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Eigensinn

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Als Justine auf Wollsocken im Eingangsbereich steht, bildet sie sich ein, auf dem von Valerie gemalten Porträt ein etwas breiteres Lächeln zu sehen. Zurück in der Küche will sie die Tassen abräumen, da ist der Tisch leer und der Ofen noch aus. Sie hatte bloß geträumt… und dann kommen ihr die Tränen.

Wie gut es tat, für den Moment nicht alleine gewesen zu sein und nun war doch bloß wieder alles eine Illusion. Das Gesagte aber, das bleibt mir doch.

Justines Körper schüttelt sich. Dann geht sie zu dem alten Schrank in der Küche und ruckelt am Knauf, der ein wenig klemmt. Und siehe da, ganz hinten in der mittleren Schublade ist die Einlage mit den Kartenspielen. Sie nimmt das erste Etui heraus und öffnet vorsichtig den Deckel. Dort liegen die Karten genauso, wie sie es geträumt hatte. Daneben das Buch, in dem die verschiedenen Spiele erklärt sind.

„Danke, Tante Vally. Das bedeutet mir so viel.“

Seit diesem Tag beginnt die Lebensfreude und der Tatendrang wieder in Justine zu pulsieren. Sie möchte die Lethargie abstreifen und wie Leopold damals als einen Hut an die Garderobe hängen. Als sie ins Entrée geht, hängt dort tatsächlich wieder der schwarze Hut. Leopold war also doch kurz da. Justine nimmt ihn ab und fährt mit der Hand an der Krempe entlang. Und der Joker lacht aus seinem goldenen Rahmen. Sie lächelt zurück, hängt den Hut zurück an den Haken und geht hinaus in den Garten. Einfach so, ganz ohne Aufgabe, ohne Funktion. Nur lustwandeln, trotz aller Kälte. Sie pflückt einen Strauß von den ersten Schneeglöckchen, die überall in kleinen Nestern aus dem Boden sprießen. Justine hätte schwören können, dass sie gestern noch nicht da waren, doch wahrscheinlich hat sie gar nicht danach geschaut. Sie atmet erleichtert auf, denn diese zarte, weiße Blüte läutet ganz leise zwar nur, aber immerhin, das Ende des Winters ein. Als sie wieder ins Haus kommt und die warme Jacke abstreift, sind alle Haken an der Garderobe wieder frei.

Nachdem der Strauß in der kleinen goldbemalten Vase drapiert ist, beginnt sie, im Haus klar Schiff zu machen, denn zu viel war zuletzt vor lauter lähmender Unlust liegen geblieben. Sie öffnet die alten Schränke im Gästezimmer, das sie seit Leopolds Weggang nicht mehr betreten hatte. Dort sieht sie Berge an Bettwäsche und Tücher aus Leinenstoff liegen, die sie selbst gar nicht so gerne benutzt.

Was mache ich nur damit? Sie überlegt einen Moment, dann hat sie einen Plan. Kurzerhand greift sie Stapel für Stapel und stopft sie in große Umzugskartons. Das Leinen war irgendwann mal frisch gewaschen worden, dann gemangelt und zusammengelegt, riecht allerdings ein wenig nach altem Schrank. Zum Glück waren keine Motten dran. Justine entscheidet sich, alle Tischdecken und Stoffservietten, vier ­­­­­von den Spannbetttüchern und Bettwäsche-Sets zu behalten. Den Rest will sie dem Tierschutz spenden, wenn sie bald wieder mit dem Radanhänger fahren kann.

Justine holt sich etwas vom Tauwasser herein und wäscht alle Decken einmal durch, hängt sie dann in der Küche zum Trocknen auf. Als Nächstes sammelt sie im Wald Tannenzapfen, Birkenrinde und gebrochene Zweige für das Anzünden des Feuers, denn ihr Vorrat an Zunder ist so gut wie aufgebraucht. Zuletzt sortiert sie die Einmachgläser im Schuppen der Größe nach.

Weiter geht’s im Sandsteinkeller. Bei all der Bewegung kommt sie richtig ins Schwitzen. Und als Jus dort unten beim Räumen in den Regalen durch Zufall noch einen Beutel Reis findet, ist sie ganz aus dem Häuschen. Über was man sich alles so freuen kann, stellt sie überrascht fest. In einer europäischen Welt, in der es doch fast alles im Überfluss gibt, was hat ein Beutel Reis da noch für eine Bedeutung?

Jus weiss sofort, was sie damit anstellen möchte. Draußen an den alten Holunderstämmen hat sie kürzlich etwas für sie ganz Besonderes entdeckt, denn daran wachsen braune Pilze, die man Judasohren nennt. Justine hat in einem Buch über Heilpflanzen darüber gelesen. Die Baumpilze haben den Namen von einer Sage zur Zeit Jesu, gehören zur Gattung der Ohrlappenpilze und werden auch als Heilpilze eingesetzt.

In der Zubereitung sollen sie ähnlich zu verwenden sein die Mu-Err-Pilze, die Justine aus der asiatischen Küche kennt. Sie brät die Pilze gemeinsam mit zwei roten Zwiebeln scharf an und gibt dann einen Schuss Sojasauce und Kokosmilch hinzu. Abgeschmeckt wird das Pfannengericht mit der Vadouvan-Gewürzmischung aus dem Alten Gewürzamt, die neben Kurkuma, Kreuzkümmel und Curryblättern auch Erdnussöl enthält. Als der Reis fertig gekocht ist, richtet sie in einem tiefen Teller an. Im Mörser zerkleinert sie Erdnüsse und Sesam, die sie gemeinsam mit etwas getrockneter Chili darüber gibt. Nach den ganzen Bohnengerichten war diese spannende geschmackliche Abwechslung eine Wohltat. Ich kann es kaum erwarten, bis der Frühling endlich kommt. Doch Moment… was hatte Tante Vally gesagt?

„Patience, Justine! Nur Geduld. Die Rolle des Vergänglichen ist es gleichermaßen, das Leben stets wieder neu hervorzubringen. Der Winterschlaf der Natur ist eine Einladung zur Rast auch für den Menschen. Wir haben das nur vor lauter Kommerz vergessen.“

An diesem Abend öffnet Justine seit Wochen zum ersten Mal wieder eine gute Flasche Rotwein und beginnt mit dem Patience legen, nachdem Amie ihren Schlafplatz auf den Geschirrtüchern eingenommen hat.

Sie mischt die Karten und beginnt, sie auszulegen. Anfangs konzentriert sie sich sehr auf das Spiel, doch mit der Zeit beherrscht sie die Spielzüge so sicher, dass ihre Gedanken immer wieder abschweifen.

Musizieren? Ich und Musizieren.

Justine zieht eine Karte vom Stapel… es ist die Kreuz 10. Sie pöbelt sofort los: „Musizieren?! Dass ich nicht lache. Du kannst ja noch nicht mal Noten lesen! Lass es sein, es wird dir nichts bringen.“

Die nächste Karte ist ein Herz Bube: „Na los, fang einfach an, was soll schon groß passieren. Jemand hat mal gesagt: Lieber unperfekt anfangen, als perfekt zu zögern!“

Dann die Karo 5: „Wenn es nicht klappt oder dir nicht gefällt, dann wirst du vielleicht enttäuscht sein. Du weißt, wie schnell du frustriert bist.“

Es folgen zwei weitere Karten mit der Farbe Karo. Jede Karte bringt wohlwollend ihre Bedenken hervor. Dann der Kreuz König. Justine merkt, wie sie innerlich zusammen zuckt. Sie setzt sich aufrecht hin und spricht: „Na, dreiblättriger König, was hast du mir zu sagen?“. „Justine, wenn man etwas nicht kann, sollte man es sein lassen. Und du bist musikalisch völlig talentfrei und das weißt du auch. Also was soll das bitte?“. Jus streckt der Karte die Zunge raus, findet aber dennoch einen geeigneten Platz auf dem Spieltisch für sie.

Dann die Herz Dame: „Liebes, du hast gar nichts zu befürchten. Folge dem Weg deines Herzens und sing zunächst einmal aus voller Brust. Du hast doch schon oft gesungen und es hat dir jedes Mal gut getan und dich befreit.“

Es dauert noch gut zehn Spielzüge, bis das erste Mal der Pik König ins Spiel kommt. Wieder verändert Justine ihre Haltung. „Eure Hoheit, darf ich Sie mit einem Konzert beglücken? Auch, wenn ich nicht musikalisch bin?“

Der Pik König spricht nicht, sondern beginnt, den Takt vorzugeben. Justine hört die Melodie von Gloria Gaynor heraus und beginnt beim zweiten Ansetzen, leise zu singen.

I am what I am, and what I am…“

Sie stockt. Klingt gar nicht so schlecht, dafür, dass ich nicht singen kann. Der König verhält sich ganz leise. Er drängt nicht, er bemängelt nicht, er buht sie nicht aus. Er liegt einfach gedruckt auf einem Stück Papier vor ihr, so wie einst die Joker-Karte, die sie in Hamburg am Wegesrand fand. Wie ging es nochmal weiter? Sie setzt nochmals etwas lauter an und nach drei weiteren Versuchen singt sie aus voller Kehle. I am my own special creation… I bang my own drum, some think it‘s noise, I think it`s pretty“.

Amie schaut sie mit ihren runden Taubenaugen an, bleibt aber ruhig sitzen. Justine singt alle Lieder, die ihr spontan einfallen. Sie singt so lange, bis ihr der Hals ein wenig schmerzt. Erst dann macht sie eine Pause. Gut.

Dann der Kreuz Bube: „Und nun? Das war jetzt Singen. Zum Musizieren gehört aber schon noch etwas mehr.“.

Pah, schon sein Tonfall alleine. „Musst du mich immer hetzen, du Sklaventreiber? Kannst du mich nicht mal machen lassen, verdammt nochmal!“. Doch ganz von der Hand weisen kann sie sein Argument natürlich auch nicht… denn bisher hat sie nur gesungen.

Justine steht auf und schleicht suchend in der Küche umher. Die Gießkanne! Sie hat mal in irgendeiner Fernsehsendung gesehen, wie dort jemand auf einer Gießkanne Trompete spielte und probiert es gleich selbst aus. Nachdem sie den Aufsatz abgenommen hat, bläst sie mit voller Wucht in die Kanne. Das Ergebnis ist eher miserabel. Na, nicht gleich aufgeben, würde eine Herzkarte mich jetzt ermuntern. Eine große Blechschüssel und eine Gabel machen dann immerhin Krach, doch mit einer Melodie hat das auch nichts zu tun. Außerdem flattert die Taube aufgeschreckt auf. „Sorry, Amie. Ich hör schon auf.“

Dann trommelt sie mit der Handfläche einen Beat auf der Tischplatte, der ihr gut gefällt. Eine Rassel wäre noch prima. Justine geht zu der Dose mit den Kronkorken und schüttelt daran. Nein, das hat zu wenig Klang. Da fällt ihr beim Brennholz eine Astgabel auf, die auch für den Bau einer Steinschleuder geeignet wäre. Das ist es! Aber es fehlt noch was. Sie wühlt in einer der Schubladen nach einem Stück Draht, bohrt ein Loch in die Mitte der Kronkorken und reiht sie alle nacheinander auf den Draht auf. Dann spannt sie den Draht so fest es geht zwischen die Astgabel und testet ein erstes Mal die selbstgebaute Rassel. Justine staunt, wie gut das klingt und schlägt dazu den Beat auf dem Tisch. Jetzt muss ein flotterer Song her.

Am gleichen Abend wickelt Justine noch bunte Wollfäden aus Tante Valeries Strickkasten um die beiden Ast-Enden und staunt nicht schlecht, wie hübsch ihre erste Selfmade-Rassel geworden ist. Für einen kurzen Moment ist sie ganz Kind und trällert die Kinderlieder, die ihr in den Sinn kommen. „Hey Pipi Langstrumpf… ich mach mir die Welt, wide wide wie sie mir gefällt“.

Was für ein Spaß…

Für einen Moment bin ich die Dirigentin meines Lebens… und darüber hinaus noch so viel mehr. Das Orchester, die erste Geige, jedes einzelne Musikinstrument, Bass, Stimme und Melodie. Ich gebe den Ton an.

Erst weit nach Mitternacht schläft Justine ein. Seit diesem Abend fühlt sich Justine nicht mehr alleine mit der Stille, sondern darin geborgen.

Heimat finden wir nur in uns selbst.

Reflexion

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