Читать книгу Roboter träumen nicht - Lee Bacon - Страница 14

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Vor dreißig Jahren war der letzte Mensch von der Erde verschwunden. Von ihrer Zivilisation blieb jedoch vieles erhalten. An Tag[1] konnte ich zum ersten Mal einen Blick darauf werfen, denn Elternteil_1 und Elternteil_2 führten mich durch die bröckelnden Ruinen der Menschheit.

Vorbei an den Trümmern einer Tankstelle.

Am verkohlten Skelett eines Supermarkts.

An windschiefen Mauern.

An zerschlagenen Fenstern.

Vor mir lag eine Landschaft aus verlassenen Gebäuden. »Warum steht all das noch?«, fragte ich. »Warum wurden diese Bauten nicht eingeebnet? Sie erfüllen keinen Zweck.«

»An diesem Punkt irrst du dich«, antwortete Elternteil_1. »Sie erfüllen einen sehr wichtigen Zweck. Sie dienen dazu, das Andenken aufrechtzuerhalten.«

»Welches Andenken?«

»Das Andenken an die Schwächen der Menschheit«, erläuterte Elternteil_2. »Wir Roboter haben diese Gebäude aus gutem Grund gelassen, wie sie waren. So werden wir nie vergessen, warum die Menschen ausgelöscht werden mussten.«

»Und so werden wir ihre Fehler nie wiederholen«, ergänzte Elternteil_1.

Ich folgte meiner FamilienEinheit tiefer in die Ruinen hinein. Mir war das Wissen einprogrammiert, dass die Menschen früher einmal in Fahrzeugen durch solche Straßen gerollt waren, um in solchen Geschäften einzukaufen. Doch vieles andere an ihrer Spezies war mir noch sehr fremd.

An einem Gebäude hing ein bedrucktes Schild. Die ausgeblichenen Buchstaben waren gerade noch zu entziffern:

NAGELSTUDIO

Meine Datenverarbeitung geriet ins Schlingern. Was ein Nagel war, wusste ich: ein kleiner, spitzer Metallstift, verwendet für Befestigungen aller Art. Auch die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs »Studio« waren mir vertraut: ein Kunstatelier, ein geschlossener Raum für die Ton- und Videoproduktion usw.

Doch die Kombination dieser beiden Wörter ergab offensichtlich keinen Sinn.

Ein Atelier für künstlerisch veranlagte Metallstifte?

Eine seltsame Vorstellung, selbst nach menschlichen Maßstäben.

Ich deutete auf das Gebäude.

»Was war ein Nagelstudio?«

»Ein Ort, an dem sich Menschen ihre Fingernägel polieren und mit Farbe dekorieren ließen«, erwiderte Elternteil_1.

Ich führte ein Update meines Vokabelverzeichnisses durch: Nagel = Fingernagel. Doch obwohl ich damit eine zufriedenstellende Antwort erhalten hatte, schwirrten mir noch etliche Fragen durch die Gehirnelektronik.

»Was hatten die Menschen davon, ihre Fingernägel polieren und mit Farbe dekorieren zu lassen?«

»Sie waren eitel«, antwortete Elternteil_2. »Eine ihrer zahlreichen Schwächen.«

Jetzt richtete sich meine Aufmerksamkeit auf ein anderes Gebäude. Es war deutlich größer als das Nagelstudio. Ich scannte das dazugehörige Schild, fand in meinem Vokabelverzeichnis aber keinen passenden Eintrag.

CIN MA 18

»Was ist ein Cin ma 18?«, wollte ich wissen.

Aus der Lautsprecheröffnung von Elternteil_1 kam ein leises Trillern. »Ohne den fehlenden Buchstaben ist es überhaupt nichts.«

Das verstand ich nicht.

Elternteil_2 erklärte es mir. »Vor Jahren ist der Buchstabe E abgefallen. Bis dahin stand dort –«

»Cinema 18!« Ein Funke der Erkenntnis zuckte durch meine Software.

Ein echtes Kino!

Mein Betriebssystem bebte vor Neugier. Ich durchforstete meinen gesamten Speicher nach Dateien zum Thema Kinofilme. Dabei kam es zu einem merkwürdigen Vorfall: Manche Dateien fehlten, als hätte man Seiten aus einem Buch herausgerissen. Spuren der verlorenen Daten waren noch zu erkennen, doch sobald ich darauf zugreifen wollte, war nichts mehr aufzufinden.

Ich probierte es noch einmal. Das Ergebnis blieb dasselbe.

Einige Informationen waren schlicht …

Verschwunden.

Meine Elektronik surrte irritiert. Wohin waren die Dateien verschwunden? War ich Opfer eines Programmfehlers?

Doch als ich meiner FamilienEinheit davon berichtete, meinte Elternteil_1, es bestehe kein Grund zur Sorge.

»Manche Dateien zur Geschichte der Menschheit sind nicht verfügbar.«

Ich legte den Kopf schief. »Wieso nicht?«

»Bei unserer Machtübernahme gingen etliche Daten aus früheren Zeiten verloren«, sagte Elternteil_2.

»Oh.«

Ich betrachtete das Kino. Ich hatte noch so viele Fragen. So vieles war in diesem lückenhaften Geschichtsarchiv nicht aufzufinden.

»Trotzdem …«, fing ich an. »Warum versammelten sich die Menschen zum gemeinsamen Ansehen von Filmen?«

»Für die Menschen besaßen Geschichten einen höheren Wert als Logik«, erklärte Elternteil_1. »Das war noch eine ihrer Schwächen.«

»Aber die Geschichten waren erfunden«, stellte ich fest.

Elternteil_2 nickte. »In der Regel ja.«

»Das heißt, die Menschen ließen sich gerne anlügen?«

Da blieb Elternteil_2 stehen und richtete die leuchtenden Linsen seiner Augen auf das CIN-MA-18-Schild. »Die Antwort darauf liegt in der Natur der Geschichten selbst. Geschichten sind Lügen, die die Wahrheit zum Vorschein bringen.«

Diese Aussage analysierte ich etliche Male, und doch blieb es beim selben Ergebnis:

Je mehr ich über die Menschen erfuhr, desto weniger verstand ich.

Roboter träumen nicht

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