Читать книгу Iria - Der Schlüssel der Macht - Lea Loseries - Страница 7

Titel - 2

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,,Jonas!“, rief Leo, der jetzt endgültig dabei war, die Fassung zu verlieren, ,,Warum klopfst du jetzt schon minutenlang in diesem blöden Wandschrank herum?!“ ,,Hier hinter befindet sich ein Hohlraum!“, rief Jonas, aufgeregt und viel zu laut, ,,Vielleicht sogar ein geheimer Gang!“ ,,Wenn du weiterhin so herumbrüllst, ist er bald nicht mehr geheim!“, empörte Leo sich. Sie hatten sich soeben ihr Zimmer ausgesucht und sobald Jonas den Wandschrank entdeckt hatte, war er hineingesprungen. Auf Leos Frage hin, was er da mache, hatte Jonas irgendetwas von einem Fantasyroman erzählt, der Narnia hieß und bei dem ein Wandschrank die Tür in eine andere Welt war. ,,Leo.“, sagte Jonas jetzt immer noch aufgeregt, ,,Die Rückseite des Schrankes ist eine Tür!“ ,,Ja, ja, ich weiß.“, sagte Leo und verdrehte die Augen, ,,Eine Tür in eine andere Welt, nicht wahr?“ ,,Nein, im Ernst. Jetzt komm endlich und hilf mir, diese doofe Verriegelung zu lösen!“, rief Jonas keuchend vor Anstrengung. Leo stöhnte. Doch dann sah er ein, dass er wohl keine andere Wahl hatte. ,,Na gut, ich komme.“, gab er also genervt nach. ,,Bring eine Taschenlampe mit!“, befahl Jonas ihm laut rufend, ,,Auf dem Nachttisch liegt eine!“ ,,Musst du eigentlich immer so schreien?“, fragte Leo entgeistert, als ihm bei diesem Ausruf seines Freundes beinahe die Ohren abfielen. Doch Jonas hörte ihn nicht, denn in diesem Moment brüllte er: ,,Wo bleibst du?“ Als sie gemeinsam im Schrank standen und Leo sich wie der letzte Trottel fühlte, forderte Jonas ihn, flüsternd und heiser vom vielen Schreien auf, die Taschenlampe zu betätigen. Bald darauf fiel der helle Lichtkegel tatsächlich auf eine Tür. Doch sie fanden nichts, mit dem sie sie hätten öffnen können. ,,Ich hab´s mir doch gedacht.“, sagte Leo nach ein paar Minuten leise, ,,Wahrscheinlich wurde hier einfach nur eine alte Tür als Schmuckstück an die Wand genagelt und später der Schrank davor gestellt.“ Auf Jonas verwirrten Blick hin erklärte er: ,,Ja, das macht man manchmal bei alten Häusern. Aber frag mich nicht, warum.“ In diesem Moment fiel Jonas Blick auf einen gänzlich unscheinbaren Riegel. ,,Hier!“, flüsterte er und wollte die Tür gerade öffnen, als ein Klopfen die beiden Freunde zusammenschrecken ließ. Hastig stürmten sie aus dem Schrank heraus. Als Leo öffnete stand vor ihnen ein junger Mann, der sie freundlich anlächelte. ,,Hallo, Jungs!“, begrüßte er sie, sich mehr oder weniger lässig am Türrahmen festkrallend, ,,Ich wollte euch nur Bescheid geben, dass es jeden Moment Essen gibt. Ihr wisst ja, wenn man irgendwo neu ist, besonders in einem großen Gebäude, dann weiß man immer nicht, wo sich welcher Raum befindet, nicht wahr?“ Nach einer Weile des Schweigens, die er damit verbracht hatte, die beiden Jungen eingehend zu mustern, machte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht breit. ,,Oh, ich habe ja ganz vergessen, mich vorzustellen. Ich bin Herr Maschael.“ Mit einer überschwänglichen Geste nahm er Leos Hand, die ihm am nächsten war und schüttelte sie so lange und mit einem so freundlichem, ja beinahe grässlichem Lächeln im Gesicht, dass Leo sich regelrecht von ihm losreißen musste. ,,Wie heißt ihr beide eigentlich?“, fragte der Lehrer dann und versuchte dabei immer noch locker und interessiert zu wirken, was ihm allerdings nicht ganz gelang. Leo wurde das Gefühl nicht los, dass der Mann sehr wohl wusste, wer sie waren, woher auch immer. Aber das hielt Jonas nicht davon ab, zu antworten. ,,Ich heiße Jonas.“, sagte er unbekümmert, ,,Und das ist Leo. Können wir jetzt gehen? Langsam bekomme ich Hunger.“ ,,Natürlich.“, Herr Maschael räusperte sich und lief ihnen voraus nach unten in die Eingangshalle. Dort hielten sie vor einer großen, hölzernen Tür an. Gerade war Jonas im Begriff sie zu öffnen, als eine dürre Männerhand nach seinem Arm griff und ihn etwas grob wegzog. Bald darauf ertönte Herr Maschaels amüsierte Stimme. ,,Aber, aber, nicht so hastig, mein Junge. Nicht, dass du dich noch in der Tür vertust.“ ,,Ich weiß aber, dass der Speisesaal hier ist.“, antwortete Jonas stirnrunzelnd. Von einem Moment auf den anderen schien der Lehrer verwirrt. ,,So, weißt du das?“, fragte er, ,,Warum denn?“ ,,Ähm...“, druckste Jonas herum und starrte auf den Boden. Leo half ihm aus der Patsche. ,,Ich dachte, wir wollten zum Essen gehen.“, sagte er leicht patzig, ,,Was wollen sie denn jetzt von uns?“ Wieder räusperte Herr Maschael sich. Diesmal antwortete er mit leiser, diskreter Stimme: ,,Nun…, ich wollte euch ein Angebot machen.“ Dann drehte er sich auf der Stelle um, sodass die beiden Jungen, die direkt neben ihm standen, den Luftzug spüren konnten, den die Bewegung verursachte und befahl ihnen: ,,Folgt mir!“ Mit einem wachsend schlechten Gefühl ging Leo ihm hinterher. Auch Jonas schien mittlerweile begriffen zu haben, dass mit diesem Mann irgendetwas nicht stimmte. Er war ungewöhnlich still und schien sogar ein wenig bedrückt zu sein. Statt durch die große Holztür zu treten, bogen sie in einen Gang nach rechts ab. Bald darauf wurden sie in ein Zimmer geführt, das aussah wie ein Büro. Beschwingt deutete Herr Maschael ihnen einzutreten. ,,Darf ich vorstellen“, präsentierte er, ,,mein Arbeitszimmer. Setzt euch.“ Grinsend sah der hagere Mann zu, wie sie auf den Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz nahmen. Dann lehnte er sich an die Tischplatte und fing in einem lässigen Verhandlungstonfall an zu reden: ,,Jetzt kommen wir zu dem Angebot, dass ich euch machen möchte.“ Er legte eine Spannungspause ein, die keine war, sondern das Ganze nur noch langweiliger machte und musterte die beiden Schüler aus zusammengekniffenen Augen. ,,Ich möchte“, fing er in fast patriotischem Tonfall an, ,,dass ihr wisst, dass ihr mir alles sagen könnt, was euch irgendwie belastet. Wisst ihr, es ist nicht leicht, sich sofort an einer neuen Schule zurechtzufinden. Da ist es doch besser, wenn man eine Vertrauensperson hat, oder?“ Er sah die beiden an, als warte er auf Zustimmung, doch vergeblich. Also versuchte er es anders. Blitzartig wandte er sich an Leo. ,,Ich habe gehört, dass du aus einer anderen Welt kommst.“, sagte er interessiert, ,,Schon komisch, was Emanuel so alles veranlasst...“ Spöttisch schüttelte er den Kopf. ,,Aber du möchtest bestimmt Klarheit über all das, was hier passiert. Klarheit darüber, wo du überhaupt bist und warum und ob das alles wahr sein kann. Und ich bin mir sicher, du möchtest auch wissen, warum ich euch hierher gebeten habe.“, endete er, nachdem er nah an Leo herangetreten und ihm ins Gesicht geschaut hatte, sodass dieser seinen Atem hatte riechen können. Jetzt sagte er einfältig: ,,Nun, ich kann und werde sie dir geben. Darüber und noch über vieles Andere. Wenn du mir Klarheit verschaffst in Dingen, die ich nicht kenne.“ Jetzt hatte er es immerhin geschafft, Leos Interesse zu wecken. ,,Was wollen sie damit sagen?“, fragte Leo geradeheraus, ,,Das ist ein Handel, richtig? Aber ich verstehe nicht, was sie sich von uns erhoffen.“ ,,Also“, fing der unheimliche Lehrer an, während er jetzt ruhelos auf und ab stolzierte, ,,Charmant ausgedrückt gibt es in unserem Kollegium einige Personen, die gefährlich werden könnten. Sie erzählen furchtbare Dinge, sie sagen, dass eine neue Zeit anbricht, dass sich bald etwas ändern wird. Und das ist noch nicht alles. Sie behaupten sogar, dass sie diese Informationen von Emanuel haben. Wann immer ihr Zeuge solcher Gespräche werden solltet“ in diesem Augenblick drehte er sich um und taxierte sie mit seinen Blicken, ,,lasst es mich wissen.“ Jetzt war es den beiden Freunden so, als hätten sie seine Augen grausam aufleuchten sehen. ,,Und jetzt geht.“, sagte Herr Maschael auf einmal im Ton eines Schlossherren, der unerwünschte Besucher… oder nein, lieber Katzen oder Ratten aus seinem Reich verscheucht. Kaum hatte Jonas die Tür geöffnet, um zu verschwinden, fügte Herr Maschael noch hinzu: ,,Hoffentlich ist beim Essen für euch noch etwas übrig geblieben. Wenn nicht… ich warte auf euch.“ und ließ sich dann mit einer Geste vollkommener Selbstzufriedenheit in seinen Stuhl fallen.

Wenig später saßen Leo, Jonas, Marie und Hedwig gemeinsam an einem Tisch in der großen Halle und warteten auf das Essen, das zu Jonas und Leos großer Erleichterung noch nicht aufgetragen worden war. Marie hatte Hedwig bereits vorgestellt, woraufhin sich herausgestellt hatte, dass Jonas und Hedwig sich bereits seit Jahren kannten und in dieser Zeit Freunde geworden waren. ,,Wir müssen euch etwas erzählen.“, eröffnete Hedwig, nachdem einige Zeit vergangen war, ,,Wir haben nämlich etwas gefunden, das...“ Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment wurde sie von Leo unterbrochen. ,,Tut mir Leid, dich zu unterbrechen, Hedwig.“, fing er an und schaute dann zu Marie, ,,Aber Marie und ich müssen euch noch von einer merkwürdigen Begegnung am Flughafen berichten. Jetzt, nachdem wir diesen wahnsinnig tollen Lehrer kennengelernt haben“, er schaute Jonas an und verdrehte ironisch die Augen, ,,könnte das wirklich wichtig sein.“ ,,Wie meinst du das?“, fragte Marie mit zusammengekniffenen Augen, ,,Und von welchem Lehrer sprichst du?“ Doch leider hatten sie nicht weiter die Gelegenheit sich auszutauschen, denn in diesem Moment erhob sich Professor Ferono, die alle Schüler, besonders die neuen, erneut im Namen der Schule Herzlich Willkommen hieß. Dann klärte sie noch ein paar organisatorische Dinge. ,,Eure Stundenpläne werdet ihr nach dem Essen bekommen. Ein weiterer, wichtiger Punkt, auf den ich euch hinweisen möchte“, bei diesen Worten schaute sie beinahe flehentlich in die Runde, ,,ist, dass einer unserer Lehrer es nicht gestattet, auf den Fluren zu rennen, zu schreien oder zu toben. Das könnt ihr während des Sportunterrichtes oder draußen im Innenhof tun. Zudem sind Jungenbesuche im Mädchenturm und Mädchenbesuche im Jungenturm nicht erlaubt. Ich bitte euch, diese Regeln zu beachten, ansonsten können euch leicht völlig unnötige Strafen aufgebrummt werden, die eure ganze Zeit in Anspruch nehmen. Also passt bitte auf.“ ,,Das hört sich ja fast so an, als würde sie uns empfehlen, uns nicht erwischen zu lassen.“, flüsterte Hedwig ihrer Freundin zu, die sie nur mit Mühe verstand. ,,Also hat Professor Ferono gar nichts dagegen?“ Marie konnte ihr diese Frage nicht beantworten. Stattdessen achtete sie darauf, was als nächstes geschah. Eine unscheinbare Tür öffnete sich und Männer und Frauen in Küchenbekleidung traten heraus und balancierten die duftenden Speisen zu den einzelnen Tischen. Marie lief bei diesem Geruch das Wasser im Mund zusammen. Es gab fast alles: Hähnchenkeulen, Nudeln mit Tomatensauce, appetitlich belegte Brötchen und allerlei Obst und Gemüse. Die Getränke reichten von Fuchszweigsaft und irianischem Meliacho Tee in verschiedensten Geschmacksrichtungen bis zu einer mit Früchten verzierten alkoholfreien Bowle, die in verschiedenen Farben schimmerte. Im Laufe des Essens, nachdem sie den zweiten Becher getrunken hatte, meinte Marie: ,,Diese Bowle ist irgendwie seltsam. Jeder Schluck schmeckt anders. Ich hatte sogar einen mit Grasgeschmack.“ Sie verzog angeekelt das Gesicht, woraufhin Hedwig nur trocken antwortete: ,,Sei froh! Ich trinke das Zeug nicht mehr, nachdem ich bei einem Schluck das Gefühl hatte, meine eigene Kotze wieder in mich hineinzusaufen.“ Marie, die gerade einen großen Schluck genommen hatte, stellte nach dieser Information das Getränk vorsichtig beiseite. Um das Thema zu wechseln, fragte sie: ,,Wollen wir jetzt die Sache mit dem Flughafen erzählen, Leo? Oder wollt ihr euch erst anhören, was Hedwig und ich euch zu sagen haben?“ So tauschten sie sich gegenseitig aus. Nachdem Jonas und Hedwig sich beide in Begeisterungsstürmen gewiegt hatte, weil sie meinten, den Zugang zu einem Geheimgang entdeckt zu haben, kamen sie zu dem etwas ernsteren Thema. Marie und Leo berichteten den beiden von ihrer seltsamen Begegnung mit dem Mädchen und dem Uniformierten am Flughafen. Danach erzählte Leo noch kurz und bündig, was Herr Maschael von ihnen gewollt hatte und schloss mit einem mulmigen Gefühl herannahenden Unheils im Bauch: ,,Dieser Lehrer hat mich einfach extrem an das Mädchen erinnert, dem wir begegnet sind. Auch bei ihr hatte ich das Gefühl, vor einer unberechenbaren Schauspielerin zu stehen, die ständig ihre Rollen wechselt. Kam dir das bei Herrn Maschael nicht ähnlich vor, Jonas?“, fragend schaute er seinen Freund an. Dieser nickte nach einer kurzen Zeit. Dann sagte er ein wenig düster: ,,Das, was ihr am Flughafen erlebt habt, könnte den Verdacht einiger Irianer bestätigen.“ ,,Welchen Verdacht?“, fragte Marie, während sie versuchte, etwas von einer Frucht abzubeißen, die aussah wie eine Kirsche, sich aber langzog wie warmer Käse. ,,Emanuel“, begann Hedwig, ,,hat vor etwa zwei Monaten eine merkwürdige Andeutung gemacht. Er sagte, dass sich die Herzen der Menschen verhärten und es bald eine große Veränderung geben wird, die schon jetzt begonnen hat. Ihr wisst ja mittlerweile, dass viele Irianer Christen sind. Aber Emanuel sagte, dass sich einige von Gott abgewandt haben und eine Verschwörung planen. Er sagte auch, das Übel sei direkt in ihrer Mitte. Jetzt haben viele Angst, dass es Krieg geben könnte, weil das ganze System zusammenbricht.“ ,,Na ja“, unterbrach Leo sie ohne richtig darüber nachzudenken, ,,aber im Moment scheinen wir hier doch sicher zu sein…., oder?“ Unschlüssig sah er seine beiden neuen Freunde an. Jonas nickte kräftig. ,,Solange Emanuel bei uns ist sind wir auf jeden Fall sicher.“, sagte er und lehnte sich satt und zufrieden in seinem Stuhl zurück. ,,Sag mal“, fing Marie an, ,,wer ist Emanuel überhaupt?“ ,,Er ist… hhmm...“ Während Jonas noch nach den richtigen Worten suchte, schnatterte Hedwig schon drauf los: ,,Vor ungefähr fünfzig Jahren kam er aus der Wildnis zu uns in die Zivilisation. Zuerst wollte man ihn töten, weil Löwen schließlich gefährlich sind, aber bald merkte man, dass da etwas an ihm war, was… nun ja, anders war. Nach und nach veränderte er das Land und die Menschen vertrauten ihm immer mehr. Er ist sehr weise, müsst ihr wissen. Er hat den Menschen vor fünfzig Jahren die Augen geöffnet. Und das tut er auch heute noch. Viele glauben, dass Gott in geschickt hat, um Iria allmählich zu ordnen. Aber das ist eine lange Geschichte.“ Aber Hedwig erzählte diese lange Geschichte nicht. Stattdessen schmiedeten die Freunde den restlichen Tag lang Pläne darüber, wie sie die merkwürdigen Türen, die sie in ihren Zimmern entdeckt hatten, öffnen könnten, um zu erfahren, was sich dahinter verbarg. Da es erst früher Abend war, beschlossen sie ihre Pläne noch an diesem Tag zu verwirklichen. So verschwanden sie jeweils auf ihre Zimmer, um ihre Zeit damit zu verbringen, in Tagträumen zu schwelgen und auf massivem Holz herumzuklopfen. Sobald die beiden Mädchen in ihr Zimmer gelangt waren, versuchte Hedwig das Bett ein Stückchen wegzuschieben und ließ sich auf die Knie nieder, um die Tür zu untersuchen. Dann drängte sie Marie, ihr mit einer Taschenlampe bewaffnet zu folgen. Wenig später lagen beide in dem Staub längst vergangener Jahre und husteten. Nun ja, das war nicht ihre Haupttätigkeit. Eigentlich versuchten sie aus Leibeskräften die Tür hochzustemmen. Doch diese Anstrengung ließ sie nur noch stärker röcheln. Besonders schlimm hatte es Hedwig erwischt. Ihre Allergie machte sich durch ständiges Niesen und leichte Atemnot bemerkbar. So war es in jedem Fall verständlich, dass sie nach einiger Zeit, als nichts geschah, frustriert von der Seite gegen das Holz trat. Das war der entscheidende Moment. Ohne damit zu rechnen hatte Hedwig es tatsächlich geschafft, die Tür einen Spalt breit zu verschieben und somit den Blick auf das Dahinterliegende freizugeben. Durch ihren Erfolg ermutigt schoben die Mädchen das schwere Brett vollständig auf. Darunter kamen ein dunkler Gang und eine Strickleiter zum Vorschein. Ohne zu zögern stieg Hedwig hinein. Marie folgte ihr etwas weniger überzeugt, während sie ungeschickt versuchte, das Gleichgewicht beizubehalten und mit der Taschenlampe in die Dunkelheit hinab zu leuchten. Das Erstaunen machte sie sprachlos. Ihre Nerven waren gereizt und sie hatte keine Ahnung, was als nächstes passieren würde. Unten angekommen umfing sie vollkommene Dunkelheit. Nur der schwache Lichtstrahl von Maries Taschenlampe ließ die mit Moos bewachsenen, feucht glitzernden Felsen gespenstisch aufleuchten. Die Luft war erfüllt von tropfendem Wasser und und einer ansonsten bleischweren Stille. Dieser Augenblick schien besonders zu sein. In vollen Zügen atmete Hedwig die feuchte Luft ein. Sie war glücklich, dass ihr erster Schultag so gut verlaufen war. Sie hatte neue Freunde und einen unterirdischen Gang gefunden. Gerade wollte ihre Fantasie damit beginnen, die schemenhaften Umrisse der Felsen sprechen und aus ihren Schatten kleinste Wesen hervortreten zu lassen, als Marie die ungewohnte Stille durchbrach. ,,Sollten wir nicht lieber die Anderen holen?“, fragte sie, ,,Wir müssen ihnen das hier schließlich zeigen!“ Hedwig winkte ab. ,,Dafür ist später auch noch Zeit.“, sagte sie und stapfte mit entschlossenen Schritten über das rutschige Gestein unter ihren Füßen, sodass die dumpfen Geräusch einen unheimlichen Widerhall erzeugte. Sie wollte das Geheimnis dieses Ortes lüften. Ihr Entdeckergeist war geweckt. Das machte sie so beschwingt, dass selbst Maries Fluch und der erlöschende Lichtstrahl ihre Laune nicht verderben konnten. Scheinbar waren die Batterien der Taschenlampe leer. ,,Lass uns zurückgehen.“, drängte Marie nachdem sie ein paar Mal halbherzig auf der kleinen Lampe herumgeklopft hatte, ,,Ohne Licht sind wir hier aufgeschmissen!“ In diesem Moment spürte Hedwig, dass etwas weiches, nasses ihr Hosenbein an ihre linke Wade drückte. Dazu ertönte ein schmatzendes Geräusch. ,,Oh nein!“, rief sie, als sie allmählich erkannte, was geschehen war. Sie war in eine zähe Schlammpfütze getreten. Vergeblich versuchte sie ihren Fuß aus dieser unangenehmen, klebrigen Masse zu befreien, bis Marie ihr zu Hilfe kam. Eine Minuten lang versuchten sie gemeinsam, Hedwigs Fuß herauszuziehen, doch er bewegte sich kein Stück. Hedwig merkte, wie ihre gute Laune nach und nach von ihr abfiel. Sie waren ohne Licht in einem unbekannten, modrigen Gang und sie steckte in einer Schlammpfütze fest. Na toll! ,,Ich hole Hilfe!“, beschloss Marie schließlich keuchend, nachdem sie alle Kraft aufgebracht hatte, um ihre Freundin irgendwie zu befreien, ,,Warte hier!“ ,,Wird mir schwer fallen!“, rief Hedwig ihr noch hinterher, nachdem Marie bereits ein paar Schritte gegangen war, ,,Diese Bewegungsfreiheit muss man schließlich ausnutzen!“ Doch ihre Freundin ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen beeilte sie sich, im Dunkeln zurück zur Strickleiter zu finden. Plötzlich stockte sie. War da nicht eben etwas gewesen? Ein seltsamer Laut? Ein unterdrückter, erschrockener Aufschrei von Hedwig? Panisch drehte sie sich um. Was mochte wohl hier unten in diesem Loch passiert sein? ,,Marie, da kommt jemand!“, hörte sie Hedwig zischen. Im ersten Moment war sie froh, dass ihrer Freundin nichts passiert war, doch bereits kurz darauf sah sie das schwache Leuchten einer Taschenlampe in der Dunkelheit auf sich zukommen. ,,Wer ist da?“, fragte sie nervös in das undurchdringliche Schwarz hinein. Keine Antwort. Langsam lief sie zurück zu Hedwig, die sich in ihrem Schlammloch keinen Millimeter rühren konnte. Weglaufen war also keine Option. Es sei denn, Marie könnte Hilfe holen. So standen sie nebeneinander da, starrten in die Dunkelheit und versuchten irgendetwas zu erkennen. Langsam lösten sich die Umrisse zweier Gestalten aus dem Nichts. Sie konnten nicht erkennen, wer es war, geschweige denn, in welcher Absicht. Doch nach quälend langen Sekunden erkannten sie die beiden. Und die beiden erkannten sie. Alle vier riefen im Chor die Namen der anderen beiden. ,,Was macht ihr denn hier?“, fragte Hedwig neugierig, als sie in die beiden Gesichter von Leo und Jonas sah, ,,Seid ihr durch euren Schrank hier herein gekommen?“ Jonas nickte. Dann blickte er langsam an Hedwig hinab und fragte irritiert: ,,Was ist los mit dir? Wieso stehst du so stocksteif da wie ein...“ Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment erkannte er, was mit Hedwig geschehen war. ,,Jetzt quasselt doch nicht so viel, helft mir lieber Hedwig hier raus zu ziehen!“, forderte Marie die beiden Jungen auf. Gemeinsam schafften sie es. Dann fing es an aus Jonas herauszusprudeln: ,,Seid ihr durch die Tür unter Hedwigs Bett hierher gekommen?“ Und als die beiden nickten, fing er an zu reden wie ein Wasserfall. ,,Oh Mann, war das aufregend, als Leo und ich es endlich geschafft haben, die Tür zu öffnen. Das war gar nicht so einfach. Wir haben nämlich...“ ,,Jonas, bitte.“, fuhr Leo ihn genervt an, ,,Sei einfach mal eine Minute still, ja?“ Jonas klappte seinen bis zum Anschlag geöffneten Mund zu und schmollte. ,,Er ist schon die ganze Zeit so aufgekratzt und das alles nur wegen dieser komischen Wandschrankgeschichte.“, rechtfertigte Leo sich entschuldigend, als er merkte, dass die Blicke der Mädchen an ihm hafteten. Hedwig kicherte. ,,Tja, das ist Jonas wie er leibt und lebt.“, stichelte sie, ,,Du solltest ihn mal beim Bibelkicker spielen erleben. Nach dem Spiel kriegt er immer einen Nervenkollaps, egal ob er gewonnen oder verloren hat!“ Marie stöhnte leise und sagte, bestrebt, endlich wieder ans Tageslicht zu kommen: ,,Ist ja gut. Übertreibt es nicht!“

Stolpernd bahnten sich die Freunde einen Weg aus dem dunklen, muffigem Schrank heraus ins Zimmer der Jungen. Als Marie die Koffer erblickte, deren Inhalt quer über das gesamte Zimmer verteilt war, sog sie scharf Luft ein. Sie hasste Unordnung. Am liebsten wäre sie wieder in den unheimlichen Gang verschwunden, statt diesen Anblick aushalten zu müssen. Doch sie verkniff sich einen Kommentar. Hedwig stand zitternd und tropfnass neben ihr. Leo, Jonas und sie selbst hatten versucht, ihre abenteuerlustige Freundin davon zu überzeugen, in ihr Zimmer zurückzukehren und sich umzuziehen, doch stattdessen hatte diese darauf bestanden, sich zuerst den Wandschrank genauer anzusehen. Und gegen so einen Starrsinn wie den ihrer Freundin ließ sich kaum etwas unternehmen. Ungeachtet dessen, dass sie überall auf dem Boden braune Fußspuren hinterließ, machte Hedwig die Tür des Schrankes sperrangelweit auf und leuchtete zusätzlich noch mit einer Taschenlampe hinein, um sich die Tür richtig ansehen zu können. Nachdem eine Weile vergangen war, sagte sie nachdenklich: ,,Ich frage mich, was das soll. Ein unterirdischer Gang in einer Schule, der zwei Zimmer miteinander verbindet. Ist das nicht ein bisschen unsinnig?“ ,,Vielleicht waren früher, als der Gang gebaut wurde, noch mehr Lehrer dagegen, dass sich Jungen und Mädchen im selben Zimmer aufhalten und Schüler haben ihn gegraben, um sich gegenseitig zu besuchen.“, meinte Leo scherzhaft. Doch Hedwig zeigte keine Reaktion. ,,Ich frage mich, ob es hier noch mehr von solchen Gängen gibt.“, murmelte sie wie zu sich selbst. ,,Darüber kannst du dir später Gedanken machen.“, sagte Jonas und gab ihr einen leichten Schubs Richtung Geheimgang, ,,Du musst dich nämlich erst umziehen.“ Während Hedwig demonstrativ die Arme verschränkte, fiel Maries Blick auf das einzige Foto, das auf Jonas Nachttisch stand. Es zeigte eine blonde junge Frau mit einem Mädchen und einem Jungen im Grundschulalter. Der Junge mit den strohblonden Haaren war definitiv Jonas. Neben ihm stand ein etwas größeres Mädchen, deren rotbraune Haare in alle Richtungen abstanden, während sie der Kamera eine Grimasse schnitt. ,,Sind das deine Mutter und Lisa, deine Schwester?“, fragte Marie und deutete auf das Foto. Jonas, der soeben noch versucht hatte, Hedwig dazu zu bewegen, endlich in ihr Zimmer zurückzugehen, verstummte. ,,Ja.“, sagte er und lächelte. Doch etwas in seinen Zügen passte nicht. Um seinen Mund herum nahm Marie einen schmerzvollen Zug wahr. Deshalb fragte sie vorsichtig: ,,Stimmt etwas nicht?“ Jonas, der auf einmal vollkommen in sich gekehrt war, schüttelte den Kopf, als Zeichen dafür, dass Marie keine Auskunft erhalten würde. ,,Und dein Vater?“, fragte Marie dennoch weiter. ,,Den kenne ich nicht.“, sagte Jonas knapp, ,,Er ist vor zehn Jahren abgehauen und Mama hat nie über ihn gesprochen...“ ,,Das tut mir Leid...“, murmelte Marie und suchte nach Worten. Doch das Einzige, was ihr einfiel, war: ,,Mein Vater ist tot.“ Plötzlich galt ihr wieder Jonas gesamte Aufmerksamkeit. ,,Wie ist das passiert?“, fragte er mitfühlend. ,,Bei einem Amoklauf in einer Kaserne.“, antwortete Marie, ,,Aber das ist schon lange her.“ ,,Wo wir gerade von unseren Familien reden“, mischte sich Leo ein, ,,wie alt ist deine Schwester eigentlich, Jonas?“ ,,Zwölf.“, antwortete dieser, erfreut über den Themenwechsel, ,,Sie ist ein Jahr älter als ich. Und was ist mit dir? Hast du Geschwister?“ ,,Allerdings.“, stöhnte Leo. ,,Und?“, fragte Hedwig neugierig und als daraufhin immer noch keine Reaktion kam: ,,Wie heißen sie, sind sie älter oder jünger als du...“ Doch bevor Hedwig sämtliche weitere Kriterien aufzählen konnte, mit denen man die Menschen beschreiben kann, denen man wahrscheinlich die meisten Wutausbrüche und Nervenzusammenbrüche seines Lebens zu verdanken hat, antwortete Leo schon. ,,Mein ältester Bruder ist zwanzig und heißt Manuel.“, erklärte er und ließ sich stöhnend auf eines der Betten fallen, das daraufhin bedenklich knarzte, ,,Aber er wohnt immerhin nicht mehr bei uns. Danach ist da noch Jonathan. Er ist ein Jahr jünger und ich hoffe, er zieht auch bald aus.“ Als Leo in die schockierten Gesichter seiner Freunde sah, konnte er die ernste Fassade nicht mehr aufrecht erhalten. Er musste lachen. Dann fuhr er etwas weniger pessimistisch fort: ,,Mein Bruder Finn ist fünfzehn und Maximilian und Luka sind dreizehn. Nicht zu vergessen meine kleine Schwester Sarah-Annabell.“ Bei diesen Worten musterte er seine Freunde und fügte hinzu: ,,Bevor ihr fragt: ja, sie verhält sich genauso tussig wie ihr Name es vermuten lässt und sieht auch genauso aus.“ Jetzt konnte niemand mehr an sich halten. Leos letzte Worte gingen in lautem Lachen unter. ,,Dich hat es ja fast genauso gut erwischt wie mich.“, grinste Hedwig, ,,Ich habe vier jüngere Geschwister, die mir von früh bis spät auf die Nerven gehen. Nur nicht Talvi, die Kleinste, die ist noch niedlich.“, lachte sie dann und hielt inne. ,,Und wie alt sind die Anderen alle?“, fragte Marie, mehr der Form halber als aus Interesse. Schließlich würde sie das alles nach weniger Zeit sowieso wieder vergessen. ,,Solome ist acht, Nadab sieben, Levi sechs und Talvi zwei.“, ratterte Hedwig wie vorher einstudiert herunter. ,,Oh.“, Leo musste grinsen, ,,Sechs, sieben und acht, alle Achtung!“ Verärgert schubste Hedwig ihn zur Seite.

Ein paar Minuten später, nachdem Hedwig aufgehört hatte, sich mit Leo zu zanken, befanden sich die Mädchen wieder in dem modrigen Gang. Jonas hatte ihnen neue Batterien für die Taschenlampe gegeben, sodass sie jetzt zumindest nicht mehr ganz ohne Licht waren. ,,Sag mal“, fing Marie an, ,,was ist mit Jonas Mutter? Ich meine, du kennst ihn doch gut und ich...“, in diesem Augenblick stoppte sie. Auf einmal war es ihr äußerst peinlich, überhaupt nachgefragt zu haben. Unkontrolliert stotterte sie: ,,Wenn nicht jeder davon wissen soll, ist das natürlich in Ordnung. Aber ich hatte einfach den Eindruck, dass da etwas nicht stimmt.“ ,,Ist schon gut.“, beruhigte Hedwig sie, ,,Das ist kein großes Geheimnis. Jonas Mutter ist ein paar Wochen vor den Sommerferien an Krebs gestorben. Sie hatte diese Krankheit bereits jahrelang und Jonas und Lisa mussten sich um sie kümmern. Außerdem war sie noch sehr jung.“ ,,Das tut mir Leid.“, sagte Marie mit trockener Kehle. Beklemmt stellte sie fest, dass sie sich so kurz nach dem Tod ihres Vaters nach so kurzer Zeit noch lange nicht so gut erholt hätte wie Jonas. Ihrer Freundin gegenüber äußerte sie diesen Gedanken. ,,Ich glaube, ich hätte mich seit dem Tag an in mein Zimmer eingeschlossen und wäre noch immer nicht herausgekommen.“ Hedwigs Antwort darauf war erschreckend nüchtern und sachlich. ,,Ich glaube Jonas und Lisa konnten einigermaßen gut damit umgehen, weil sie schon lange vor dem Tod ihrer Mutter angefangen haben, sich von ihr zu verabschieden. Zum Ende hin konnte sie fast gar nichts mehr.“ Marie traten bei dieser Geschichte die Tränen in die Augen. ,,Wie bitte kannst du das alles so leicht nehmen?“, fragte sie schleppend, ,,Weißt du denn gar nicht, was es bedeutet, einen geliebten Menschen zu verlieren?“ Jetzt blieb Hedwig stehen und blickte Marie ernst ins Gesicht. Leise sagte sie: ,,Glaub ja nicht, dass mir der Tod von Jonas Mutter nichts bedeutet hat. Unsere Familien waren über lange Jahre gut befreundet und sie war eine Art zweite Mutter für mich. In der langen Zeit, in der Jonas und Lisa sie gepflegt haben, habe ich ihnen oft geholfen. Ich habe gesehen, wie sich dieser Mensch, den ich liebte immer mehr auf eine schwache körperliche Hülle reduzierte, die Tag für Tag dahinschwand. Sie konnte mit ihrer Krankheit nicht umgehen. Ich glaube sie hatte Depressionen. Weißt du, es gibt viele Arten, mit Trauer umzugehen. Meine ist es, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, nichts zu beschönigen und mich nicht zu sehr in meinen eigenen Gefühlen zu verstricken.“ Jetzt war es totenstill. Ihre Tränen hatten sich mittlerweile den Weg von ihren Augen bis hin zum Kinn gebahnt. Diese Völkerwanderung des salzigen Wassers wollte einfach nicht aufhören. Marie weinte. Still. Und ärgerte sich darüber, dass sie so empfindlich war. Doch plötzlich durchbrach Hedwig das Schweigen wieder. ,,Einen Moment werde ich nie vergessen.“, sagte sie und ihre Augen glänzten. Aber nicht von Tränen der Trauer. ,,Genaugenommen waren es sogar mehrere.“, fuhr sie fort, ,,Manchmal schien diese ganze Traurigkeit einfach von ihr abgewischt worden zu sein. Sie war immer noch schwach, aber in ihren Augen loderte Hoffnung. Die Hoffnung auf einen Neuanfang. Die Hoffnung auf Leben. Sie hat mir in diesen Momenten oft erzählt, wie sehr sie sich darauf freut, endlich in das Gesicht Gottes zu blicken.“, jetzt lachte Hedwig auf, noch während sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte, ,,Sie war früher sehr musikalisch und hat gesagt, im Himmel werde sie dann zum ersten Mal richtige Musik hören. Den Klang der Posaunen, Gott zur Ehre. Aber außerhalb dieser besonderen Lichtblicke hat sie nie davon gesprochen. Doch ich glaube, dass diese Gewissheit und Freude immer noch in ihr war und sie innerlich am Leben erhielt. In dieser Zeit waren ihre Augen wie ein über und über mit Sternen bedeckter, wundervoll leuchten und glänzender Nachthimmel, über den ab und zu ein paar Wolken ziehen und ihn manchmal sogar ganz verdecken.“

Verstört ließ sich Jonas auf sein Bett fallen. Ihm war, als wäre ihm der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Er sah das Gesicht seiner Mutter vor sich. Immer abwechselnd: ausdruckslos, vor Schmerzen verzogen und ab und zu auch lächelnd. Er spürte, wie sich in seinem Hals ein Kloß bildete und langsam die Luftröhre hinauf wanderte. Dieser Klos tat so weh! Und er nahm ihm beinahe den Atem. Um den enormen Druck loszuwerden, ließ er es zu, das sich seine Augen mit Tränen füllten. Damit Leo es nicht direkt sehen konnte, verbarg er sein Gesicht in den Händen. Seine Gedanken fuhren Karussell. Langsam wurde ihm schwindelig. Doch er musste den Schmerz aushalten. Er durfte jetzt auf gar keinen Fall den Kopf verlieren… Er spürte, wie sich die Matratze spannte und neben ihm nach unten sackte. Leo hatte sich schweigend zu ihm gesetzt. So saßen sie eine Weile da, bis Jonas seine Fassung allmählich wiedererlangte. Er schniefte leise und sah dann seinem neuen Freund ins Gesicht. Leo zögerte. ,,Möchtest du mir sagen, was los ist?“, fragte er sehr vorsichtig. Empathie war nicht seine Stärke, genauso wenig wie Taktgefühl. Er wollte nicht alles nur noch schlimmer machen. Mit belegter Stimme fing Jonas an zu sprechen: ,,Mama hatte lange Zeit Krebs. Sie ist vor den Sommerferien gestorben.“ Er schaute in Richtung des Fotos, vermied aber, es anzusehen. „Deshalb habe ich so seltsam reagiert, als Marie mich darauf angesprochen hat. Ich wollte nicht schon wieder Albträume haben.“ Er schluckte. Behutsam legte Leo ihm den Arm um die Schulter. Er wagte es nicht, zu sprechen. „Während der Zeit danach war ich erst eine Weile lang bei Hedwigs Familie. Später bin ich dann schon eher nach Firaday gekommen, weil Professor Ferono anscheinend gehört hat, was passiert ist.“, erklärend fügte er hinzu, ,,Ich wusste zu dem Zeitpunkt natürlich noch nicht, dass ich dann später auch hierhin komme, aber ich hatte einige Freunde auf dieser Schule.“ Dann ergänzte er stockend: ,,Das Ganze war eine willkommene Abwechslung, denn bei Hedwig zu Hause wurde auch nur Trübsal geblasen. Das hat mir nicht wirklich weitergeholfen.“ Nach einer kurzen Pause spürte er, wie seine Augen wieder feucht wurden. Dann spie er Leo das, was ihn seit Wochen schwer auf der Seele lastete, ins Gesicht. ,,Meine Schwester haben sie auch gefragt, ob sie mit zu Hedwig und dann sogar nach Firaday kommen will. Aber sie hat abgelehnt und behauptete, bei irgendwelchen Freunden in Sinistro untergekommen zu sein. Seit einiger Zeit verhält sie sich einfach so merkwürdig. Und dabei brauche ich sie jetzt, wo Mama nicht mehr da ist, doch am meisten! Und ich glaube, sie braucht mich auch! Aber stattdessen merke ich, dass sie sich innerlich von mir und allen Anderen abschottet. Aber warum?“ Leo kannte keine Antwort. Am liebsten hätte er den Raum verlassen, um nicht von Jonas schweren Gedanken erdrückt und mitgerissen zu werden. Doch stattdessen sagte er leise: ,,Ich weiß es nicht. Aber du hast jetzt uns. Ich weiß, dass wir kein Ersatz für deine Schwester sind, aber wir werden versuchen, dir zu helfen. Vielleicht...“ Doch weiter kam er nicht. Er merkte, wie Jonas in diesem Moment auf einmal schwer zu atmen anfing, so, als müsse er verzweifelt nach Luft ringen. ,,Was ist wenn sie an die falschen Leute geraten ist?“, jetzt schrie er beinahe, Leo mit vor Wahnsinn und Verzweiflung geweiteten Augen anblickend, ,,Was ist, wenn jemand von diesen seltsamen Verschwörern, von denen Emanuel gesprochen hat, sie geschnappt hat und jetzt zu irgendetwas zwingt? Was ist wenn...“ Genau in diesem Moment flog die Tür auf. Das Erste, was die beiden Jungen wahrnahmen, waren ein starker Luftzug, sowie ein dumpfer Schlag, als das Holz mit voller Wucht gegen die Wand krachte. Erschrocken blickten die beiden auf. Sobald sie erkannten, wer der unhöfliche Besucher war, verfinsterten sich ihre Mienen. Vor ihnen stand ein hagerer Mann mit braunen Haaren und einem einnehmendem Lächeln. ,,Was machen sie denn so plötzlich hier?“, rutschte es Leo heraus. ,,Tja, mein Lieber, was mache ich wohl hier?“, fragte der Lehrer immer noch lächelnd und antwortete sich sogleich selbst, ,,Ich beuge vor, dass falsche Gerüchte verbreitet werden. Und vor allem wache ich darüber, dass Schüler sich an meine Anweisungen halten!“ trotz des breiten Lächelns, das immer noch sein Gesicht verunstaltete, merkte man ihm seine geballte Wut an. Er holte tief Luft. Es war, als bräuchte er Zeit, um den nächsten Schritt zu überdenken. Dann fragte er schwungvoll: ,,Du mit den blonden Haaren. Erklär mir doch mal, wer Emanuel ist.“ Jonas sah ihn schief an und antwortete dann etwas irritiert: ,,Emanuel ist sozusagen der Präsident unseres Landes. Ich glaube, dass Gott ihn geschickt hat, um uns zu helfen und uns zu zeigen, was er von uns möchte. Aber… das wissen sie doch.“ „Ja!“, rief Herr Maschael triumphierend, „Du sagst er ist der Präsident. Du sagst, Gott hat ihn eingesetzt. Du stellst ihn über den richtigen Präsidenten. Wenn du erwachsen wärst, würde ich dich jetzt des Hochverrats anklagen. Aber ich denke, da du noch so jung bist, wird es reichen, dich nachsitzen zu lassen. Nur ein paar Stunden lang. Samstags, 15:00 Uhr.“ Seine Stimme war plötzlich laut geworden. Jetzt wandte er sich an Leo. ,,Und du kommst am besten gleich mit!“, befahl er eine Spur freundlicher. ,,Aber was...“, fing Jonas an, doch nach einem Fußtritt von Leo verstummte er. So blieb Leo nichts Anderes übrig, als ,,Der Vogelscheuche“, wie er Herrn Maschael insgeheim nannte, in ihr verhasstes Büro zu folgen. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte er so höflich wie möglich: ,,Herr Maschael, mal ganz abgesehen davon, dass ich keinen blassen Schimmer habe, was Jonas und ich falsch gemacht haben, bin ich empört darüber, dass sie uns scheinbar belauscht haben. Was sollte das? ,,Oh“, Herr Maschael lachte gekünstelt, ,,ich habe euch nicht belauscht. Aber bitte, überzeuge dich selbst. Sieh mal, was ich hier habe.“ Bei diesen Worten wedelte er mit den Stundenplänen, die er in seiner linken Hand hielt. ,,Ich wollte sie gerade austeilen.“, fuhr er fort und lachte wieder auf, ,,Nun, ich konnte ja nicht ahnen, dass ich Zeuge eine antiirianischen Unterhaltung werde. Das war ein glücklicher Zufall.“ ,,Antiirianisch?“, Leo runzelte die Stirn. Erstens hatte er keine Ahnung, was dieses Wort bedeuten sollte. Das Einzige, was ihm klar war, war dass es etwas mit Politik zu haben musste. Und zweitens konnte er sich beim besten Willen nicht daran erinnern, mit Jonas über Politik gesprochen zu haben. Doch Herr Maschael ignorierte die sichtbare Verwirrung seines Schülers. Stattdessen sagte er freundlich: ,,Nun, der wahre Grund, warum du hier bist, ist eigentlich nicht der, dass ich dich bestrafen will. Ganz im Gegenteil: ich will dir helfen.“ Er machte eine Pause, holte tief Luft und fuhr dann mit so mitfühlender Stimme wie möglich fort: ,,Ich kann mir vorstellen, wie es ist, wenn man aus einer anderen Welt hierher kommt und einem nur seltsame Flausen in den Kopf gesetzt werden, die einen verwirren und einem Angst einjagen. Und das hat dein toller Freund doch getan, oder nicht?“ Große und erwartungsvolle Augen schauten Leo an. Wenn er nicht gewusst hätte, zu was für einer Person diese Augen gehörten, hätte er sie leicht mit gespannten Kinderaugen verwechseln können. Da Leo keinen Laut von sich gab, sprach der Lehrer weiter. ,,Das Einzige, was ich von dir verlange, ist, das Gespräch mit deinem Freund hier auf dieses Blatt zu schreiben. Danach darfst du selbstverständlich gehen.“ Lächelnd reichte er Leo einen Stift und ein liniertes Blatt Papier und wandte sich seinem Schreibtisch zu, ganz so, als würde er beschäftigt sein. Doch Leo wusste, dass er ihn beobachtete. Er wusste auch, dass er sich jetzt entscheiden musste. Entweder machte er sich diesen ekligen Typen zum Feind oder er schmeichelte ihm und würde damit Jonas verraten. Seine Entscheidung stand fest. Entschlossen fing Leo an zu schreiben. Die Mine des Stiftes kratzte hart und meißelte sich, durch das dünne Blatt hindurch, in das weiche Holz des Tisches ein. In seinem Nacken brannten die Blicke des Lehrers und zogen die Aufmerksamkeit seiner Gedanken wie magnetisch auf sich. Er schrieb:

Sehr geehrter Herr Maschael,

leider finde ich ihr Verhalten äußert merkwürdig und ich sehe nicht den geringsten Grund, warum ich ihnen Kontrolle über mich und meinen Freund geben und ein privates Gespräch aufzeichnen sollte.

Mit freundlichen Grüßen,

Erst hatte er seinen Namen unter den kurzen Brief gesetzt, doch gleich darauf strich er ihn wieder durch und machte ihn gänzlich unkenntlich. Er wollte vermeiden, dass Herr Maschael ihm einen Strick daraus drehte. Schließlich hätte er so seine Unterschrift gehabt. Und diesem Lehrer traute er alles zu. Als er ein paar Sekunden lang nur noch so getan hatte, als würde er schreiben, um den Anschein zu erwecken, Herr Maschaels Anweisung zu folgen, faltete er den Zettel sorgfältig zusammen und gab ihn ab. Höchst zufrieden nahm der Lehrer ihn entgegen und entließ Leo, ohne sich das Papier in seiner Gegenwart noch genauer anzusehen.

Unendlich froh, wieder draußen zu sein, rannte Leo auf sein Zimmer und entlud seine Wut auf diesen ekelhaften Mann, indem er die Tür mit aller Kraft zuschlug. Jonas, der noch immer auf dem Bett saß, erschrak und zuckte zusammen. ,,Und?“, flüsterte er besorgt und sah Leo an, als wäre es möglich, dass sein bester Freund soeben zum Tode verurteilt worden wäre. Doch das ließ Leo nur noch mehr aus der Haut fahren. ,,Warum flüsterst du?“, rief er aufgebracht. Und dann fing er an zu schimpfen: ,,So eine falsche Schlange...“ ,,Psst!“, beunruhigt legte Jonas den Finger an seine Lippen, ,,Ich flüstere, damit Herr Maschael uns nicht wieder belauschen kann.“, erklärte er mit Nachdruck. ,,Ach was!“, rief Leo und macht eine wegwerfende Handbewegung, „Soll er doch. Dann muss ich ihm nicht ins Gesicht sagen, was ich von seinem Verhalten halte!“ Auf einmal klopfte es an der Zimmertür. ,,Siehst du!“, zischte Jonas panisch, ,,Genau das habe ich befürchtet.“ Als die beiden öffneten, stand zu ihrem großen Glück kein Herr Maschael vor der Tür.

„Oh.“, sagte Leo und wurde bleich, als er die Schulleiterin erkannte. Es war ihm peinlich, dass sie möglicherweise gehört hatte, wie er über einen ihrer Kollegen geschimpft hatte. Jonas schien ähnlichen Gedanken nachzuhängen. ,,Haben wir etwas falsch gemacht?“, fragte er, vor Aufregung über beide Ohren rot. ,,Aber nein!“, rief Professor Ferono und lachte. Es war kein künstlich aufgesetztes Lachen wie bei Herrn Maschael, sondern ein echtes, freundliches. Die beiden Jungen entspannten sich sichtlich. Dann fuhr die Schulleiterin fort: „Aber weshalb die Schuldgefühle? Ihr habt doch nicht etwa etwas in eurem Zimmer kaputt gemacht, oder?“, fragte sie und zwinkerte ihnen dabei kaum merklich zu. ,,Nein!“, war die geeinte, erleichterte Antwort der Jungen. ,,Also ihr beiden“, sagte sie dann etwas ernster, ,,ich muss kurz mit euch reden.“ Ohne darüber nachzudenken, öffnete Jonas die Zimmertür noch ein Stück weiter, um Professor Ferono Einlass zu gewähren. Doch die schüttelte verschmitzt den Kopf. ,,Oh nein, nicht hier. Lieber in meinem Büro.“ Erklärend fügte sie hinzu: ,,Wisst ihr, die Wände haben Ohren.“ Bei diesen Worten deutete sie auf eine Person, die weiter hinten unauffällig im Schatten des Flures stand und verdrehte genervt die Augen. Als die beiden Jungen erkannten, wer dort stand und sie mit zusammengekniffenen Augen und ebenso geformtem Mund verfolgte, mussten sie grinsen. Scheinbar waren sie nicht die Einzigen, die auf Herrn Maschael schlecht zu sprechen waren. So kam es, dass Leo an diesem Tag zum dritten Mal in das Büro eines Lehrers gerufen wurden. Er stellte fest, dass er, wenn es ihm an seiner alten Schule genauso ergangen wäre, wahrscheinlich schnellstmöglich gewechselt hätte. Schweigend folgten sie der netten Frau die Treppe hinunter und durch die Eingangshalle. Dann bogen in den Gang ein, durch den man auch gehen musste, wenn man zu Herr Maschaels Büro zitiert wurde. Allerdings bogen sie statt rechts links ab. Bald darauf standen sie vor einer Tür mit einem riesigem Schlüsselloch. Professor Ferono holte einen dazu passenden schweren, goldenen Schlüssel aus ihrem roten, mit Goldfaden besticktem Umhang heraus und öffnete. Vor ihnen lag jetzt ein langer Gang. Am anderen Ende stoppte eine Tür ihren Weg, die noch robuster aussah als die Tür zum Speisesaal. Kurz bevor sie sie erreichten, schien der Lehrerin etwas einzufallen. „Hat Sigor euch eure Stundenpläne eigentlich schon gegeben?“, fragte sie die beiden Jungen. Diese sahen sich verwirrt an und schwiegen.

„Ähm… Wer?“, fragte Jonas, als sie noch immer keine weitere Erklärung bekommen

hatten. ,,Ach ja!“, lachte Professor Ferono und griff sich an die Stirn, „Ich Esel! Ich meine natürlich Herrn Maschael.“ ,,Achso.“, grinste Jonas und antwortete wahrheitsgemäß: „Ja, er hat sie vor unsere Zimmertür gelegt.“ An der Tür angelangt, fing Professor Ferono an, mit einem großen Schlüsselbund herumzuhantieren, an dem viele kleine Schlüssel hingen. Einen von ihnen steckte sie in das merkwürdig geformte Schlüsselloch. Mit einem leisen Klicken sprang die Tür auf. Jonas und Leo sogen überrascht die Luft ein, als sie das Innere des Raumes sahen. Eigentlich hatten sie eine ähnlich spartanische Einrichtung wie in Herr Maschaels Büro erwartet. Stattdessen schlug ihnen frische Luft und der Geruch von Blumen entgegen. Wer diesen Raum betrat, konnte sich sofort ein Bild davon machen, welche Professor Feronos Hobbys waren: Bücher und Gärtnern. Neben turmhohen Bücherregalen türmte sich exotisch aussehendes Grünzeug in dem großen, unübersichtlichem Raum. Professor Ferono bat die beiden verdutzen Jungen herein und führte sie flink zu einem hinter Pflanzen versteckten, schön verziertem Schreibtisch und einem dazu passendem Stuhl. ,,Ich bin gleich wieder da.“, verkündete sie dann, nachdem sie so unauffällig wie möglich einen Bücherstapel nach dem anderen vom Schreibtisch gewischt hatte, der daraufhin jeweils mit einem lauten Knall zu Boden gefallen war. ,,Ich hole euch noch zwei Stühle.“ In diesem Moment durchfuhr Leo eine Welle der Sympathie für Professor Ferono. Sie war freundlich und dennoch ein wenig merkwürdig, wie vermutlich alle Lehrer hier, aber das auf eine gut Art und Weise. Außerdem schien sie seine Abneigung gegenüber Herrn Maschael zu teilen. In diesem Moment fing Jonas an, an einer seltsamen Pflanze herumzufummeln, woraufhin diese blitzschnell eine winzige Reihe von Zähnen entblößte und zuschnappte. Doch ehe Jonas sich verletzen oder irgendetwas zerstören konnte, kam Professor Ferono mit zwei Stühlen im Schlepptau um die Ecke. Diese verteilte sie um dem Schreibtisch herum und forderte die beiden Jungen auf, sich zu setzen. Als auch Jonas es endlich geschafft hatte, seinen Stuhl in eine Lage zu manövrieren, in der er nicht ständig nach vorne kippte, fing Professor Ferono an zu sprechen. „Es ist mir nicht entgangen, dass ihr heute bereits zwei kleine Unterredungen mit Herrn Maschael hattet.“, stellte sie klar und sah die beiden ernst an, „Ich bin mir nicht sicher, was mit ihm los ist, aber bitte fallt weder auf ihn herein noch lasst euch von ihm zu Opfern machen. Ihr müsst nicht viel darauf geben, was er so redet. Um die Wahrheit zu sagen, ist vieles davon sowieso gelogen.“ Sie schluckte und fuhr dann fort: ,,Er war ziemlich sauer, als er deinen Brief gelesen hat, Leo. Ich verstehe, warum du das gemacht hast, trotzdem muss ich dich leider bitten, zu versuchen, Herrn Maschael so wenig wie möglich zu reizen. Immerhin ist er dein Lehrer und wenn du es dir mit ihm verscherzt, könnte das ganz schön üble Folgen für dich haben.“ „Aber...“, fing Jonas verdutzt an, ,,er hat uns bestraft und wir haben keine Ahnung, warum. Das darf er doch nicht, nur weil er Lehrer ist!“ „Natürlich nicht.“, sagte Professor Ferono niedergeschlagen, „Ich werde auf jeden Fall versuchen, einen Weg zu finden, um dich vom Nachsitzen zu befreien.“ ,,Glauben sie eigentlich...“, Leo zögerte. Er war sich nicht sicher, ob er mit der Schulleiterin über dieses Thema sprechen durfte, aber am Ende überwog das Vertrauen. ,,Glauben sie eigentlich, dass Herr Maschael irgendetwas mit diesen Verschwörern zu tun hat?“ Verwundert zog Professor Ferono die Stirn in Falten. „Aber nein.“, sagte sie bestimmt, „Diese Leute wollen nicht mehr, dass der Glaube in Iria so einen starken Einfluss hat und haben ihn selbst verloren. Aber Herr Maschael ist Christ.“ ,,Obwohl er lügt?“, fragte Leo skeptisch. „Hast du noch nie gelogen?“, lautete die Gegenfrage. ,,Was ich euch noch fragen wollte“, fuhr sie dann fort, ,,Hat er euch eigentlich gebeten, ihm alles zu erzählen, was Professor Hermann und ich sagen?“ „So in etwa.“, bestätigte Leo.

„Seltsam, oder?“, stellte Jonas kritisch fest. „So seltsam nun wieder auch nicht.“, meinte Professor Ferono und erklärte: ,,Er versucht dauernd, Kollegen die einen höheren Posten haben als er davon zu verdrängen, indem er Schlechtes über sie erzählt. Er möchte nämlich selbst die Schule leiten.“ Professor Feronos Miene konnten sie lebhaft ansehen, wie sehr ihr der Plan ihres Kollegen ihr missfiel. Nach einer Weile entließ die Direktorin die beiden wieder.

Wieder auf ihrem Zimmer angelangt, sahen sie sich ihre Stundenpläne an. Leo stellte fest, dass hier neben Mathe, Deutsch und Englisch noch andere Fächer unterrichtete wurden, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Da war zum Beispiel das Fach IPT, das die Abkürzung für irianische Pflanzen und Tiere war. Außerdem gab es Missionsunterricht, und ein Fach, das Verschiedene Ansichten hieß. Aber er war froh, zumindest die Grundkenntnisse, die er auch zu Hause brauchen würde, an dieser Schule zu erlernen. Nachdem er sich gemeinsam mit Jonas über die viele Arbeit beschwert hatte, die am nächsten Tag auf sie warten würde, bemerkte Jonas gähnend: ,,Irgendwie bin ich schon so müde. Dabei ist es doch noch gar nicht so spät.“ Nach einem kurzen Blick auf die Uhr antwortete Leo stirnrunzelnd: ,,Ähm… das kommt darauf an, was du unter spät verstehst. Es ist jetzt genau 21:30.“ „Was?“, Jonas fiel fast aus allen Wolken, als er das hörte. Sonst ging er immer sehr früh ins Bett, weil er früher oft im Unterricht eingeschlafen war. Da er befürchtete, ihm würde dieses Missgeschick morgen wieder passieren, stöhnte er laut: „Oh nein!“ Doch Leo meinte nur nüchtern: „Ich glaube wir sollten langsam damit anfangen, unsere Koffer auszuräumen.“ „Vergiss es.“, gähnte Jonas, ließ sich aufs Bett fallen und räkelte sich,

„Ich will am ersten Tag nicht wieder auf meine Schulhefte sabbern während ich schlafe. Für die Koffer ist morgen auch noch Zeit.“ Leo schüttelte grinsend den Kopf. Währenddessen fischte er seinen Schlafanzug, eine Elektro-Zahnbürste und eine riesige Zahnpastatube aus seinem Koffer. Als er sich die Tube genauer ansah, lächelte ihm Prinzessin Elsa mit Olaf, dem verrückten Schneemann, entgegen. Verdrießlich stellte er fest, dass dies die geliebte Zahnpasta seiner Schwester sein musste. Dann schaute er sich suchend um und fragte Jonas: ,,Gibt es hier irgendwo ein Badezimmer?“ „Klar, gleich hinter der Tür da.“, grinste dieser und deutete auf das unscheinbare Holz in der Wand. „Das ganze Zeug brauchst du übrigens nicht, es gibt Schulschlafanzüge und mit deiner komischen Elektro-Zahnbürste kommst du auch nicht weit. Irianer haben in Badezimmern keine Steckdosen.“ Er rümpfte die Nase, als wäre dies das Normalste der Welt und alles Andere blanker Unsinn. Dann fuhr er zufrieden fort: „Außerdem kommt hier jeden Tag eine Putzfrau rein, die sich um die ganzen Hygieneartikel und so weiter kümmert. Chice Zahnpasta übrigens!“, bemerkte er abschließend und lachte. „Ich hätte echt nicht gedacht, dass du auf so etwas stehst!“

Iria - Der Schlüssel der Macht

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