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Keine Angst

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Als sie die Augen öffnet, sieht sie Valerie mit einem langen Strickkleid am Küchentisch sitzen. Justine richtet sich auf ihrem Nachtlager auf und schaut ungläubig, bis ihre Augen die verschwommene Silhouette ganz langsam scharf zeichnen.

„Bonjour, mon cher“. Ihre Stimme klingt sanft und gütig. „Ich habe dir doch versprochen, dass ich dich hier nicht alleine lasse.“

„Tante Valerie…?“

„Ja, ganz recht. Was für eine schöne Frau du doch geworden bist, Jus“

„Oh mein Gott, du bist wirklich nochmal zu mir zurück gekommen?“, fragt Justine ungläubig und reibt sich die noch vom Schlaf trägen Augen.

„Psssst… ich war doch immer da.“ spricht die alte Dame ruhig. „Komm, schür den Ofen an und dann setz dich zu mir.“

Justine heizt ein, setzt Wasser für einen Tee auf und nimmt eingewickelt in eine Decke neben ihrer Tante Platz. Sie beobachtet Valeries Gesicht, die fein geschwungenen Lippen und die Lachfältchen um die Augen… bisher hat sie diese nur auf dem Ölgemälde im Entrée

gesehen.

„Weißt du, mein Kind… mir ging es mal ganz ähnlich wie dir. Auch ich liebte die völlige Abgeschiedenheit, bis ich irgendwann drohte, an der Einsamkeit einzugehen. Diese langen, kalten Winter im Landhaus, darauf muss man vorbereitet sein. Ich habe dir bewusst nicht mehr dazu geschrieben, weil ich dich nicht abschrecken wollte und mir deiner Stärke bewusst war“. Sie macht eine kurze Pause. „Und auch mir fror in den ganz kalten Wintern die Wasserleitung zeitweise ein. Du hast gar nichts falsch gemacht, nichts besser oder schlechter. Sei doch bitte nicht so streng mit dir.“

Justine atmet hörbar aus.

„Ich weiß auch, dass Leopold bei dir zu Besuch war und nun hast du ihn erneut um Hilfe gebeten. Doch Leopold ist, wie du weißt, deine personifizierte Angst. Er wird heute nicht kommen, denn das, was du gerade empfindest… das ist keine Angst. Ich bin so stolz auf dich, dass du ihn damals herein gelassen hast und sei dir sicher, wenn du ihn wieder brauchst, wird er da sein. Und nun erzähle mir, was genau bedrückt dich gerade so?“

„Danke, Tante Vally. Es ist ein großes Geschenk für mich, jetzt mit dir zu sprechen. Warum können wir denn bloß nicht gemeinsam hier leben?“

„Mon dieu. Das Leben und den Tod, das befehlen wir nicht. Lass uns auf das konzentrieren, was wir selbst in der Hand haben.“

„Also gut“. Justine setzt sich aufrecht hin und beginnt zu schildern: „Ich habe das Gefühl, in der Stille verrückt zu werden. Ich spreche seit einer gefühlten Ewigkeit mit niemandem mehr, außer kurz mit Peter… und nun ist auch er für einige Wochen verreist“. Tante Valerie lächelt und greift Justines Hände.

Sie schweigt und lauscht interessiert, bis Justine fertig ist. Erst dann atmet sie tief ein, bevor sie anfängt, zu antworten.

„Jetzt kommt eine weitere wichtige Lektion, durch die dich das Leben schickt. Rückblickend war genau diese eine der wertvollsten Erfahrungen in meinem Leben.“

„Wie meinst du das?“

„Es ist nun an dir ganz alleine, deinem Leben einen Sinn zu geben. In uns allen lebt eine Schöpferkraft, doch wir nutzen sie kaum. Was du hier im Moment in einer Reinheit erleben darfst, ist ein großes Geschenk. Denn das bist DU selbst.“

„Hm… verstehe.“

„C‘est bon. Du bist die Essenz deines Lebens. Genieße dich und lasse sie fließen, diese Energie.“

„Ich will ja. Weißt du, was ich beobachtet habe? Da gibt es eine Stimme in mir, die immer noch redet, wenn alle anderen schweigen. Erst dachte ich, sie wird eh wieder nur schlecht reden und alles schwarzmalen, doch dann habe ich gemerkt… es ist diese eine Stimme, die gibt einfach nicht so schnell auf wie die anderen.“

„Jede deiner Stimmen hat eine Daseinsberechtigung. Dazu möchte ich dir später gerne noch etwas zeigen. Doch zurück zu deinen Gefühlen. Was sind die Fähigkeiten, die dich als Justine ausmachen? Was kannst du gut? Worin bist du dir sicher?“

„Puh… da muss ich selbst kurz nachdenken. Spontan würde ich sagen: nichts so richtig und doch vieles ganz gut. Ich bin mir oft unsicher. Und wenn ich dann nochmal nachdenke… meine ich, dass ich kochen kann, dann kann ich lesen und schreiben. Wobei ich mir bei Letzterem wieder gar nicht mal so sicher bin“. Justine überlegt einige Sekunden, spricht dann weiter: „…und das alles habe ich jetzt viele Tage lang unentwegt gemacht. Ich bin dem überdrüssig, ja… es langweilt mich. Ich habe alles niedergeschrieben, was mir in den Sinn kam und dabei irgendwann das Gefühl gewonnen, dass es von Tag zu Tag an Qualität verliert.“

„Bien“, Tante Valerie nickt verständnisvoll. „Lies es nochmal, wenn du im nächsten Winter wieder an dieser Stelle bist. Es wird dich vielleicht überraschen, wie elementar gerade diese Texte für dich später einmal sein können, denn die Stille und Meditation kristallisieren erst das Wesentliche heraus.“

„Ich will es versuchen und mit etwas Abstand nochmal lesen“, sagt Justine mehr zu sich selbst, während sie den Kopf in die Handfläche stützt und nachdenklich die Stirn runzelt.

„Manchmal taugt es wirklich nicht, dann wirf es weg.“ Valerie macht eine Pause, bevor sie fragt: „So… was kannst du noch?“

„Hm. Ich war wohl mal eine ganz gute Werbegrafikerin. Sonst kann ich neben den anderen Arbeiten im Haus nicht mehr besonders viel.“

„Gut. Die Kreativität steckt in jeder deiner Zellen, das ist nicht bloß verbunden mit einem Beruf oder Titel. Nenne dich selbst ein Genie, sieh dich als Virtuose. Denke groß! Ich weiss, dass Unglaubliches in dir steckt. Du hast eine Art siebten Sinn für Dinge, einen Feinsinn oder Spürsinn… und das halte ich für eine sehr besondere Begabung. Du siehst nicht bloß einen Gegenstand, nein, du studierst ihn. Du fasst nichts einfach nur an, sondern du fühlst es. Du isst nicht, sondern du schmeckst heraus.“

„Ach Tante Vally… ich danke dir, das hast du sehr schön beschrieben.“

„Und wer sagt, dass dein Können auf das Hier und Jetzt beschränkt ist oder gar bleiben muss? Dass du nichts Neues dazu lernst? Dinge, die du eben heute noch nicht kannst.“

„Das schon, doch hier alleine im Landhaus? Ich habe keinen Fernseher, keine neuen Bücher mehr, kein Puzzle, Rätsel oder sonst etwas. Was soll ich denn hier den Winter über Neues lernen?“

„Musizieren!“, platzt es ganz spontan aus Valerie heraus. Diesmal lacht Justine laut und schüttelt den Kopf, während Valerie sie erwartungsvoll unter hoch gezogenen Augenbrauen anlächelt.

„Na, da bin ich ganz und gar nicht geeignet. Da kommt nichts Gutes bei raus“, bekräftigt Justine ihr Kopfschütteln nochmal.

„Muss denn immer gleich etwas dabei „raus kommen“? Ist es nicht manchmal der Prozess an sich, der uns nährt?“

Und Tante Valerie hat wieder recht. Ich beschwere mich über Langeweile und versinke im Selbstmitleid, dabei habe ich so vieles noch gar nicht ausprobiert.

„Schäme dich bitte nicht für das, was du nicht kannst… vor niemandem, auch wenn etwas nicht gelingt. Es geht da draußen allen Menschen gleich, glaube mir. Und jeder Schritt zu einer inneren Lebendigkeit, egal ob erfolgreich oder nicht, sollte schon für den neu beschrittenen Weg an sich belohnt werden. Ich wiederhole mich jetzt, doch erlaube dir, dich als einzigartig anzuerkennen. Traue dir zu, du selbst zu sein. Es ist für dich eine so große Chance, dich von den eigenen, einschränkenden Gedanken und Glaubenssätzen zu befreien. Lebe dich aus… in allen Bereichen, die dir nur einfallen. Tanze, spiele, singe, weine, lache so laut du magst“.

Valerie spricht ruhig, doch mit Nachdruck. Es steckt viel Energie in ihrer Rede. Für eine Weile schweigen beide. Justine schenkt in zwei Tassen den durchgezogenen Hagebuttentee ein.

Reflexion

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