Читать книгу Reflexion - Lena Dieterle - Страница 9
Spenden
ОглавлениеAls die Sonne sich wieder am Himmel zeigt, ist Justine voller Tatendrang. Nichts hält sie mehr im Haus, obwohl draußen immer noch Temperaturen um den Gefrierpunkt herrschen. Sie backt zwei Gewürzbrote und einen Rosinenzopf mit den selbst getrockneten Trauben aus dem Sommer. Dann pumpt sie die Reifen ihres Rades auf und holt den Fahrradanhänger aus dem kleinen Schuppen hervor. Hier ein Tröpfchen Öl, da nochmal die Schrauben nachziehen und ab geht die Testfahrt. Funktioniert alles noch! Halleluja, jetzt bin ich sehr froh. Das Fahrrad ist neben ihren beiden Füßen im Moment das einzige Fortbewegungsmittel für Justine.
Nachdem die Kisten mit der Leinenwäsche verstaut sind, legt sie noch die in Papier geschlagenen Backwaren an die Seite des Anhängers und macht sich auf den Weg in die Stadt. Das erste Mal seit über zwei Monaten, dass sie sich wieder in die Zivilisation wagt. Ganze 51 Tage lang hat sie außer zweimal mit Peter und im Traum mit Valerie mit keinem Menschen mehr gesprochen. Die Vorräte sind so gut wie aufgebraucht und Justine hat die Einöde inzwischen ganz schön satt. Zur Abwechslung mal ein richtig schönes Gefühl…
Im Radio hat sie gehört, dass eine Pflegestelle für Abgabe- und Fundtiere dringend Unterstützung in Form von Sachspenden braucht. Justine kann nicht sehr viel beisteuern, aber die Leinenwäsche, die gibt sie gerne dort hin. Es dauert eine Weile, bis sie den richtigen Hof gefunden hat. Als sie auf die Klingel drückt, schlagen sofort einige Hunde an. Sie hört von Weitem eine Frau reden, wie sie die Tiere zur Ruhe anweist und schon im nächsten Moment öffnet sich das Tor.
„Ja?“
„Guten Tag, mein Name ist Justine Argon. Ich habe eine kleine Spende für Sie dabei.“
„Jesus, mit dem Rad. Bei diesem Wetter? Kommen Sie schnell rein, sie erfrieren ja.“
„Danke.“
Justine lenkt das Rad mit Anhänger in den Hof und die Hunde kommen auf sie zugestürmt.
„Ich hoffe, Sie haben keine Angst?“
„Nein, ganz und gar nicht, ich liebe alle Tiere.“
„Das ist gut, denn die werden sie jetzt so schnell nicht mehr los.“, lacht die Frau herzlich.
„Wissen Sie, ich bin sehr froh darüber. Es ist lange her, dass ich so viel Aufmerksamkeit erhalten habe.“
In der Wohnstube angekommen, nimmt Justine auf dem Sofas Platz. Sofort hat sie einen Hund auf dem Schoß und je einen weiteren links und rechts neben sich. Auf dem Fenstersims balanciert eine Katze, aus der Kuschelhöhle eines Kratzbaumes spitzen neugierig zwei Ohren hervor und in einem Holzhäuschen auf dem Boden, das von einem Kindergitter umrahmt wird, überwintern drei Fund-Igel.
„Hier ist ganz schön was los.“, staunt Justine nicht schlecht.
„Das ist noch gar nichts. Warten Sie mal, bis die Kinder vom Eislaufen kommen.“. Beide lachen.
Wie unterschiedlich Menschen doch leben können.
„Oh, beinahe hätte ich es vergessen. Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, frisch gebacken.“
„Mensch, das ist ja lieb. Und wie das duftet. Das werden wir uns heute Nachmittag gleich schmecken lassen. Ich komme so selten dazu, selbst zu backen. Zu viele Mäuler hier, die alle was haben wollen. Da reicht die Zeit nicht“, zuckt die Frau mit den Schultern.
„Das verstehe ich. Können Sie denn die Leinensachen brauchen?“
„Ja, das ist wunderbar. Vor allem, weil ich den Stoff ganz heiß waschen kann.“
Justine trinkt einen warmen, pappsüßen Tee, plaudert mit der Dame und hat gar nicht genug Hände frei, um alle Tiere gleichzeitig zu streicheln.
Nach gut einer Stunde laden sie die beiden Kisten vom Anhänger und als Justine sich gerade wieder aufs Rad schwingen will, entdeckt sie ganz hinten im Hof einen Zwinger, in dem ein großer Hund steht und sie ansieht. Justine hält inne.
Sie ist ganz berührt von diesem ruhigen Blick.
„Ja, wer bist du denn?“ spricht Justine den Hund auf Entfernung an und macht einige Schritte auf ihn zu.
„Nicht, bleiben Sie zurück. Er fängt gleich furchtbar an zu bellen.“, bremst die Frau sie aus. Jus bleibt stehen.
„Was ist mit ihm?“ fragt sie verunsichert.
„Das ist Leonardo da Vinci, kurz Leo. Unser Sorgenkind.“
„Moment… sagten Sie eben… L-e-o?“
„Ja, sein Rufname ist Leo. Warum?“
In diesem Moment fuhr ein Schauer über Justines Rücken. Es ist gekommen, wie Tante Valerie gesagt hat. Ihr Begleiter ist bereits ausgewählt, sie muss ihn nur noch erkennen. Ist es wirklich dieser Hund hier? Ich hätte mir einen ganz anderen Hund ausgesucht. Es arbeitet gewaltig in Justines Kopf.
„Bitte, ich möchte ihn gerne sehen.“
„Na gut.“, gibt die Dame nach und ruft die anderen Hunde ins Haus. Nachdem die Tür geschlossen ist, nimmt sie eine schwere Lederleine und geht mit Justine in Richtung Zwinger.
„Komisch, sonst schlägt er immer an.“, stellt die Frau fest, als die beiden direkt vorm Zwinger stehen. Als die Dame das Tor öffnen will, um den Hund anzuleinen, sagt Justine: „Moment noch…“
Sie geht in die Hocke und zieht einen ihrer Handschuhe aus. Die Finger umgreifen das eiskalte Gitter des Zwingers und Leo macht zwei Schritte auf Justine zu. Er schnuppert vorsichtig an ihrer Hand. Dann schauen sich beide in die Augen. Er hat so eine große Ähnlichkeit mit Leopold Phobos, das ist unglaublich. Der Hund ist aschfahl, mit ruhigen, grau-braunen Augen. Dazu von imposanter Größe und schlanker Statur. Wer hat mir dich nun geschickt, war es Tante Vally oder Leopold selbst?
„Wie alt ist er?
„Das weiß man nicht so genau. Etwa vier Jahre?“
„Ok. Und warum Leonardo da Vinci?“
„Weil er wie der Künstler aus der Region Vinci stammt.
Hat schon einiges mitgemacht, der arme Kerl. Kommt aus dem Auslandstierschutz. Wurde schon drei Mal vermittelt und kam immer wieder ins Tierheim oder auf Pflegestellen zurück“. Die Frau atmet hörbar laut aus, als wolle sie ihre Empörung darüber vor Justine verbergen. „Übertriebener Herdenschutztrieb war der Grund, hat zuletzt niemanden mehr an die Kinder der Familie herangelassen“.
Wieder macht sie eine kurze Pause und nestelt an ihrem Schuh herum, bis sie zu ihrer eigenen Theorie ansetzt: „Ich sag ja immer, dass die Leute den Hund nicht verstanden haben, denn er ist ein Herzensguter. Er ist sehr sanft für seine Statur, gar nicht rüpelhaft… wenn es nicht so albern klingen würde, würde ich sagen, er ist halt sensibel. Aber ein Beschützer… keine Rasse, die man leicht in der Wohnung halten kann. Ist Kangal mit drin und noch einiges andere. Die brauchen eine Aufgabe… und Führung, sonst werden sie unausstehlich.“
Justine druckst einen Moment lang herum, bevor sie ausspricht, was ihr längst in den Sinn gekommen ist: „Kann ich ihn adoptieren?“
Die Frau lacht schallend. „Sie zartes Persönchen?! Sie wiegen ja kaum mehr als der Hund selbst. Nein, bitte, das geht wirklich nicht. Der bringt knapp fünfzig Kilo auf die Waage.“
„Gab es denn Beißvorfälle?“
„Überhaupt nicht. Also, nicht, dass ich es wüsste. Bei uns hier jedenfalls sicher nicht. Doch er ist wie ein vierbeiniger Security. Und ich mein, sie kennen diese Typen… machen immer erstmal einen auf dicke Hose.“
„Ok. Aber hier lebt er im Zwinger. Das kann doch auch nicht sein Leben gewesen sein.“
„Da haben Sie Recht, ganz bestimmt kann das nicht so bleiben. Wir warten auf den richtigen Besitzer für ihn. Nachts lasse ich ihn in den Hof, da bellt er dann zwar viel, aber ist wenigstens nicht immer eingesperrt. Morgens gehe ich eine Runde mit ihm, da ist er meistens anständig. Natürlich schaue ich, dass wir niemandem begegnen und die Kinder würde ich nie alleine mit ihm raus gehen lassen. Und im Rudel ist es mir auch zu riskant, da habe ich mit den anderen Pappenheimern genug zu tun. Man kennt ihn halt auch nicht gut genug.“
„Ich habe ein großes Anwesen oben am Waldrand. Das ist hoch ummauert. Bitte, meine Intuition sagt mir… lassen Sie es uns versuchen?“
„Der geht Ihnen über jeden Zaun, wenn‘s sein muss. Sie sehen ja, was für ein Mordskerl er ist, hat einen Schädel wie ein Löwe.“
„Ich werde sehr aufpassen.“
„Hören Sie. Für ein halbherziges „Probieren“ geht Leo nicht mehr in andere Hände. Auch wenn man es ihm nicht sofort ansieht, er ist einer mit `ner guten Seele. Wenn Leo nochmal geht, dann ist es eine Entscheidung für den Hund mit allem, was dazu gehört. Ich möchte nicht in die Situation kommen, dass man ihn gar nicht mehr vermitteln kann. Schlafen Sie also nochmal `ne Nacht drüber und setzen sich derweil bitte mit den Anforderungen von Herdenschutzhunden auseinander. Wenn Sie dann immer noch der Meinung sind, dass sie es mit Leo aufnehmen können, melden Sie sich wieder.“
„Okay. So machen wir es.“
„Er hat jedenfalls richtig gut auf sie reagiert, das hat mich wirklich erstaunt“.
Die beiden Frauen verabschieden sich und als Justine aus dem Hof fährt und sich nochmal umdreht, steht Leo am Zwingertor und hält ihrem Blick stand.
„Ich komme wieder, Leo“, flüstert Justine.
Auf dem Rückweg hält sie schnell noch bei der Bank, ihren Kontostand prüfen und Auszüge abholen. Justine hat die letzten Wochen zwar keinen Cent Geld benötigt, doch es gibt natürlich auch noch die laufenden Kosten wie die Grundsteuer, den Vertrag für das Smartphone, ihre Krankenversicherung und die Versicherung fürs Landhaus. Stromkosten oder eine Wasserrechnung gibt’s keine, das ist der Vorteil, wenn man Selbstversorger ist. Lediglich eine allerdings eher vernachlässigbare Anschlussgebühr an die Kanalisation.
„Sieht alles gut aus“, bemerkt sie beim flüchtigen Blick und stopft die Kontoauszüge in die Manteltasche. Das unerwartete Weihnachtsgeld ihrer ehemaligen Chefin und ihre eigenen Ersparnisse ermöglichen Justine, derzeit nicht nach einer Anstellung suchen zu müssen oder den Wein von Valerie zu veräußern. Sie hebt 50 Euro ab und deckt sich im Laden mit Zahnpasta, Lampenöl, Eiern, Kartoffeln, Nudeln, frischem Ingwer und Orangen ein, bevor sie wieder zurück zum Landhaus strampelt. Den Großeinkauf macht sie lieber an einem etwas wärmeren Tag.