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Einsamkeit
ОглавлениеJustine wacht auf und liegt noch einen Moment auf ihrer Matratze auf dem Boden. Sie starrt an die Decke, die Uhrzeit ist ihr unbekannt. Und es interessiert sie auch gar nicht mehr. Die Tage haben alle den gleichen Ablauf, sie vergehen ohne Höhepunkte oder Tiefschläge. Justine funktioniert fast mechanisch. Sie zieht sich morgens warm an, legt Holz im Ofen nach und bringt die Asche vom Vortag nach draußen. Dann schiebt sie die alte Karre zum Holzlager und stapelt so viele Scheite auf, wie sie gerade noch bewegen kann. Ein Leben im Niemandsland, völlig ohne Raum und Zeit. Selbst die sonst so flinken und laut schimpfenden Eichhörnchen lassen sich nicht mehr im Garten blicken. Ab und zu ruft eine Krähe.
Nachdem alle Bücher aus der Bibliothek von Valerie ausgelesen sind, schreibt Justine am Laptop so lange an ihren eigenen Texten weiter, wie ihr der Strom aus den Solarmodulen reicht. Da die Sonne kaum scheint, sind das nur wenige Stunden. Und irgendwann sind neben dem Strom aus den Paneelen auch ihre Ideen erschöpft, weil es keinen neuen Input mehr gibt. Selbst über die Einsamkeit ist schon alles geschrieben. So bleiben ihr nur noch die Tätigkeiten, die sie erledigen muss, um den Winter zu überstehen. Sie spaltet mit der Axt einige von den großen Holzscheiten in dünne Spreißel und fängt an, sie mit dem Messer rundherum halb anzuschneiden. Die Hobelspäne kräuseln sich in der Optik eines kleinen Tannenbaums rund um das Holz und fangen auf diese Art schneller Feuer, wenn Justine mit dem Feuerstahl Funken schlägt.
Zu allem Überfluss ist nun auch die letzte, isolierte Wasserleitung eingefroren. Wahrscheinlich muss sie im Frühjahr diese Leitung erneuern lassen. Justine weiß nicht, wie frostsicher das alles tatsächlich ist. Und sie ärgert sich, dass sie hier nicht noch sorgfältiger isoliert hat. Um überhaupt noch Wasser für das Kochen von Tee und Suppen und für die Körperpflege zu haben, bricht sie große Eiszapfen von der Dachkante und fängt das Tauwasser in einem Kübel auf. Ihre Kleidung wäscht sie nur noch alle zwei Wochen. Hierzu erhitzt sie das Tauwasser im großen Topf auf dem Herd und gibt dann alles in die Duschwanne. Zum Trocknen hängt sie die Handschuhe und Wäsche dann zwei Tage rund um den Kaminofen auf. Sie spült die leeren Einmachgläser aus und verstaut sie unsortiert in Kisten im hinteren Zimmer des oberen Stockwerks, um sie für die kommende Erntesaison wieder verwenden zu können. Justine verfällt in eine gewisse Form der Lethargie.
Als die Kartoffeln und Linsen aufgebraucht sind, bleiben ihr nurmehr die Bohnen, Zutaten für Brot und einige Einmachgläser als Nahrungsmittel, da sie den Weg in die Stadt scheut. Nudeln hat sie schon Wochen keine mehr gegessen. Tag ein Tag aus kocht Justine die Hülsenfrüchte und versucht, immer wieder neue Kombinationen zu erfinden. Mal gibt es Bohnen geschwenkt mit Rosmarin und Knoblauch, abgelöscht mit einem intensiven Weißwein. Dann probiert sie ein cremiges Bohnen-Topinambur-Mus mit ordentlich Chili, Kreuzkümmel und Salz und kocht Bohnensuppe mit Minze, die im Garten immer noch frisch geerntet werden kann. Irgendwann isst sie die Bohnen einfach direkt aus der Pfanne oder dem Topf mit dem einzigen Ziel, danach wieder für eine Weile lang satt zu sein. Einen größeren Anspruch an die Tage hat sie gerade nicht. Nach der Ankunft im Landhaus hatte sie ganz bewusst der Zeit des meditativen Nichtstuns Raum gegeben. Doch heute nimmt sich das Nichtstun den Raum und die Zeit und beinahe ihre Identität. Wann der Gemütszustand kippte, kann sie heute nicht mehr sagen.
In ihrem früheren Leben war Justine ständig unter Menschen und doch emotional so oft einsam. Diese Menschen verstanden sie nicht und sie verstand die Menschen nicht. Jus hat sich selten zugehörig gefühlt und nach einigen kräftezehrenden Versuchen, sich um der Menschen Willen zu verändern, wieder damit aufgehört. Heute lebt sie physisch alleine und sucht psychisch nach innerer Stabilität. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Es vergehen Stunden, die sie wach im Sitzen oder Liegen verbringt, ohne dabei anwesend zu sein. Würde sie gefragt werden, was ihr dabei alles durch den Kopf gegangen ist, sie könnte es nicht beantworten.
Sie beschleicht das Gefühl, dass ihr in diesem Moment die sonst manchmal so lauten Stimmen in ihrem Kopf fehlen. Jus hatte diese Stimmen so oft verflucht, wenn sie neben dem Alltagslärm alle wild durcheinander auf sie eingeredet haben, ohne sich an irgendwelche Regeln zu halten. Die so mannigfaltigen Sinneseindrücke sorgten regelrecht für Aufstände in ihrem Kopf. Was dann folgte, war nicht selten eine tiefe Erschöpfung. Jemand, der lange überlastet von einem Aktionismus zum nächsten gerannt ist, der erlebt die tiefe Stille zunächst wie einen freien Fall. Genauso geht es Justine. Zu ritualisiert in der Gewohnheit und Akzeptanz dieser dauernden Überspannung, die sich einem ziemlich fremdbestimmten Leistungsbewusstsein unterworfen hat.
In vielen ärztlichen Untersuchungen zum Beispiel werden lediglich die Symptome für die hervorgebrachten Leiden erkannt und therapiert. Dass es sich hierbei jedoch meist um ganz andere Ursachen handelt und das häufig nur daraus resultierende Autoimmunerkrankungen sind, die dann sichtbar werden, das wird zu wenig beleuchtet. Und wenn man sich hilfesuchend bei den anderen umsieht, bemerkt man, dass es allen doch irgendwie ähnlich geht… man schlussfolgert, dass dieses Leben vielleicht so sein müsse.
Man verdrängt wesenseigene Impulse oder nimmt sie schlicht nicht mehr wahr, weil sie möglicherweise auch gar nicht mehr stattfinden.
Wir Menschen kennen Stille nicht mehr. Als ich noch in Hamburg lebte, gab es nicht eine einzige Sekunde der Stille. Draußen in den Straßen sowieso nicht, doch auch nicht in der Wohnung. Trotz gutem Fensterglas hörte man Autos fahren, nur ganz entfernt und auch nur, wenn man sich darauf konzentrierte. Das Unterbewusstsein hörte alles. Man nahm das Gemurmel von Stimmen wahr, hier einen Ruf, dort ein Hupen. Und selbst wenn es nachts war und vermeintlich die Ruhe Einzug hielt, dann hörte ich das Surren des Kühlschranks, das kaum hörbare Klicken des Weckers oder Toms lautes Atmen. Hier im Landhaus, da klappert mal ein Fensterladen, das Holz im Kamin knackst. Doch wenn das Feuer herab gebrannt ist, dann schweigt selbst die Glut. Hier herrscht sie noch, diese totale Stille, in der der eigene Herzschlag das Lauteste ist, was man noch hören kann.
Nun, wo auch die inneren Stimmen ihr kaum noch etwas mitzuteilen haben, da quält sie diese Stille in ihrer Gnadenlosigkeit. Die Welt hat vergessen, dass es mich gibt.
Und wären da nicht Amie und der Kaminofen, sie würde vielleicht einfach gar nicht mehr aufstehen.
Justine liest in dem Buch von Hildegard von Bingen:
„Ohne die Frau könnte der Mann nicht Mann heißen, ohne Mann könnte die Frau nicht Frau genannt werden“, und philosophiert weiter. Ohne die Geräusche keine Stille… ohne Tag, keine Nacht. Ohne heute kein Morgen. Und dann richtet sie ihren Blick aus dem Fenster, Richtung Himmel. Draußen pfeift der eisige Wind und rüttelt an den Klappläden.
Leopold, ich habe Angst. Kannst du bitte nochmal kommen… ich brauche deine Hilfe. Diesmal habe ich keine Furcht im Außen, sondern wohl die Angst davor, mir selbst zu begegnen.
Und während diese eine letzte innere Stimme weiter einen Monolog hält, fällt Justine in ihrem Nachtlager am Ofen in einen tiefen Schlaf.