Читать книгу Iria - Der Schlüssel der Macht - Lea Loseries - Страница 6

Titel - 1

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Eine knappe Stunde später standen die beiden inmitten von Millionen von Menschen, die eilig umherliefen und ihr Gepäck vom einen Ort zum anderen transportierten. Doch von einem speziell aussehenden Flugzeug war weit und breit nichts zu entdecken und auch nichts von einem Professor Jakobus Hermann. Blind schoben sie sich durch die Menschenmenge, ohne auch nur eine geringste Ahnung zu haben, wohin sie gingen. ,,Halt!“, tönte da plötzlich eine dröhnende Stimme hinter ihnen, ,,Was macht ihr Kinder denn hier so ganz alleine? Bevor ihr in ein Flugzeug steigen könnt, müssen wir aber noch ein paar Dinge klären.“ Marie und Leo fuhren gleichzeitig herum und blickten sogleich direkt in das grimmige Gesicht eines riesigen, uniformierten Mannes. ,,Wir ähm… suchen nur etwas.“, antwortete Marie ausweichend. ,,Und was, wenn ich fragen darf?“, dröhnte diese unangenehme Stimme wieder zu ihnen hinunter. Langsam wurde Marie ungehalten. Sie hatte keine Ahnung, wer dieser unverschämte Riese dort war, der normale Passanten anquatschte und ausfragte. Ein Polizist war er jedenfalls nicht, das erkannte man auf den ersten Blick. ,,Wissen sie was“, zischte sie, ,,was wir suchen geht sie überhaupt nichts an. Lassen sie uns gefälligst in Ruhe.“ Mit diesen Worten zog sie Leo mit sich, wieder in den Strudel aus Menschen hinein. ,,Was war das denn?“, fragte Leo ungläubig, ,,Marie, so kenne ich dich ja gar nicht. Normalerweise bist du doch nett zu anderen Menschen.“ Grinsend fügte er hinzu: ,,Dieser feine Kerl wollte dir bestimmt nur den Hof machen.“ ,,Lass den Blödsinn.“, zischte Marie, ,,Hattest du nicht auch so ein komisches Gefühl bei dem?“ ,,Schon.“, jetzt wurde Leo wieder ernst, ,,Lass uns von hier verschwinden.“ Doch in diesem Moment tönte eine leise Stimme an ihre Ohren: ,,Hey, ihr zwei! Seid ihr Marie Lining und Leo Schneider?“ Verwirrt nickten die beiden, ohne den Sprecher ausfindig machen zu können. Hier waren einfach zu viele Menschen! Diese Stimme hätte zu jedem gepasst, der gerade um sie herum stand. Und wieder ertönte die Stimme: ,,Dann kommt mit!“ Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch drehten sich die beiden um und folgten einem blonden Jungen mit blauer Jeans und schwarzem T-Shirt. Er war so flink und bewegte sich schnell zwischen den Leuten und Gepäckstücken hindurch, sodass die beiden Mühe hatten, ihm zu folgen. Außerdem hatten sie in Wahrheit keine Ahnung, ob sie dem Richtigen hinterherrannten. Plötzlich stand ein Mädchen mit hellbraunen Haaren und hellblauen, ungewöhnlich funkelnden Augen direkt vor ihnen, sodass Leo aus Versehen in sie hinein knallte und dabei den rätselhaften Jungen aus den Augen verlor. ,,Entschuldigung.“, murmelte er und musterte sein Gegenüber. Das Mädchen, dessen Alter er unmöglich schätzen konnte, trug eine ausgeblichene Jeans und ein lilafarbenes Langarmshirt. ,,Wo wollt ihr denn so eilig hin?“, fragte sie mit zuckersüßer Stimme, ,,Sucht ihr was?“ Sie klimperte mit den Wimpern, als seien es Perlenvorhänge vor kunstvollen Fenstern. Marie war außer Atem und so war es Leo, der antwortete: ,,Wir müssen schnell zu unserem Flieger!“ ,,So, so.“, sagte das Mädchen und lächelte, als habe Leo ihr gerade einen Witz erzählt, ,,Wohin fliegt ihr denn? Ich habe da nämlich...“ weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment ertönte eine dröhnende, unangenehm vertraute Stimme. ,,Carenszura, komm endlich! Ich habe dir noch etwas Wichtiges zu sagen!“ Widerstrebend, mit einem vernichtenden Blick auf Marie löste sich das Mädchen aus ihrer Pose und wollte zu dem uniformiertem Mann gehen, der ein paar Schritte weiter auf sie wartete. Doch bevor sie außer Hörweite war, fragte Leo höhnisch: ,,Ohhh, musst du zu deinem Papa?“ Er konnte dieses merkwürdige Mädchen einfach nicht ausstehen. Das, was ihm als Letztes zuflog, bevor das Mädchen verschwand, war zum Glück kein spitzer Damenschuh, sonder ein Blick, der urplötzlich kalt und vernichtend war. In diesem Moment änderte Leo seine Meinung über das Mädchen. Sie war nicht nur merkwürdig, sondern hatte definitiv einen an der Waffel. Während Marie und er sich nach dem rätselhaften Jungen umschauten, erleichtert, vorerst von dem Mädchen losgekommen zu sein, schnappten sie ein paar Gesprächsfetzen auf. Nun schlichen sie doch neugierig näher an das ungleiche Paar heran. Der Uniformierte raunte seiner vermeintlichen Tochter gerade zu: ,,Es macht keinen Sinn, sie aufzuhalten, dein Bruder war schon bei ihnen, ich weiß nicht, was er ihnen erzählt hat.“ Das Mädchen stampfte auf. ,,Dieser Mistkerl!“, schimpfte sie, ,,Wie lange muss ich eigentlich noch warten? Ich will keinen Bruder auf der Gegnerseite!“ Etwas in ihrer Stimme ließ Marie und Leo einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Dann sprach wieder der Uniformierte: ,,Es jetzt schon zu tun wäre zu riskant. Außerdem sucht der ,,Schlüssel der Macht“ gerade nach einem neuen Anführer. Du solltest lieber schnell nach Ulrügio gehen.“ ,,Ist ja gut. Es wird doch eh wieder Professor Schnieddle gewählt, wie schon die letzten fünf Mal!“, empörte sich das Mädchen. Da wandte es sich plötzlich um. Ehe Leo sich wegducken konnte, trafen sich ihre Blicke. Dann stieß er Marie an und rannte gemeinsam mit ihr davon, so schnell sie konnten. ,,Ich glaube, wir haben etwas gehört, das nicht für unsere Ohren bestimmt war.“, keuchte Marie, nachdem sie langsam wieder zu Atem gekommen war, ,,Allerdings kapiere ich rein gar nichts von dem, was die da erzählt haben.“ ,,Zurzeit gibt es überhaupt ziemlich wenig, das man kapieren könnte.“, brummte Leo. In diesem Moment entdeckten sie den Jungen, dem sie ein paar Minuten vorher noch hinterhergehastet waren. ,,Wo bleibt ihr denn?“, fragte er ungeduldig und lief den beiden wieder ohne eine Antwort abzuwarten voraus. Als er er endlich stehen blieb, fanden Leo und Marie sich vor einem für ihren Geschmack riesigem Flugzeug wieder. ,,Wow!“, entfuhr es Marie und Leo pfiff verwundert durch die Zähne. ,,Was ist das denn?“,,Das ist der Iria Flieger!“, präsentierte der ihnen noch unbekannte Junge das Gefährt, ,,Ihr werdet in Kürze damit abheben und in Iria von Emanuel höchstpersönlich einer der drei Schulen zugeteilt werden.“ ,,Hä?“, fragte Leo und verzog das Gesicht, ,,Was ist los?“ ,,Was bitte ist Iria?“, fragte Marie verwundert, ,,Ich habe davon noch nie gehört. Ist das etwa so ein winziger Staat in Afrika oder Europa?“ ,,Weder noch.“, der Junge schüttelte ungeduldig den Kopf, ,,Und jetzt steigt schon ein. Mein Name ist übrigens Jonas.“

Gegen Mittag klingelte es an Maries Wohnungstür. Während ihre Mutter öffnete, war sie der festen Überzeugung, dass ihre Tochter zurückgekehrt sei. Als sie den fremden, älteren Mann mit Bart, der ein seltsames Gewand in den Farben rot und gold trug, in ihrer Türschwelle stehen sah, dachte sie zuerst, sie würde träumen. Das war schließlich nicht möglich! Was sollte so ein fremd aussehender Mann in diesem komischem Bademantel in ihrer Wohnung zu suchen haben? Als der Mann dann auch noch zu sprechen anfing und ihr irgendetwas von Löwen, einem anderen Land, einem Flugzeug, der Schule und ihrer Tochter zu berichten versuchte, konnte sie nicht anders. Sie musste lachen. Sie lachte und lachte, bis sie nicht mehr konnte. Sie freute sich schon darauf, ihren Freundinnen von dieser dummen Halluzination zu erzählen. Doch der Mann hörte nicht auf zu reden. Besorgt sah er sie an und zog sie auf einen Stuhl. Langsam begriff sie, dass das hier die Realität war. Jetzt war sie total verwirrt. Mit offenem Mund starrte sie den Mann an, der seine Ausführungen jetzt wieder von vorn begann. Sie verstand nichts. Das Einzige, was sie in diesem Moment im Stande zu begreifen war, war dass der Mann sie dazu aufforderte, ihrer Tochter einen Koffer zu packen und ihm mitzugeben, da diese für längere Zeit verreisen würde. Nach einer Stunde verschwand der ungebetene Besucher plötzlich wieder. Zitternd und verwirrt ließ sich die Frau in einen Sessel fallen. Als sie aus dem Fenster sah, erklärte sie sich selbst endgültig für verrückt. Vor ihren Augen schwang sich gerade ein riesiger Vogel in die Lüfte. Auf ihm saß der seltsame Mann. Zum Glück erfuhr sie wenig später, dass sie nicht die Einzige war, die so einen Besuch bekommen hatte. Diese Geschichte bot monatelang Gesprächsstoff für Frau Schneider und sie.

Wenig später saßen die drei gemeinsam im Flugzeug. Leo fragte sich zwar, ob Marie und er nicht ganz bei Trost waren, einfach auf so eine merkwürdige Einladung einzugehen, aber der Junge, der neben ihnen saß machte einen freundlichen Eindruck. Außerdem war da so ein Gefühl, das sich in seiner Magengegend ausgebreitet hatte… er musste einfach erfahren, was als nächstes passieren würde. Und wenn sie wirklich dazu ausgewählt worden waren, an eine andere Schule in einem anderen Land zu gehen, warum sollte er ablehnen? Seine alte Schule würde er jedenfalls nicht vermissen. Plötzlich fragte Marie, der bei dem Gedanken etwas unwohl zumute war: ,,Was ist überhaupt mit unseren Koffern?“ ,,Mit welchen Koffern?“, fragte Leo bestürzt und ohne richtig Nachzudenken. Aus irgendeinem Grund befürchtete er, dass sie jetzt doch von diesen komischen Leuten ausgetrickst und bestohlen worden waren. Aber da irrte er sich. ,,Na, wir haben doch keine mitgenommen!“, rief Marie, während sie sich entsetzt gegen die Stirn schlug, ,,Was sollen wir denn in einem fremden Land ohne Koffer und ohne irgendwelche Papiere machen?“ ,,Keine Sorge.“, beruhigte Jonas sie, ,,Eure Schuluniformen müsst ihr sowieso nicht kaufen. Und alles Weitere könnt ihr euch bestimmt noch besorgen. Außerdem hat Professor Hermann euren Eltern noch einen Besuch abgestattet und sie ein paar Sachen für euch zusammenpacken lassen.“ ,,Professor Hermann ist derjenige, der uns die Briefe geschrieben hat, richtig?“, fragte Marie mit zusammengekniffenen Augen. Jonas nickte. Eine Zeit lang flogen sie schweigend dahin. Dann fragte Leo mitten in die Stille hinein: ,,Was machst du eigentlich so in deiner Freizeit, Jonas?“ ,,Am liebsten spiele ich Bibelkicker.“, antwortete der Junge mit leuchtenden Augen, ,,Das ist so ähnlich wie Fußball, aber noch viel cooler.“ Jetzt war Leos Interesse geweckt. Ein Hobby, dem er neben Klavierspielen noch nachging, war Fußball. Zwar hatte er im Verein nur für ein paar Monate gespielt, aber dafür häufig mit Freunden oder seinen Brüdern. ,,Kannst du mir erklären, wie genau das geht?“, fragte er. ,,Na klar.“, meinte Jonas erfreut, ,,Also, wie gesagt: es geht so ähnlich wie Fußball. Nur, dass wenn ein Tor geschossen wird, der Kartenzieher eine Karte aus der Urne zieht und Fragen stellt. Zum Beispiel: ,,Nenne zwei Söhne von König David.“ Und dann hat die Mannschaft 25 Sekunden Zeit, um sich zu beraten. Wenn die Antwort richtig ist, gilt das Tor. Wenn nicht, gilt es nicht und die gegnerische Mannschaft erhält den Ball. Weiß die Mannschaft die Antwort auf eine Frage nicht, sagt sie einfach nichts. Dann gilt das Tor zwar nicht, aber immerhin behält die Mannschaft in diesem Fall den Ball. Ach ja, und dann gibt es noch besonders schwierige Fragen. Leider habe ich keine Ahnung, wie so eine Frage lauten könnte, da sie schon lange nicht mehr gezogen wurden. Aber ich weiß, dass die Mannschaft, bei der sie gezogen wird, gewonnen hat, wenn sie sie richtig beantwortet. Wenn nicht, hat sie verloren. Nachdem eine solche Karte gezogen wurde, ist das Spiel also definitiv vorbei. Ansonsten gibt es noch Aktivitätskarten. Das sind Aufgaben wie: ,,Macht zehn Kniebeugen innerhalb von 15 Sekunden.“ Wenn jede Mannschaft so eine Karte hatte, ist das Spiel ebenfalls beendet.“ Leo schien dieses Spiel sehr zu gefallen. Die beiden Jungen redeten und redeten. Währenddessen schaute sich Marie ein wenig in diesem Bereich des Flugzeugs um. Was von außen große Ähnlichkeit mit einem normalen Flieger hatte, sah von innen ganz anders aus. Die Sitze waren mit roten Kissen gepolstert und es gab keine Fenster. Weiter vorn hatte sie jedoch welche gesehen. Die Wände und der Boden waren mit dunklem Holz vertäfelt. Das Merkwürdigste war jedoch, dass es kein elektrisches Licht gab. Überall brannten Kerzen. Das gedämpfte, flackernde Licht ließ Marie einige goldene Inschriften an den Wänden erkennen. Sie las sie. An der Wand ihr gegenüber stand: Der HERR ist mein Hirte, es wird mit an nichts mangeln. Und darunter: Psalm 23,1. Als sie dies und auch noch ein paar andere Sätze las, entspannte sie sich sichtlich. Sie kannte diese Verse aus der Bibel. Und sie schienen ihr ein weiterer Beweis dafür zu sein, dass sie diesen Menschen vertrauen konnte. Auf einmal schwang eine Tür auf. Herein kam eine freundlich lächelnde Stewardess, einen quietschenden Servierwagen, auf dem dutzende Köstlichkeiten standen, vor sich herschiebend. ,,Was darf´s sein?“, fragte sie freundlich. ,,Eine Tüte Rotstammbaumstückchen, bitte.“, antwortete Jonas, während er in seiner Tasche nach Geld kramte. Nachdem er es endlich geschafft hatte, die Münze aus seiner Tasche herauszukramen und zu bezahlen, führte die Frau ihren Weg fort, das quietschende Wägelchen immer vor sich her schiebend. Jonas riss die Tüte auf. Heraus fielen kleineAststücke.,,Wasistdas?“,fragteMarie argwöhnisch. ,,Rotstammbaumstückchen.“, antwortete Jonas, ganz so, als wäre keine weitere Erklärung nötig. Doch dann fügte er noch hinzu: ,,Der Rotstammbaum wächst nur in Iria. Sein Holz ist essbar. Die Rinde allerdings nicht. Aber man kann sie leicht ablösen. Bei den gekauften Stücken befinden sich unter der Rinde Zettelchen mit Botschaften.“ Leo nickte wissend. ,,Also so ähnlich wie bei Glückskeksen.“ Auf Jonas verwirrten Blick hin reagierte er nicht. Also aßen die drei den Rest der Reise lang das süß schmeckende Holz und unterhielten sich. Nachdem das Flugzeug schließlich gelandet war, stiegen sie aus und holten ihre Koffer. Zu Leos und Maries Erstaunen befanden sie sich nicht etwa auf einem Flughafen, sondern auf einem großen Bahnhofsvorplatz, der Teil einer kleineren Stadt zu sein schien. Doch sie hatten keine Zeit, sich eingehender umzuschauen, denn in diesem Moment sah Jonas bestürzt auf die große Bahnhofsuhr und trieb sie zur Eile an. ,,Jetzt aber schnell.“, sagte er, ,,Wir müssen in zehn Minuten bei dem großen Platz sein. Dort wird uns Emanuel einer der drei Schulen zuteilen.“ Verwirrt sah Leo ihn an. Dann fragte er vorwurfsvoll: ,,Wer ist dieser Emanuel überhaupt? Du redest von ihm, hast aber die ganze Zeit noch kein einziges Wort darüber verloren, wie er ist.“ ,,Lasst euch überraschen.“, sagte Jonas geheimnisvoll.“ Dann drehte er sich um und rief unvermittelt: ,,Oh, da drüben ist ja meine Schwester!“ Ein Mädchen mit rotbraunen Haaren in einem grünen Kleid kam auf sie zu. ,,Hallo, Jonas!“, rief sie, als sie ihn erkannte, ,,Und wer seid ihr beide?“ Fragend musterte sie Leo und Marie. ,,Wir heißen Leo und Marie.“, stellte Marie Leo und sich vor. ,,Aha.“, sagte das Mädchen und lächelte sie an. Dann durchfuhr ein hektischer Zug ihr Gesicht. ,,Dann lasst uns schnell zu der Versammlung gehen.“,,Was meinst du, Lisa?“, fragte Jonas seine Schwester, während sie durch die schmalen Gassen der Stadt gingen, ,,Auf welche Schule werde ich wohl kommen?“ ,,Na hoffentlich entweder nach Firaday oder nach Terabehnas.“, sagte Lisa und versuchte zu lachen, ,,Mama und Papa sind da ja auch hingegangen.“ ,,Das muss aber nicht unbedingt heißen, dass ich auch auf eine dieser Schulen komme.“, erläuterte Jonas eifrig, ,,Ich meine, na gut, wahrscheinlich ist es schon, aber du zum Beispiel gehst ja trotzdem nach Sinistro.“ ,,Ja, ja, ist ja gut.“, stoppte Lisa seinen Redeschwall und machte wieder eine ihrer hektischen Gesten. ,,Was sind das überhaupt für Schulen?“, fragte Leo in diesem Moment. Jonas drehte sich zu ihm um und erklärte es. ,,Es gibt drei Schulen“, fing er an, ,,Sinistro, Terabehnas und Firaday. Jede Schule hat ihr eigenes Geheimnis. Das kennt nur Emanuel und er kann die Schüler deshalb der passendsten Schule zuteilen.“ ,,Aber“, fing Marie an, ,,Wenn wir jetzt auch auf eine dieser Schulen kommen, müssen wir doch auch irgendwo in diesem Land wohnen, oder?“ Jetzt lachte Jonas. ,,Na klar.“, sagte er, ,,Ihr wohnt während der Schulzeit in der Schule, genauso wie alle andere Schüler auch. In den Ferien dürft ihr, wenn ihr wollt, eure Familien besuchen.“ ,,Aha.“, machte Leo und verzog das Gesicht. Die Vorstellung, auf ein Internat gehen zu müssen, ließ ihn nicht gerade einen Jubelanfall bekommen. ,,Und warum bist du schon auf einer dieser Schulen, Lisa?“, fragte Marie jetzt an das in sich gekehrte Mädchen gewandt. ,,Ich bin ein Jahr älter als Jonas.“, erklärte sie, ,,Letztes Jahr kam ich nach Sinistro nachdem...“ Plötzlich stockte sie. Dann kniff sie ihre Lippen fest zusammen, so als dürfe kein Wort aus ihnen herausdringen.

Wenig später saßen sie auf den hölzernen Bänken eines großen Platzes. ,,Wo bleibt Emanuel denn?“, fragte Jonas ungeduldig und kickte einen grünen Stein weg, der vor ihm auf den Boden lag und wie viele andere seiner Art den Platz bedeckte. ,,Na hör mal, Jonas!“, ärgerte Lisa sich, ,,Es ist doch noch gar nicht so spät. Der wird schon noch kommen.“ Es entging Marie und Leo nicht, dass Lisa von Emanuel wesentlich weniger respektvoll sprach als Jonas. Das ließ Skepsis in ihnen erwecken. Wer war dieser Emanuel? Etwa so etwas wie ein Superstar, den die einen feiern und die Anderen fertigmachen? Plötzlich wurde es still. Mit ihnen hatten sich bestimmt fünfhundert Leute versammelt. Wenn so eine Menschenmenge auf einmal schweigt, muss etwas Besonderes geschehen sein. Das ging Marie durch den Kopf, als sie sich umdrehte. Doch das, was sie sah, hätte auch sie sogleich verstummen lassen, wäre sie in ein Gespräch vertieft gewesen. Durch die Reihen schritt ein Löwe. Seine goldene Mähne wiegte majestätisch im Wind. Von ihm ging eine ungeheure Faszination aus. Obwohl Marie ihn nicht kannte, wusste sie sofort, dass er jemand ganz Besonderes war. Er verfügte über Autorität und Weisheit. Dennoch schien er sich niemals zähmen zu lassen und war wild und frei wie eine gewöhnliche Raubkatze. Als Leo und Marie ihn zum ersten Mal sprechen hörten, erschraken sie. Ein sprechender Löwe? Doch nicht das war es, was sie stutzen ließ. Sie mussten ihm zuhören. Sie nahmen seine Worte in sich auf. Doch diese Worte schienen nicht von ihm zu kommen, sondern von jemand Größerem, dessen Sprachrohr er war. ,,Ich begrüße euch alle herzlich. Die irianischen Kinder, die mit ihren Familien diesen Tag erleben wollen und deren Träume über die Schulen sich hoffentlich erfüllen werden. Und natürlich auch die Ausländer, die von weit her angereist sind und ausgewählt wurden, um uns zu helfen. All dies schaffen wir nur gemeinsam.“ Der Löwe drehte sich langsam in die Richtung von Leo, Jonas und Marie. Gespannt hörten sie ihm zu und fragten sich, was er wohl mit dem Ausspruch, sie könnten das alles nur gemeinsam schaffen, gemeint haben mochte. ,,Jeder von euch ist willkommen.“, fuhr der Löwe weiter fort, ,,Jeder hat einen Platz in der Geschichte, in der er er eine einzigartige Rolle spielen darf.“ Er machte eine Pause und sah die Menschen, die vor ihm warteten, freundlich an. ,,Nun lasst uns anfangen.“, sagte er und schmunzelte, ,,Ich will nicht, dass die Kinder vor Aufregung platzen. Ich werde eure Namen aufrufen und ihr werdet nach vorn kommen und euch zu euren neuen Schulleitern stellen.“ Auf dieses Stichwort hin lösten sich drei Personen aus der Menge und kamen zu Emanuel. Zwei Männer und eine Frau. Die Frau mit dem geflochtenen Zopf blickte mit funkelnden, freundlichen Augen in das Publikum und hielt ein Schild hoch, auf dem ,,Firaday“ stand. Dann waren da noch die beiden Männer. Der eine trug einen kleinen, grauen Spitzbart und sein runder Bauch wackelte bei jeder seiner Bewegungen. Er machte einen leicht tollpatschigen und dennoch gutmütigen Eindruck. Auf dem Schild, das er trug stand ,,Sinistro“. Der zweite Mann war der Schulleiter von Terabehnas. Jonas schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er war hager und ziemlich riesig. Sein träumerischer Blick schweifte durch die Menge und er machte den Eindruck, als würde er die ganze Zeit über Musik hören, die sich in seinem Kopf abspielte und in deren Rhythmus er sich bewegte. Dann fing der Löwe an die Namen aufzurufen: ,,Vincent Tehbald.“ Ein braunhaariger, unglaublich nervös dreinblickender Junge stand auf, stolperte auf den Podest und stellte sich vor Emanuel hin. Dieser schaute ihm in die Augen. So einen Blick hatte Leo vorher noch nie gesehen. Er war durchdringend, so als würde sein Gegenüber alles in ihm sehen. Seine schlimmsten Ängste, seine beschämendste Schuld, sowie all seine geheimen Wünsche und Träume. Doch zugleich war dieser Blick liebevoll. Nicht verurteilend. ,,Du kommst nach Sinistro.“, lautete Emanuels Urteil dann. Vor Freude strahlend stellte sich der Junge zu dem dicken Mann. Als nächstes wurde ein dunkelhäutiges Mädchen namens Rahel aufgerufen. Emanuel schickte sie nach Terabehnas. Dann sagte der Löwe mit lauter Stimme: ,,Jonas Gierskep.“ Jonas war so nervös, dass seine Knie einknickten, sobald er aufstand und ihn wieder auf die Bank zurückfallen ließen. Doch dann versuchte er es noch ein zweites Mal und stand einen Augenblick später verwirrt und schwitzend vor Emanuel. Er hoffte inständig, dass er mit seinen beiden neuen Freunden auf eine Schule kommen würde. Emanuel sah ihn an. Voller Zuversicht versank Jonas in seinen Augen. ,,Firaday.“, lautete dann der Befund des Löwen. Mit Knien wie Wackelpudding ging Jonas zu der Frau. Freundlich, aber so leise, dass nur er es hören konnte, fragte sie: ,,Na, aufgeregt?“ Jonas nickte und schluckte. Als nächstes wurden noch einige weitere Schüler aufgerufen. Die meisten kamen nach Sinistro oder Terabehnas. Der Platz um die Frau füllte sich nur langsam. Dann wurde Leo aufgerufen. Langsam ging er nach vorne. Er wagte es nicht, Emanuel in die Augen zu sehen, weil er sich vor seinem Blick fürchtete. Doch als er schließlich vor ihm stand war ihm, als würde eine unsichtbare Kraft ihn dazu drängen, es doch zu tun. Mit pochendem Herzen sah er auf und bewegte lautlos die Lippen. Er wollte unbedingt nach Firaday zu Jonas kommen. Der Löwe schien seine Gedanken zu lesen. Freundschaftlich legte er ihm seine schwere, samtene Tatze auf die Schulter und sagte: ,,Du kommst zu deinem Freund nach Firaday.“ Glücklich strahlten Leo und Jonas sich an. Jetzt war nur noch Marie übrig. Ihre Anspannung ließ sie innerlich zittern. Doch sie musste sich gedulden. Vor ihr kamen noch viele Andere dran. Dann endlich war es so weit. Nervös stand sie vor Emanuel und schaute ihm in die Augen. Ihr war es egal, wo sie hinkommen würde, Hauptsache sie wäre dort gut aufgehoben. Aus dem Augenwinkel betrachtete sie die beiden Jungen, mit denen sie hierher gekommen war. Sie mochte die beiden, aber sie hatte es gelernt, Freundschaften hinten anzustellen und sich selbst durchzuschlagen. Ruhig sah sie in Emanuels Gesicht. Der musterte sie kurz und sagte dann: ,,Du bleibst bei deinen Freunden. Geh nach Firaday.“ Jetzt, wo er es ausgesprochen hatte, war Marie froh, nirgendwo anders hingekommen zu sein. Lächelnd stellte sie sich zu der Frau mit den funkelnden Augen. Am Ende waren Sinistro die meisten und Firaday die wenigsten Schüler zugeteilt worden. Insgesamt waren sie zwölf. Sechs Jungen und sechs Mädchen. Von einem der Mädchen erfuhr Marie, dass Firaday sowieso die kleinste der drei Schulen war und Sinistro die größte. Dann, als Ruhe in dem allgemeinen Getuschel eingekehrt war, das auf das Ende der Veranstaltung gefolgt war, stellte sich ihre neue Schulleiterin vor. ,,Mein Name ist Professor Tyra Ferono.“, sagte sie und lächelte, ,,Ich bin eure neue Schulleiterin und heiße euch herzlich Willkommen. Da die Schulenzuteilung in diesem Jahr an einem Ort stattgefunden hat, der nicht weit entfernt von unserer Schule liegt, werden wir zu Fuß dort hingehen. Folgt mir bitte.“ Während die Schüler einen erdigen Pfad entlang gingen, hörte Marie, wie sich Leo und Jonas schon wieder über Bibelkicker unterhielten. Muss ja toll sein, dachte sie etwas genervt und konzentrierte sich auf den Pfad, der gerade in eine grüne Wiese überging. Sie war so auf ihre Schritte und auf den Boden vor sich konzentriert, dass sie gar nicht bemerkte, wie die Gruppe anhielt. Das führte dazu, dass sie mitten in Jonas hineinlief, der vor ihr stehengeblieben war. Verlegen entschuldigte sie sich, doch er winkte nur grinsend ab. Als sie ihren Blick hob, sah sie den Grund für das abrupte Anhalten. Sie standen vor einem finsteren Wald, der in ihrer Fantasie plötzlich alle Schauergeschichten, die sie je gehört hatte, lebendig erscheinen ließ. ,,Dieser Wald ist ein dunkles, äußerst gefährliches Labyrinth.“, erklärte Professor Ferono und sah ihre Schüler ernst an, ,,Deshalb werde ich euch alle mit einem Seil aneinanderbinden, damit niemand verloren geht. Bleibt dicht hinter mir, verstanden?“ Mit diesen Worten wurden die Schüler alle aneinander gebunden. Die Stimmung war beklemmend. Viele von ihnen fragten sich, weshalb sie nicht doch hätten mit Kutschen fahren können. Als das Herumgetüddel vollendet war und die Schüler aussahen, als hätten sie sich mitsamt ihrer Lehrerin in einem Wollknäuel verfangen, ging es los. Professor Ferono trat schnurstracks und ohne zu zögern in den dunklen, unheimlichen Wald hinein. Als Leo den ersten Schritt in dieses Gebiet tat, holte er erschrocken Luft. Alles um ihn herum war feucht. Er konnte nichts erkennen. Es war furchtbar dunkel und zu allem Überfluss auch noch extrem neblig. Wie blind tastete er nach seinem Vordermann. Das Seil führte ihn. Er selbst hatte alle Orientierung verloren. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass viele seiner Klassenkameraden über Äste und niedrige Sträucher stolpern und deswegen ein Tumult ausbrechen würde, doch stattdessen war es still. Sehr still. Beunruhigend still. Voller Panik tastete er nach dem Seil. Doch er konnte nichts tun. Er war immer noch fest daran gebunden und konnte nichts weiter machen, als sich ziehen zu lassen. Auf einmal war es so, als würde ein schwarzer Vorhang weggezogen werden. Wunderbares Sonnenlicht brach ihnen entgegen und in der Ferne sahen sie ein steinernes Schloss. Ein Moment des Aufatmens durchfuhr die ganze Gruppe. Beunruhigt stellte Leo fest, dass er nicht der Einzige gewesen war, der in diesem Wald fast verrückt geworden wäre. Sämtliche seiner Mitschüler hatten Schweißperlen auf der Stirn und atmeten stoßweise. Nach einer kurzen Pause gingen sie weiter. Sie wanderten einen Weg mit blauen Kieselsteinen entlang immer auf das Schloss zu. Das gab ihnen die Gelegenheit, es genauer zu betrachten. Seine Türme ragte majestätisch in den Himmel und es schien fast einer Burg zu gleichen. Schließlich stoppte ein riesiges, massives Tor ihren eilenden Schritt. Vor diesem Tor standen zwei Wachmänner. Mit einem mulmigem Gefühl im Bauch fragte Leo sich, warum um alles in der Welt diese Schule so gut bewacht wurde. Doch da ging es schon weiter. Freundlich wurde der Gruppe Eintritt gewährt und sogleich fanden sie sich in einem wunderschönen Innenhof wieder. Was von außen majestätisch und scharf bewacht ausgesehen hatte, war hier drinnen sofort von der friedlichen Atmosphäre weggewischt. Der Platz, auf dem sie standen, war nicht überdacht. Die Mauern waren mit Efeu überwuchert und in der Mitte befand sich ein kleiner Springbrunnen, der ihnen leise plätschernd seinen Willkommensruf entgegenrief. Die Wege zwischen den sanften Grünflächen, die etwa drei Viertel des Platzes bedeckten, bestanden aus in der Sonne rot aufleuchtenden, fast durchsichtigen, kleinen Steinen. ,,Nun gut.“, ergriff Professor Ferono nach einer Weile des stummen Staunens das Wort, ,,Die Zimmer der Jungen befinden sich im West- und die der Mädchen im Ostturm. Es sind Räume, in denen immer zwei von euch Platz haben. Die Türme haben übrigens drei Etagen. In jeder Etage ist ein anderer Jahrgang untergebracht.“ Sie lächelte, ,,Für den ersten Moment wird euch das alles sicherlich sehr verwirrend erscheinen, aber mit der Zeit werdet ihr euch an das große Gebäude gewöhnen. Bald werdet ihr euch hier wahrscheinlich sogar besser auskennen als bei euch zu Hause!“ Marie, die bei diesen Worten ihre kleine Wohnung vor Augen hatte, schaute die Schulleiterin etwas zweifelnd an. Sie konnte sich nicht vorstellen, sich in diesem riesigen Gebäude einmal besser auszukennen, als in den paar Räumen, die sie ihr Zuhause nannte. Da unterbrach eine laute, selbstsichere Stimme ihre Gedankengänge. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass diese Stimme zu einem Mädchen mit rundem Gesicht, leichten Sommersprossen und dunkelroten Haaren gehörte, die sie zu einem langen Zopf geflochten hatte. ,,Und in welcher Etage wohnen wir?“ ,,In der dritten.“, erklärte Professor Ferono lächelnd, ,,Über euch befinden sich nur noch die Turmspitzen, die allerdings den Oberstufenschülern vorbehalten sind.“ Obwohl diese Information der Sprecherin nicht gefiel, was man ihrem Gesichtsausdruck entnahm, fragte sie interessiert weiter. ,,Hier gibt es neun Jahrgänge, von der fünften bis zur zehnte Klasse, richtig?“, erläuterte sie und sah die Schulleiterin aufmerksam an. Diese nickte. ,,Aber wenn jede der drei Etagen der Türme für einen Jahrgang bestimmt ist, was ist dann mit den restlichen Jahrgängen?“ ,,Es befinden sich auch noch Zimmer im Hauptgebäude.“, sagte Professor Ferono, während sie auf die große Eingangstür deutete, vor der sie standen.

„Außerdem haben wir in den Türmen meist noch ein paar Zimmer frei, sodass manchmal auch Schüler aus anderen Jahrgängen ihre Zimmer dort haben.“ nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: ,,Gut. Wenn es dann erst einmal keine Fragen mehr gibt, werde ich die Mädchen zu ihren Zimmern führen und Professor Hermann die Jungen.“ Während sie das sagte, deutete sie auf einen unbemerkt dazu getretenen älteren Mann. Er hatte graue Haare und einen langen Vollbart. Leo und Marie vermuteten, dass es sich bei ihm um denjenigen handelte, der ihnen die Briefe geschrieben hatte. Neugierig musterten sie ihn. Er sah sympathisch aus und trotz seines fortgeschrittenen Alters immer noch sehr agil. ,,Dann kommt mal mit.“, sagte er grinsend und winkte die Jungen zu sich her. Kurz nachdem sie gegangen waren, setzte sich auch die Mädchengruppe in Bewegung. Als sie durch die Tür in das Hauptgebäude traten, blieb ihnen vor Staunen der Mund offen stehen. Der Boden war über und über von einem samtenen Teppich bedeckt und die Kerzenleuchter ließen die Wände aus weißem Stein geradezu strahlen. Obwohl dieser Teil des Gebäudes kaum Fenster hatte und er deshalb ein wenig düster erschien, fühlten sich die Schüler nicht unwohl. Ganz im Gegenteil: sie genossen die ruhige Atmosphäre. Als nächstes führte Professor Ferono die Mädchen eine mit Teppich bedeckte Treppe hinauf. Im dritten Stockwerk machten sie Halt. Nun standen sie in einem Flur, dessen Wände mit hübschen Bildern geschmückt waren, die aussahen, als hätten Schüler sie gemalt.

,,Hier sind eure Zimmer.“, präsentierte Professor Ferono das Ganze lächelnd, ,,Euer Gepäck könnt ihr aus der Eingangshalle abholen, sobald es eingetroffen ist. Bitte sucht euch jeweils zu zweit ein Zimmer und hängt dann ein Schild mit euren Namen an die Tür. Wir werden uns sicher in etwa einer halben Stunde beim Essen im Speisesaal wiedersehen.“ Sie lächelte ihnen noch ein letztes Mal zu und verschwand dann. Ein paar Sekunden lang herrschte Stille. Unschlüssig standen die Mädchen im Flur herum. Sie kannten einander kaum und hatten keine Ahnung, mit wem sie sich ihr Zimmer teilen wollten. Nach geraumer Zeit hielt es eine von ihnen nicht mehr aus. Es war das Mädchen, das zuvor Professor Ferono ausgefragt hatte. Etwas ungestüm brach sie das Eis, indem sie Marie fragte: ,,Wollen wir uns ein Zimmer teilen, oder willst du hier noch zwei Stunden herumstehen?“ Dank des freundlichen, fast schelmischen Lächelns, das ihr Gesicht zierte, wusste Marie, dass sie es nicht böse meinte, sondern einfach nur sehr ungezwungene Umgangsformen zu haben schien. ,,Klar.“, sagte sie also und lächelte, ,,Wie heißt du?“ ,,Hedwig.“, antwortete das Mädchen und sagte dann lachend: ,,Ich weiß, das ist ein bescheuerter Name, aber meine Eltern wollten mich unbedingte so nennen. Und sie sagen bis heute, dass der Name zu mir passt.“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf, ,,Und wie heißt du?“ ,,Marie.“, antwortete Marie lachend, ,,Dein Name bedeutet übrigens so viel wie ,,Kampf“ oder ,,Krieg“. Das passt wirklich.“ Gespielt beleidigt verzog das Mädchen das Gesicht. ,,Wieso?“, fragte sie, ,,Soll das heißen, dass ich fies bin?“ Während sie sich weiter unterhielten, suchten sie sich ein Zimmer aus. Dort sah es ungefähr genauso aus wie im Rest der Schule: die Wände bestanden aus hellem Stein, auf dem Boden lag roter Teppich und an den Wänden hingen zahlreiche Kerzenleuchter. Die beiden Betten sahen wie frisch bezogen aus und auf den Nachttischen befanden sich Kerzen auf einer Vorrichtung, die wohl dazu gebraucht wurde, sie von einem Ort zum anderen zu transportieren. All dies nahm Marie verwundert zur Kenntnis. ,,Habt ihr eigentlich kein elektrisches Licht in Iria?“, fragte sie ihre neue Freundin. Diese schüttelte den Kopf. ,,Das heißt… doch.“, gab sie dann schließlich zu, ,,Aber wir hier im Süden benutzen es kaum. Die Kerzen funktionieren viel besser und sind dazu noch umweltfreundlicher.“ Verwundert von dieser Antwort schaute Marie sich weiter um. In einer Ecke entdeckte sie einen mittelgroßen Tisch, an dem zwei Stühle standen und in der anderen thronte ein großer Schrank. Unbewusst tastete sie an ihrem linken Handgelenk entlang. Dort trug sie immer das Armband, das ihr Vater ihr einst geschenkt hatte. Jetzt bekam sie einen riesigen Schreck: Es war weg! Doch bevor sie in Panik ausbrechen konnte, entdeckte sie es. Es lag unter ihrem Bett. Also kroch sie hinunter. Das nächste, was Hedwig von ihr hörte, war ein verwunderter Aufschrei. Und dann: ,,Hedwig! Guck mal, was ich gefunden habe!“ ,,Was soll da schon sein?“, antwortete diese nicht ganz so begeistert, ,,Wahrscheinlich ein Haufen Staub. Ich krieche da lieber nicht drunter, ich habe eine Milbenallergie.“ Da Marie aber nicht antwortete, wurde sie jetzt doch neugierig. Mit einem Seufzer sank sie auf die Knie und lag wenig später neben ihrer Freundin im Staub. ,,Das gibt´s doch nicht!“, rief sie begeistert, als sie sah, was Marie entdeckt hatte. Unter ihnen befand sich ein schwere Holztür. ,,Cool!“, rief Hedwig begeistert, ,,Vielleicht ist da sogar ein Geheimgang drunter.“ ,,Na ja.“, wiegelte Marie etwas niedergeschlagen ab, deren erste Freude wieder so schnell verflog, wie sie gekommen war. ,,Selbst wenn, müssen wir zuerst das Bett wegschieben, falls wir wissen wollen, war sich darunter verbirgt. Hoffentlich lässt sich das Ding überhaupt öffnen!“

Iria - Der Schlüssel der Macht

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