aus Iria stammte. „Ja?“, rief ihn die Lehrerin auf. „Also die Fliegulas“, Werner räusperte sich setzte einen ziemlich dummen Gesichtsausdruck auf, „Naja, der Fliegula, auf dem ich mal geflogen bin, hatte furchtbaren Mundgeruch.“ „Wir reden hier aber über Fliegulas allgemein.“, wies Professor Grünschnabel ihn schroff zurecht, „Kannst du mir dazu vielleicht etwas sagen?“ Doch das konnte Werner nicht. Später gab sie den Schülern ein Arbeitsblatt, auf dem sie die einzelnen Körperteile von Fliegulas beschriften sollten. Mino stellte sich bei dieser Aufgabe besonders blöd an und reizte die Nerven der sowieso schon etwas strapazierten Lehrerin so sehr, dass er am Ende eine Extraaufgabe aufgebrummt bekam. Kurz vor Ende der Stunde, nachdem sie noch gelernt hatten, dass Fliegulas sowohl bei der Armee, als auch bei der Polizei eingesetzt wurden und jeder Fliegula seine eigene, ganz persönliche Fellfarbe hatte, klopfte es an der Tür. Nach einem gereizten „Herein!“ von Professor Grünschnabel betrat Herr Maschael den Raum und taxierte die Schüler mit seinen unangenehmen Blicken. Dann wandte er sich an seine Kollegin. „Guten Morgen, Konztanze.“, begrüßte er sie kurz, „Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich wieder da bin und meinen Unterricht wieder übernehmen kann.“ „In Ordnung, Sigor.“, nickte die Lehrerin und lächelte gequält. Es war das erste Mal innerhalb der Stunde, dass die Schüler so etwas wie Mitleid auf ihren Zügen erkannten. Als die Doppelstunde endlich vorbei war und die nachfolgenden zwei Stunden Missionsunterricht ebenfalls, gab es Mittagessen. Doch von den vier Freunden erschienen nur ein kurzsilbiger Leo, ein schlecht gelaunter Jonas und eine besorgte Marie. Die drei setzten sich zwar zusammen an einen Tisch, doch der Ärger von heute morgen war noch nicht vergessen. „Wo ist Hedwig?“, brach Leo schließlich mit einem schlechtem Gewissen das Schweigen. „Sie hat mir gesagt, dass sie keinen Hunger hat und ist dann, glaube ich, auf ihr Zimmer gegangen.“, erklärte Marie und fügte besorgt hinzu, „Ihr geht es heute wirklich nicht gut. Im Unterricht hat sie fast die ganze Zeit nur vor sich hingestarrt und in IPT dachte ich für einen Moment, sie sei eingeschlafen.“ „Ich bin eingeschlafen.“, brummelte Jonas gelangweilt. Leo grinste leicht. „Bei dir mag das ja normal sein, aber bei so einem Wirbelwind wie Hedwig ist es das bestimmt nicht. Außerdem dachte ich, sie mag IPT.“ „Eben.“, ergänzte Marie, „Sie liebt Tiere.“ Dann fügte sie vorsichtig hinzu: „Wie wäre es, wenn du mal mit ihr sprechen würdest, Leo? Ich meine, dass es ihr so schlecht geht ist sicherlich nicht nur deine Schuld. Aber trotzdem wäre es gut, wenn ihr euch wieder vertragen würdet.“
Also lief Leo nach dem Mittagessen vorsichtig zu dem Zimmer der Mädchen. Er passte gut auf, damit er nicht etwa Herrn Maschael begegnete, doch bis jetzt lief alles gut. Nur Professor Ferono war ihm über den Weg gelaufen, doch die störte es nicht, wenn man seine Freunde besuchte. Jetzt stand er direkt vor der Zimmertür und atmete einmal tief durch. Er hasste es, sich zu entschuldigen. Und überhaupt, nicht einmal richtig gelernt hatte er es. Zwar hatten seine Eltern die Kinder nach einem Streit stets gezwungen, sich wieder zu vertragen, indem sie eine Floskel wie
„Entschuldigung“ nuschelten und sich die Hand gaben. Doch ein Beispiel waren sie ihnen nie gewesen. Plötzlich wurde Leo von einem Geräusch aus seinen Gedanken gerissen. Erschrocken fuhr er herum, doch noch konnte er nichts Auffälliges entdecken. Fast wünschte er sich, er hätte Jonas Rat, den Geheimgang zu nutzen, beherzigt. Doch nun war es zu spät. Wenn Herr Maschael ihn hier entdecken würde… Und so klopfte er kurzerhand an der Tür. Dabei fiel ihm auf, dass sein Herzschlag in seinen Ohren so laut pochte, dass er das Klopfen beinahe übertönte. Er wartete eine Weile. Doch es kam keine Antwort. Und wieder war da dieses Geräusch. Ein Scharren, wie von Schritten. Kurzerhand riss Leo die Tür auf und flüchtete sich in das Zimmer hinein. Kaum hatte er die Tür hinter sich wieder geschlossen, hörte er wie jemand den Gang entlang ging und kurz darauf eine altbekannte Stimme ertönte. Jetzt war er doppelt froh, nicht noch länger gezögert zu haben. Doch dann fiel sein Blick auf Hedwig und die Erleichterung wich von ihm wie ein raues Lüftchen und machte einem äußerst unangenehmen Gefühl Platzt. Hedwig lag mit dem Gesicht nach unten auf ihrem Bett und atmete kaum hörbar. Leo konnte nicht sagen, ob sie schlief oder nicht. Er räusperte sich und gab sich dann einen Ruck. „Hedwig?“, fragte er laut. Die Gestalt in dem Bett fing an sich zu regen. Langsam stützte sie ihren Kopf auf ihre Hände, so als habe sie Kopfschmerzen und fragte dann ein wenig verschlafen: „Was ist denn?“ Leo trat ein paar Schritte näher an sie heran. „Ähm...“, machte er verlegen. Ihm fielen tausende von Worten ein, nur nicht die richtigen. Doch dann sprudelte es wie von selbst aus ihm heraus. „Es tut mir Leid wegen heute morgen. Ich war irgendwie schlecht gelaunt. Bitte verzeih mir, dass ich meinen Frust an dir ausgelassen habe.“ Puh, das waren ganz schön viele Worte auf einmal. Und sie waren so plötzlich da… Aber wie wird sie jetzt reagieren? Leo wagte kaum zu atmen.
„Ist schon in Ordnung.“, antwortete Hedwig nach einer Weile und wandte ihm langsam ihr Gesicht zu. Ihre Augen waren glasig. Fast sah sie so aus, als hätte sie Fieber. „Alles in Ordnung?“, fragte Leo besorgt und setze sich unsicher neben ihr aufs Bett. „Ich bin so schrecklich müde.“, stöhnte Hedwig und ließ sich wieder aufs Kissen fallen. „Hast du letzte Nacht denn nicht geschlafen?“, fragte Leo verwundert,
„Heute morgen sahst du aus wie ein wandelndes Wrack und jetzt...“ Er verstummte, als er merkte, wie unhöflich sich das anhörte, doch Hedwig schien sich nicht daran zu stören. „Kaum. Ich habe in letzter Zeit immer wieder Alpträume.“, stöhnte sie leise,
„Und außerdem...“ Abrupt verstummte sie und zupfte stattdessen an ihrer Bettdecke herum. „Ja?“, forschte Leo nach einer Weile vorsichtig nach. „Naja“, Hedwig seufzte. Das, was ihr auf dem Herzen lag, war ihr sichtlich peinlich. „Ich weiß nicht warum, aber irgendwie vermisse ich sie alle. Zu Hause habe ich mich zum Beispiel immer, wenn ich nicht schlafen konnte, zu meiner kleinen Schwester ins Bett gelegt und dann ging es wieder. Aber jetzt...“ Peinlich berührt verstummte sie und wartete Leos Reaktion ab. „Du vermisst deine Familie.“, stellte er fest. Hedwig nickte langsam. Sie schien sich wohl immer noch dafür zu schämen. Besonders dafür, dass sie sich so jemandem wie Leo anvertraut hatte, dem Familie schnurzpiepegal war und der sie ganz sicher nicht verstand. Doch dann sagte er etwas, das sie verwunderte. „Ich glaube ich vermisse meine auch.“, gab er zu und fügte mit belegter Stimme hinzu:
„Naja, irgendwie zumindest. Vielleicht ist es auch einfach nur das beschissene Verhältnis zu meinen Eltern, das mich fertig macht.“ Erstaunt schaute Hedwig auf. Dann lächelte sie erleichtert. Doch Leo schien noch nicht fertig zu sein. „Weißt du, wenn ich so jemanden wie Jonas sehe, der keine Eltern mehr hat und ihn dann mit mir vergleiche, dann fühle ich mich einfach doppelt schlecht. Zum Einen, weil es halt echt blöd ist, wenn du von den Leuten, mit denen du zusammenlebst einfach nur rund um die Uhr genervt bist und zum Anderen, weil du eben deswegen nicht dankbar für sie sein kannst.“, er seufzte leise, „Ab und zu würde ich am liebsten einfach wieder nach Hause fliegen und noch mal von vorn anfangen. Aber das geht ja nicht.“ Also saßen sie da und schwiegen betreten. Auf einmal flog die Tür auf. Erschrocken zuckten beide zusammen. Leo sprang reflexartig auf und spielte mit dem Gedanken, sich noch schnell irgendwo zu verstecken, obwohl es dafür natürlich schon viel zu spät war. Doch glücklicherweise war der Besucher niemand, der ihnen gefährlich werden konnte. Maries erstaunte Blicke wanderten von Hedwig zu Leo und dann wieder zurück zu Hedwig. Dann fragte sie entschuldigend: „Oh, störe ich?“ Diese Frage wurde von allen Seiten mit einer Reaktion zwischen Augenverdrehen und Erröten verneint. Dann brachte Marie ihr Anliegen vor. „Ich habe Post für dich.“, sagte sie und warf Hedwig einen Briefumschlag zu. „Den hat mir Herr Lilo mitgegeben.“ Gespannt öffnete Hedwig ihn. Heraus fielen ein Brief und ein Bild mit vielen bunten Linien. Als Hedwig es entdeckte strahlte sie. „Das ist von Talvi.“, erklärte sie. Nachdem sie das Werk eine Weile lang betrachtet hatte, als wäre es ein Picasso, fragte Leo: „Darf ich mal sehen?“ Er betrachtete das Bild. Doch außer ein paar bunten, kreuz und quer über das Papier laufenden Strichen konnte er nichts erkennen. Als er Hedwigs Blick auffing, wurde ihm bewusst, dass sie ein Kommentar von ihm erwartete. Ihm fiel nichts besseres ein als: „Besonders viel erkennen kann man da ja nicht.“ „Sie ist ja auch erst zwei!“, erboste sich Hedwig über diese unverschämte Aussage, „Außerdem kann man sehr wohl etwas erkennen. Das ist ganz klar eine Sonne.“ Sie drehte das Bild, hielt es Leo hin und versuchte ihm mühevoll zu erklären, wo der Kreis und wo die Strahlen waren. Am Ende konnte Leo trotz des Aufbringens seiner gesamten Fantasie in dem bunten Chaos immer noch nichts Sonnenähnliches ausmachen. Zum Glück gab er das nicht zu. Noch während er über das Bild nachgrübelte, bemerkte er, wie sich Schritte näherten. Besorgt wandte er sich den Mädchen zu und zögerte. War das wieder Herr Maschael? Er konnte beim besten Willen nicht ausmachen, ob es für ihn jetzt besser wäre, sich zu verstecken oder nicht. Mit einem Mal wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Es klopfte an der Tür. Fluchtartig verschwand er unter einem der Betten. Das Ganze sah so komisch aus, das die Mädchen sich ein leises Lachen nicht verkneifen konnten. Dann öffnete Marie die Tür. Vor ihnen stand eine freundliche junge Frau, die einen Wagen mit allerlei Reinigungsmitteln vor sich herschob. „Tut mir leid euch zu stören.“, entschuldigte sie sich, ,,Ich bin spät dran. Habt ihr etwas dagegen, wenn ich kurz durch euer Zimmer wische?“ „Natürlich nicht.“, sagte Marie und trat zur Seite, um der Frau Platz zu machen. Als deren Blick auf Hedwig fiel, die immer noch im Bett lag, sagte sie stirnrunzelnd: „Du siehst gar nicht gut aus. Willst du nicht lieber auf die Krankenstation gehen? Ich kann dich hinbringen.“ „Nein, danke.“, winkte Hedwig ab, „Es geht schon.“ Während die Frau schwungvoll den Boden wischte und dabei dem Bett, unter dem Leo lag, bedrohlich nahe kam, fing sie an zu erzählen.
„Während meiner Schulzeit auf Firaday war ich auch in diesem Zimmer.“
„Wirklich?“, fragte Hedwig erstaunt. „In diesem Zimmer?“, wunderte sich Marie.
„Ja, genau in diesem Zimmer.“, antwortete die Frau lächelnd, „Zusammen mit meiner Freundin Tyra. Es wäre gut möglich, dass ihr hier noch etwas Interessantes entdeckt.“ Während sie das sagte, zwinkerte sie den beiden Mädchen bedeutungsvoll zu. Wenig später verließ sie den Raum, nicht ohne Hedwig vorher noch gute Besserung zu wünschen. Stöhnend kroch Leo wieder unter dem Bett hervor und rappelte sich auf.
„Das war knapp.“ Dann hustete er. „Da unten ist alles voller Staub.“, beschwerte er sich, „Das ist total eklig.“ Als nächstes musterte er prüfend seine Kleidung und stellte dann zufrieden fest: „Immerhin bin ich nicht nass geworden. Fast hätte die mich mit ihrem Wischmopp erwischt.“ „Och...“, machten die Mädchen spöttisch und kicherten, woraufhin Leo beleidigt das Gesicht verzog. Doch dann wurden sie wieder ernst. „Was meint ihr, was diese Andeutung sollte?“, fragte Marie irritiert, „Hat die Frau etwa von dem Geheimgang gesprochen?“ „Bestimmt.“, sagte Leo und ließ sich auf Maries Bett fallen. „Oder sie meinte etwas Anderes, das mit dem Gang zusammenhängt und das wir noch nicht entdeckt haben.“, vermutete Hedwig geheimnisvoll. Wie aufs Stichwort schob sich die Geheimtür unter einem der Betten mit einem leisen Knarzen zur Seite. Heraus kam Jonas. „Vielleicht sollte man das Bett doch mal an die Seite schieben.“, ächzte er, während er versuchte, darunter hervor in den Raum hinein zu kriechen, ohne sich ständig zu stoßen. Als er endlich wieder auf beiden Füßen stand, sagte er: „Ich soll euch abholen.“ „Abholen?“, fragte Marie verständnislos, „Warum?“ „Weil jetzt die AGs stattfinden, ihr Schnarchnasen.“, erinnerte er sie, „Hedwig soll nur gehen, wenn sie sich fit genug fühlt. Ich glaube Fräulein Quietsch bezweifelt, dass kranke Menschen anständig singen können.“ Nach einem gemurmelten Protest von Hedwig fuhr Jonas fort: „Alle AGs sammeln sich heute erst mal in der Einganghalle.“ Mit diesen Worten öffnete er die Tür zum Flur und trat hinaus. „Kommt ihr?“, fragte er, während er sich fragend zu den Anderen umdrehte. „Bist du sicher, dass das so eine gute Idee ist? Ich meine, sollten wir nicht lieber den Geheimgang benutzen? Herr Maschael ist hier vor kurzem vorbei spaziert.“, gab Leo zu bedenken. „Angsthase!“, rief Jonas, streckte ihm die Zunge raus und rannte davon. Leo raste ihm hinterher. Bevor Marie das Zimmer verließ, bemerkte sie noch augenverdrehend: „Jungs… die sind alle auf dem geistigen Niveau von Kindergartenkindern.“ Nachdem Hedwig ihr grinsend recht gegeben hatte, schloss sich die Tür.
Im Gänsemarsch schlenderte die Bibelkicker Mannschaft ihrem Trainer Aron Munaki hinterher quer durch den Innenhof. Aron war ein Elftklässler mit breiten Schultern, dunklem Haar und einer Frisur, die der von Herrn Reen sehr ähnelte. Sobald er Leo und Jonas dabei erwischt hatte, wie sie beide lärmend die Wendeltreppe des Mädchenturms hinunterjagten, hatte er sie eingefangen und zur Vernunft gebracht. Jetzt liefen sie gemeinsam mit den Anderen diszipliniert in Reih und Glied. Es fehlte nur noch, dass sie Händchen hielten. Plötzlich stoppte der ganze Trupp. Doch Jonas war so sehr damit beschäftigt gewesen, auf den Boden zu starren und nach Arons Zurechtweisung den Beleidigten zu spielen, dass er es nicht bemerkte und mit voller Wucht in seinen Vordermann hineinlief. Zu seinem eigenen Glück war dieser nur sein Freund Leo. Nach einem verärgerten „Pass doch auf!“ herrschte wieder Ruhe in der Reihe. Neugierig beugte Jonas sich nach vorn, um den Grund für ihr plötzliches Anhalten zu entdecken. Aron stand über eine Art Falltür gebückt da und machte sich daran, sie zu öffnen. Als dies erledigt war, gab sie den Blick in einen engen Tunnel frei. Einer nach dem Anderen stieg hinein. Während des etwas längeren Fußmarsches fing die Gruppe nun endlich an, gesprächiger zu werden. „Ich hoffe, dass ich überhaupt noch richtig spielen kann, nach dieser langen Pause.“, gab ein etwas rundlicher Neuntklässler zu bedenken. Daraufhin verdrehte ein kleiner, dürrer Achtklässler mit blondem Haar die Augen und erwiderte: „Ich hab dir doch gesagt, du sollst in den Sommerferien trainieren, René! Hast du denn nicht einmal mit deinen Geschwistern gespielt?“ Der Angesprochene verzog bedauernd die Mundwinkel.
„Nein, ich sagte dir doch, dass ich fast die ganze Zeit bei meiner Oma zu Besuch war. Und die spielt kein Bibelkicker.“ „Ach, mach dir mal keine Sorgen.“, versuchte eine kleine, dünne Sechstklässlerin mit weißblondem Haar ihn zu beruhigen. „Domikin und ich haben auch nicht so viel geübt. Ich habe ihm gesagt, dass wir mehr Allgemeinwissen brauchen, um die Fragen zu beantworten, aber er war zu faul, um etwas zu lernen.“ „Erzähl keinen Schwachsinn, Lillian!“, wies der dünne Junge sie mürrisch zurecht, „Ich habe mich auf die Fragen vorbereitet.“ „Ach ja, und wie?“, fragte das Mädchen in sarkastischem Tonfall. „Das geht dich gar nichts an!“, brauste Domikin jetzt auf, „Oh Mann, kleine Geschwister sind echt nervig!“ Daraufhin konnte Leo ihm nur schmunzelnd Recht geben. Als er einige Zeit später aufsah, bemerkte er, dass der Tunnel ein paar Meter weiter vorne plötzlich aufhörte. Dort war nur ein Schacht, durch den das Licht der Nachmittagssonne auf die Strickleiter fiel, die einem das Heraustreten ermöglichte. Wenig später stand die gesamte Mannschaft, sechs Jungen und sechs Mädchen, auf einer großen, von Mauern umgebenen Wiese, die an den Rändern durch mehrere Reihen von Bänken gesäumt war. Am Rand des Spielfeldes standen zwei kleine Häuschen, in denen sich die Schüler umziehen konnten. Für Jonas und Leo waren bereits neue Trikots bereitgestellt worden, natürlich wieder einmal in den Farben der Schule. Die T-Shirts waren rot und der goldene Stoff der kurzen Hosen schimmerte sobald Licht darauf fiel. Als alle fertig waren, wurde den Neuen die Mannschaft vorgestellt. Der etwas rundlichere Neuntklässler, der sich auf dem Weg zum Stadion wegen seiner schlechten Kondition beklagt hatte, hieß René Balkon und Domikin und Lillian hießen beide mit Nachnamen Bruno. Danach stellte sich ein ziemlich großer Elftklässler mit Vollbart als Elando Elwando vor. Als nächstes begrüßte sie eine kräftig gebaute, rothaarige Zehntklässlerin namens Karin Parellen. Ihr folgten eine Siebtklässlern mit braunem Lockenkopf namens Pia Olirse, eine Neuntklässlerin mit langem, blondem Haar und Wimpern, die fast ihre Augen verdeckten namens Rahel Davids und die schwarzhaarige, schmalgesichtige Achtklässlerin Jane Fischer. Zuletzt stellte sich noch eine Elftklässlerin namens Anulai vor, von der sie erfuhren, dass sie seit ihrer Geburt blind war. Nachdem die Vorstellungsrunde vorbei war, teilten sie sich in zwei Mannschaften auf und spielten gegeneinander.
Einige Zeit später, nachdem die AGs zu Ende waren, schlenderten Marie und Hedwig den Geheimgang entlang und unterhielten sich. Sie hatten beschlossen, ihn nach dem Gespräch mit der Reinigungskraft noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
„Und, wie war es beim Chor?“, fragte Marie, „Geht es dir mittlerweile besser?“ Hedwig nickte und grinste dann. „Peter Hoffmann ist im Stimmbruch und hat uns deshalb die ganze Zeit aus dem Takt gebracht. Am Ende hat ihn Fräulein Quietsch, die wir übrigens auch in Englisch haben, bestimmt 10-mal „Alle meine Entchen“ vorsingen lassen, um seine Treffsicherheit der Töne zu verbessern.“ Jetzt lachte Hedwig laut auf und fuhr fort: „Das Ende vom Lied war dann, dass Herr Doktor Chili, ein etwas älterer Lehrer, der uns in Geschichte unterrichten wird, wie verrückt durch das Gebäude gerannt ist, weil er dachte, dass es brennt!“ Nachdem ihr Lachen ein wenig abgeklungen war und sie Peter Hoffmann genug bemitleidet hatten, wechselten sie das Thema. „Oh, Hedwig, schau mal! Da ist die Pfütze, in der du stecken geblieben bist!“, zog Marie ihre Freundin auf. Jetzt, wo sie an ihren ersten Besuch hier unten zurückdachte, erschienen ihr die Dunkelheit und die seltsamen Geräusche von damals gar nicht mehr so schlimm. Blöd war nur gewesen, dass Hedwigs Taschenlampe ausgegangen war. Hedwig grunzte missbilligend und trat, um ihrer Empörung über dieses Erlebnis Ausdruck zu verleihen, gegen einen großen Stein, der direkt neben der Pfütze lag. Das, was dann geschah, jagte Marie einen eiskalten Schauer über den Rücken und ließ all ihre unangenehmen Empfindungen, die sie beim ersten Besuch in dem Gang verspürt hatte, wieder zurückkehren. Hedwig stattdessen starrte die Pfütze begeistert an. „Der ganze Schlamm wird ja plötzlich weniger!“, rief sie fasziniert. „Fast so, als ob unter uns jemand stehen würde, der ihn mit einem großen Staubsauger aufsaugt.“, kommentierte Marie bange. In diesem Moment kam eine Falltür unter dem ganzen Matsch zum Vorschein. In das Holz war ein Gedicht eingeritzt. Hedwig beugte sich, fiebernd vor Abenteuerlust, hinunter und las es vor. „Du siehst es in der Dunkelheit, schau raus. Es ist so groß und sieht doch so klein aus. Das Zeichen für das, was du glaubst. Es ist dir ein Helfer, für Rat, den du brauchst.“ Nun verlor auch Marie allmählich ihre Skepsis und beugte sich fasziniert zu der Tür hinunter. Nach einem kurzen Test stellte sie fest, dass sie verschlossen war. „Vielleicht ist das, was da drauf steht, ein Rätsel, das man lösen muss, um die Tür zu öffnen.“, vermutete Hedwig. „Ja, bestimmt.“, murmelte Marie in Gedanken versunken. Dann holte sie Zettel und Stift aus ihrer Jackentasche und schrieb das Gedicht ab. Nach einer Weile angestrengten Schweigens fragte Hedwig:
„Hast du eine Idee, was das bedeuten könnte?“ „Im Moment nicht.“, seufzte Marie und steckte den Zettel wieder ein, „Ich glaube, wir sollten erst mal wieder nach oben gehen.“
Es war schon spät. Der Vollmond schien durch das weit geöffnete Fenster und erfüllte den Raum mit seinem silbernen Licht. Ein Windstoß fuhr durch Maries Haar und ließ sie allmählich die angenehme Kühle dieser Sommernacht spüren. Sie konnte nicht schlafen. Gedankenverloren schaute sie hinaus in die Weite. Es war dunkel. Nur hier und da konnte sie ein paar Umrisse erkennen. Seufzend setzte sie sich auf die Fensterbank. Ihre Gedanken wanderten umher und ließen die Ereignisse der letzten Tage neu aufleben. Es war alles so schnell passiert! Noch vor weniger als einer Woche hatten Leo und sie den Brief erhalten und waren aus purer Neugierde nach Hannover gefahren. Dort waren sie am Flughafen auf Jonas gestoßen, der sie schließlich zu einem Flugzeug geführt hatte, das sie später in dieses fremde Land gebracht hatte. Oder sollte sie besser sagen: in eine andere Welt? Sie hatte vorher noch nie irgendetwas von dem Land Iria gehört, geschweige denn es auf einer Weltkarte gesehen. Doch seitdem sie hier war, fühlte sie sich beinahe wie zu Hause angekommen. Sie hatte neue Freunde gefunden und war von einem Tag auf den anderen in die fremde Welt eingetaucht. Und das, fast ohne es zu merken. Doch eines wusste sie: wenn sie jetzt wieder nach Hause zurückkehren würde, wäre sie nicht mehr Dieselbe. Schweigend und nur ihrem eigenen Atem lauschend, ließ sie ihren Blick in die sternenklare Nacht schweifen. Hier sah man noch viel mehr Sterne als zu Hause und sie waren viel heller! Und irgendwie… irgendwie schien das gesamte Firmament ein anderes zu sein. Stopp! Doch nicht. Sie entdeckte den großen Wagen, der direkt über ihr das riesige, gewölbte dunkelblaue Seidentuch zierte. Dies war das einzige Sternbild, das sie kannte. Ihre Gedanken tanzten weiter, ohne dass sie sie kontrollieren konnte. Oder wollte. Sie dachte an den Einen, durch dessen Wort das da oben geschaffen worden war. In Momenten wie diesen spürte sie jedes Mal, wie groß und wunderbar dieser jemand war. Kein Mensch hier auf der Erde würde ihn jemals in seiner gesamten Größe und Macht, in seinem gesamten Wesen begreifen können. Es wurde dunkler. Und wieder heller. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben, sich bald danach aber wieder verflüchtigt. Der strahlend silberne Taler ließ sie nun endlich wieder die Hand vor den Augen erkennen. Dieser Moment voll Dunkelheit ließ sein Licht nun noch viel schöner strahlen. Moment mal! Marie erinnerte sich an etwas. Langsam nahmen die Gedanken in ihrem Gehirn Gestalt an, bis sie schließlich fähig war, das Ganze in leise, flüsternde Worte zu fassen. „Du siehst es in der Dunkelheit, schau raus.“ Das war die erste Zeile des Rätsels gewesen! Was Anderes sollte damit gemeint sein außer dem Mond? Doch das war noch nicht alles. Weitere Gedanken nahmen in sekundenschnelle Form an und setzen sich zu einem kompletten Bild zusammen. Der zweite Vers lautete nämlich: „Es ist so groß und sieht doch so klein aus.“ Waren damit vielleicht die Sterne gemeint? Marie konnte es nicht genau sagen, aber sie musste es auf jeden Fall versuchen. Aufgeregt kramte sie ihren Notizblock hervor und notierte die beiden Zeichen auf der erstbesten Seite, die sie aufschlagen konnte, beinahe so, als hätte sie Angst, die vermeintliche Lösung des Rätsels wieder zu vergessen.