Читать книгу Reflexion - Lena Dieterle - Страница 6
Patience
Оглавление„Geh doch mal bitte dort zu der alten Anrichte. Unten in der mittleren Schublade, da liegt etwas für dich.“
Justine zieht die Schublade vorsichtig heraus und sieht Blöcke, Stifte und ein altes Adressbuch.
„Was genau meinst du, Tante Vally?!“
„Schau genau hin.“
Justine bückt sich etwas tiefer und sieht weiter hinten in der Schublade eine weitere Einlage, die ihr bisher nie aufgefallen war. Sie zieht sie vorsichtig heraus und findet zwei stoffbezogene Etuis. „Bring sie bitte hier her an den Tisch. Das Buch auch.“
Justine trägt die Gegenstände zum Küchentisch.
„Das sind meine beiden Kartenspiele. Jeden Winter habe ich mich darauf gefreut, sie wieder hervorzuholen. Ich habe nie im Sommer gespielt, denn da gab es andere Aufgaben. Auch wollte ich mir die Freude am Spiel ganz bewusst für die kalten, einsamen Tage aufbewahren.“
„Was hast du denn damit alleine gespielt?“
„Ich habe immer Patiencen gelegt. Dazu brauchst du niemanden. Du wirst sehen, es werden auch so genug am Tisch sitzen und es hilft, die Gedanken zu sortieren. Patience heißt übersetzt so viel wie Geduld. Und Geduld ist sicher auch etwas, was den meisten Menschen fehlt. Mir früher auch.“
Justine öffnet beinahe andächtig das erste Etui. Der mintfarbene Seidenstoffbezug ist ein wenig abgegriffen, doch unter den Fingerspitzen ganz zart anzufassen. In goldenen Lettern ist das Wort Patience eingeprägt. Die Spielkarten sind ganz klein und mit einem ebenfalls goldenen Kantenschnitt verziert. Obenauf liegt die Pik Dame und das Herz Ass, um das sich handgemalte Maiglöckchen ranken, weitere filigrane Zeichnungen auf jeder einzelnen Spielkarte. Die Rückseite ist blau oder rot und zeigt ein Vogelpärchen.
„Ich zeige dir, wie man eine Patience legt und dann spielen wir eine Zank-Patience gemeinsam.“
„Sehr gerne.“
Tante Valerie macht zwei Stapel, steckt die Karten mit einem Daumenstrich ineinander und hat einen großen gemischten Stapel in der Hand. Den Vorgang wiederholt sie drei Mal in nur wenigen Sekunden.
„Wahnsinn, wie du die Karten mischen kannst“, staunt Justine, als würde sie einem Zauberer beim Spiel zusehen.
„Ich habe sicher sechzig Jahre lang Karten gespielt, da weiß man, wie es geht. Ich zeige es dir später, üben musst du dann alleine.“
„Abgemacht.“
„Ich habe mir bei der Zank-Patience immer vorgestellt, dass jede Karte für eine Stimme in meinem Kopf steht. Natürlich stehen die Symbole im französischen Blatt eigentlich für etwas anderes.
Die Farbe Kreuz stellt als dreiblättriges Kleeblatt den Bauernstand dar. Pik steht als Lanzenspitze für den Adel, Karo für das teilweise aufständige Bürgertum und Herz für Güte und Geistlichkeit. Doch das war mir egal. Ich habe mir meinen eigenen Reim darauf gemacht.
Für mich gibt es die Dame, die für Haltung und innere Größe steht. Es gibt den König, der in seiner hoheitlichen Würde unerschütterlich ist. Und es gibt den neugierigen Buben, der ein wahrer Draufgänger ist und alles einfach mal ausprobiert. Und hier, das Ass“. Tante Valerie streicht mit den Fingern über die Karte, ohne sie zu berühren. „Es ist immer etwas ganz Besonderes. Mein Trumpf auf der Hand, mein Alleinstellungsmerkmal. Gerne habe ich beim Ass meine hohe Feinfühligkeit und Empathie als eine wunderbare Gabe gesehen, auch wenn sie manchmal belastet. Ähnliches erkenne ich bei dir“. Sie blättert weiter Karte für Karte um.
„Und es gibt die Zahlen, die in der Wertigkeit ihrer Ziffern die vielen Nebenstimmen ausmachen. Die leisen Debattierer, die Zwischentöne, all diese kleineren Anteile in mir. So habe ich für mich immer gesagt, dass das Zeichen Kreuz die Schwarzmaler in meiner Runde ausmacht. Immer, wenn ich eine neue Idee hatte, wurden sie laut und wollten mir diese so gut es geht vermiesen. Stets in der Hoffnung, ich würde dann gar nicht erst damit beginnen. Alles lieber gleich bleiben zu lassen, ist kein guter Ratgeber. Doch zum Glück gibt es auch das Pik im Spiel. Es war in seiner Form so angelegt, dass es auf mich stets ausgleichend und beruhigend wirkte. Und es hatte viel Macht, ja, es war für mich sogar das mächtigste Zeichen in der Runde, der Streitschlichter und Schiedsrichter. Das Pik sorgte dafür, dass das Kreuz mir meine Vorhaben nicht grundsätzlich madig machte, bat jedoch um ruhigen Bedacht und neigt nicht zur Überstürzung.
Karo war mit seinen vier Kanten mein Symbol für den Zweifel. Karo zögerte zunächst einmal aus Unsicherheit und Selbstschutz, nicht jedoch aus Geringschätzung. Karo ist wohlwollend, doch ängstlich. Ist das Symbol Karo erst einmal überzeugt und stimmt dann auch Pik noch zu, hat das Kreuz schlechte Karten. Das Symbol Herz steht für Willenskraft, Entschlossenheit und Vision, für Optimismus und Selbstliebe. Das Herz Ass ist die Karte aller Karten und kann sich, wenn nötig, auch ganz alleine gegen alle anderen Karten durchsetzen.“
Justine lauscht Tante Valeries Ausführungen gespannt. Was sie hier erfährt, wird sie von nun an ihr Leben lang begleiten.
Valerie fährt fort: „Es lag stets an mir zu entscheiden, welches von diesen Symbolen meine Aufmerksamkeit und Kraft erhält. Und jedes Mal aufs Neue war ich froh, alle Karten im Spiel zu haben, denn ohne sie hätte ich meine geliebte Patience nicht legen können. Verstehst du, was ich dir sagen will?“
„Ja, ich verstehe. Diese inneren Stimmen gehören zu uns und sind alle wichtig. Ohne den Schwarzmaler oder den Zweifler würde uns ein Regulierungsinstrument fehlen, hätten wir nur Herzkarten im Stapel, würden wir uns blindlings verrennen und in unser Unglück stürzen. Ich habe daher gelernt, alle Spielkarten willkommen zu heißen. Denn wie schrieb Hermann Hesse schon nieder: Gerade das ist es ja, das Leben. Wenn es schön und glücklich ist, dann ist es ein Spiel. Natürlich kann man auch alles Mögliche andere aus ihm machen… eine Pflicht oder einen Krieg oder ein Gefängnis, aber es wird dadurch nicht hübscher.“
„Kannst du mir verraten, wie du bloß so klug geworden bist, Tante Vally?“
„Das kommt von allein, wenn man eine gute Intuition besitzt. Und ich habe viel Zeit alleine verbracht, um mir selbst zuzuhören. Neben dem Alleinsein habe ich ebenso viele Gespräche mit interessanten Menschen geführt und ich habe unzählige Bücher gelesen. Zu unserem Gespräch jetzt fällt mir zum Beispiel „Der Steppenwolf“ ein, der Text ist auch von Hesse, geschrieben 1927.“
„Ja, das Buch steht in deiner Bibliothek, ich habe es bereits gelesen und konnte mich in seinen Gedanken oft wiederfinden. Auch mir geht’s oft so wie Harry… ich suche auf der einen Seite die absolute Freiheit und Abgrenzung. Und dann erschrecke ich aber rasch wieder vor meiner Endgültigkeit… vor der drohenden Vereinsamung und Beziehungslosigkeit, weil sich tief in mir drin auch große Anteile nach einer Zugehörigkeit und Verbundenheit sehnen.“
„Dieser Text trifft jeden einfach gerade so, wie man sich selbst in diesem Moment mit einer eigenen Identifizierung in der Gesellschaft fühlt. Wenn man das Buch zehn Jahre später wieder zur Hand nimmt, erzählt es eine andere Geschichte und nochmal zehn Jahre später wieder. Denn wie so oft gibt es nicht nur diese eine, radikale Seite der Medaille. Es geht nicht darum, sich alleinig über dieses Anderssein zu identifizieren. Es geht vielmehr darum, es für sich herauszuarbeiten und dann einen bewussten Umgang damit zu finden. Revolution gegen alles und jeden ist einfacher als eine differenzierte Betrachtung aller Dinge“. Valerie lehnt sich auf dem Stuhl zurück und schaut Justine an. Die Blicke treffen sich und für einen Moment hat Justine das Gefühl, sich selbst gegenüber zu sitzen. Es ist, als würde sie mit sich selbst als ältere Dame sprechen. Jede Bewegung von Valerie strahlt eine souveräne Gelassenheit aus, sie ist so elegant, ohne sich dafür irgendwie anstrengen zu müssen.
„Beim Lesen kam mir durchaus der Impuls, dass diese Radikalität zwar in mir veranlagt ist, aber nicht über mich herrscht. Die Gesellschaft ist für mich nicht nur primitiv und oberflächlich.“
„Genau. Ich lade dich ein, es neu zu betrachten. Du bist schon auf dem richtigen Weg und es ist eine große Freude, mit dir in dieser Form sprechen zu können“. Valerie überschlägt ihre Beine, bevor sie fortfährt.
„In diesem Werk merkt man mit der Zeit, dass dem jungen Mann die Schönheit des Ichselbstseins abhanden gekommen ist. In dem Werk wird die Isolation kaum noch als Freiheit wahrgenommen, nein. Sie bildet viel mehr die Form einer neuen Knechtschaft. Schon in der Renaissance hat die Individualisierung des Menschen begonnen und das ist auch gut so. Aber eines, das sollten wir nicht tun, und zwar den Individualismus zu radikalisieren.“
Valerie setzt ihre Lippen an den Becher, trinkt einen großen Schluck vom Tee und sammelt ihre Gedanken.
„Hesse schreibt weiter: „Alleine durch den Nebel zu wandern, das ist unser Schicksal“, doch er weiß auch, dass wo wir uns oder einem Gegenüber begegnen, Liebe vom Glück untrennbar voneinander sind. Die Einsamkeit gehört sicher zu einer der Grunderfahrungen menschlicher Existenz, sie lehrt uns, einen Eigensinn zu entwickeln und somit wieder gesellschaftsfähiger zu werden. Lies das Büchlein mit dieser Betrachtung in den nächsten Jahren nochmal und du wirst genau verstehen, was ich meine.“
Ganze drei Stunden sitzen sie beisammen und legen verschiedene Spielarten.
Bei der Zank-Patience gibt es auch Stapel, die außen liegen. Tante Vally bezeichnet diese als „faule Haufen“, womit auch der Müßiggang einen Platz im Kartenspiel des Lebens findet. Beide lachen herzhaft.
„Da du das Rätsel um dein verborgenes Erbe im Sandsteinkeller prima alleine gelöst hast, wirst du auch diesen Winter gut überstehen. Ich bin mir sicher. Zeig mir, dass du auch alleine Freude haben kannst“, motiviert Valerie und faltet ihre Hände zusammen, um sie auf dem überschlagenen Knie aufzustützen.
„Das mache ich! Und danke für das Vermächtnis. Für die schöne, eiserne Schmuckkassette mit den Tauben darauf, für den Wein, den Whisky… das Landhaus. Danke für alles.“
„Sehr gerne. Den Wein kannst du auf Auktionen anbieten, wenn du Geld für das Haus benötigst. Dort wird er dir am meisten einbringen. Ich hatte auch von Zeit zu Zeit einige Flaschen verkauft, wenn ich Geld brauchte oder etwas spenden wollte. Gerne bin ich selbst mit dem Zug zu den großen Auktionshäusern gereist, das war eine wunderbare Abwechslung zu meinem Leben hier und ich konnte sicher sein, dass der Wein auch dort ankommt. Eine Auktion in Baden-Baden hatte all meine Erwartungen übertroffen und drei Flaschen brachten mehr als das doppelte von dem ein, was ich erhofft hatte. Damit konnte ich die Kamineindeckung auf dem Dach neu machen lassen.“
„Ok, dann will ich es genauso machen wie du früher. Wissen denn die Weinsammler, dass du noch mehr von dem Wein hast?“
„Nein. Das weiß außer dir niemand und das würde ich an deiner Stelle auch so beibehalten. Es sind einzelne Jahrgänge, somit wird keine der Flaschen ein zweites Mal irgendwo durch dich in den Umlauf gebracht“.
Und dann wird Tante Valerie ernst.
„Draußen wird es langsam morgen und ich muss mich verabschieden. Doch bevor ich gehe, möchte ich nochmal auf unser vorheriges Gespräch über Herrmann Hesse zurück kommen. Ich erzähle dir noch eine Geschichte. Im 13. Jahrhundert gab es mal einen Kaiser, der befahl, Neugeborenen neben der Grundversorgung keine Liebe und körperliche Zuneigung zu geben. Die Kinder verstarben.“
„Ich habe in der Schule mal davon gehört.“
„Gut. Was ich dir sagen will… du musst hier nicht alleine leben. Glück und Leid, Liebe und Abschied, Geben und Nehmen. Das Leben braucht von Zeit zu Zeit einen Antagonisten, möge es auch noch so reduziert und zurückgezogen sein.“
„Ja, dieser Gedanke mit dem Gegenspieler, der kam mir bereits…“
„Ich kann es dir aus meiner Erfahrung berichten… die Einsamkeit durchläuft verschiedene Reifegrade und ihr Erleben ist auch eine Persönlichkeitsfrage. Einigen gelingt es besser, die Einsamkeit auszuhalten oder gar als Geschenk zu betrachten, anderen deutlich schlechter. Doch glaube mir, spätestens auf den letzten Metern deines Lebensweges, wenn der körperliche Verfall eingesetzt hat und Danke zur meist verwendeten Vokabel wird, ist es gut, etwas sehr Wichtiges gelernt zu haben. Und zwar, Hilfe annehmen zu können. Und um Hilfe erhalten zu können, muss man mindestens ein Teil der Gesellschaft sein und… so gebührt es der Anstand, selbst einmal Hilfe gegeben haben“. Valerie blickt ernst und streichelt dabei Justines Hand.
„Deine Taube ist ein ganz bezauberndes Geschöpf und ich bin froh, dass ihr euch gefunden habt. Und auch dein Bedürfnis nach völliger Ruhe ist nachvollziehbar. Doch hole dir bitte Menschen oder Tiere hinzu, wenn dir die Isolation nicht mehr gut tut. In meinen besten Zeiten hier hatte ich fünf Katzen. Zwei vom Bauern, die anderen sind mir zugelaufen. Anfangs waren sie scheu, doch zum Schluss saß ich keinen Abend mehr alleine vor dem Kamin. Deine Tierliebe ist so groß, erlaube dir ruhig diese Art der Gesellschaft. Du bist nun hier angekommen und hast alles im Griff, auch wenn es sich für dich vielleicht nicht immer so anfühlt“… Valerie spricht mit einer Überzeugung, die auch für Justine keine Bedenken oder Widerworte mehr zulässt.
„Du hast recht, ich werde mich ganz bald umsehen. Denn, ganz ehrlich… bin selbst froh, wenn ich nicht mehr ganz alleine hier lebe“, Justine muss kurz an die angenehme Gesellschaft von Leopold denken und seufzt.
„Jetzt verrate ich dir noch etwas, meine liebe Jus. Dein Wegbegleiter ist schon auserwählt, er wartet bereits auf dich.“
Jetzt macht Justine große Augen. „Wirklich? Wie kann ich ihn denn erkennen?“
„Das wirst du, mein Kind, das wirst du.“
Tante Valerie steht auf und nimmt Justine fest in den Arm. Justine möchte ihren Duft einatmen, doch sie riecht nur sich selbst und einen Hauch von Lavendel, der in getrockneten Sträußen über ihren Köpfen an der Decke baumelt. Dann macht Valerie eine Handbewegung, die Justine zum Verbleiben auffordert und geht zur Tür, winkt kurz und ist verschwunden. Als Justine nach ein paar Sekunden aufsteht und ihr nach geht, sieht sie draußen nur noch das Morgenrot, das sich glitzernd den Weg durch Frühtau bahnt. Ein Waldkauz ruft. Die Erde dampft.