Читать книгу Geschichten, die Mut machen - Leo F. Aichhorn - Страница 13
ОглавлениеKinderarbeit infolge Landflucht
Mit Beginn der 60er Jahre im 20. Jahrhundert erhielt die maschinelle Entwicklung in der Landwirtschaft eine noch nie da gewesene Dynamik. Die Traktoren wurden größer und bekamen drei oder vier Zylinder, die ersten Mähdrescher und Ladegeräte wurden auf Bauernmärkte mit Volksfestcharakter präsentiert und veränderten die landwirtschaftliche Arbeit enorm. Die Mähdrescher trennten schon am Feld die Getreidekörner vom Stroh. Die Ladegeräte transportierten das Heu, das Stroh oder die schweren Blätter von Zuckerrüben mittels einer „Pick-up-Vorrichtung“ und eines Förderbands auf den nachgezogenen Traktoranhänger. Vereinzelt waren schon Melkmaschinen im Einsatz und entleerten die Euter der Milchkühe ohne Handarbeit. Melklehrer wurden mit einem Schlag arbeitslos.
Die menschliche Arbeitskraft wurde zwar nicht zur Gänze, aber im hohen Maße durch halbautomatische Maschinen entbehrlich. Die Abwanderung der Landarbeiter in den produzierenden Sektor wurde insbesondere durch die starke Industrialisierung vorangetrieben. Der Glaube an das eigene Land und nicht zuletzt der Wiederaufbauplan ERP (European Recovery Programm – „Marshall-Plan“) der USA schafften ein Wirtschaftswunder namens „Golden Age“ in Europa. Nachdem sich die Kriegsindustrie in eine Technologie- und Konsumgüterindustrie umgewandelt hatte, tausende Autos von den Fließbändern rollten und die Fabrikarbeiter allein mit ihrem Urlaubsgeld in den Süden fahren konnten, war das Arbeiten in der schlecht bezahlten Landwirtschaft für die meisten keine Alternative mehr. Arbeiteten zu Beginn der 50er Jahre noch 33 Prozent5 der Erwerbstätigen im primären Sektor, so waren es knapp 60 Jahre später nur mehr 4,3 Prozent6, die Freude an der landwirtschaftlichen Arbeit fanden. Ohne die Industrialisierung der Landwirtschaft wäre die Industrielle Revolution nicht möglich gewesen, da nicht genug Hände und Köpfe für die Fabriken und Dienstleistungsbetriebe zur Verfügung gestanden hätten.
Dieser Strukturwandel stellte die Landwirte vor kaum bewältigbare Herausforderungen. Auch die aus dem Mühlviertel stammende Magd Manuela und der aus Mittersill angereiste Knecht Heinz verließen 1960 den Hof von Ludwig und Johanna, obwohl sie sich hier wohlgefühlt hatten. Manuela war groß, für eine Frau unheimlich kräftig, und hatte riesigen Spaß, wenn sie den wohl kernigen, aber kleineren Dienstbotenkollegen Heinz ihre überlegene Stärke etwa beim händischen Lufteinpumpen von Anhängerreifen zeigen konnte. Manuela war schon zuvor der Liebe ihres Lebens begegnet und gründete mit dem etwas älteren Herrn aus der übernächsten Gemeinde eine Familie. Auch für Heinz war es ein „herzlicher Abschied“, da auch er zu seiner Angebeteten zog und künftig sein Geld in einem Industrieunternehmen verdiente. Dieser personelle Abgang konnte nicht allein durch den maschinellen Einsatz kompensiert werden. Im selben Jahre beendete der adoptierte Sohn Andreas seine 8-jährige Pflichtschulzeit und trat als Landwirtschaftslehrling in den Dienst seiner Eltern. Für arbeitsintensive Zeiten wie etwa im Frühling das Vereinzelnen der zahlreich aufgegangenen Zuckerrüben- und Zichoriepflänzchen (Einkornsamen wurden erst später gezüchtet), das Aufklauben von maschinell freigelegten Zuckerrüben, Kartoffeln und dem von den Bäumen heruntergefallenen Mostobst im Herbst wurden Hausfrauen aus dem Ort als Tagelöhnerinnen engagiert. Später verstärkte noch Gabriele mit ihren Händen den Familienbetrieb, bevor sie und ihr älterer Bruder Andreas sich nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten umsehen mussten.
Große Erwartung hatten Ludwig und Johanna auf Martin gesetzt, der als ältester gemeinsamer Sohn als Hoferbe vorgesehen war und daher nicht früh genug mit der verantwortungsvollen Aufgabe eines Landwirtes vertraut werden konnte. Vor allem aber auch seine Geschicklichkeit beim Traktorfahren war Ursache für das nicht selten vorzeitige Ende des Schultages, wenn Johanna vormittags in die Schule ging und dem Direktor eröffnete, dass Martin zum Pflügen oder Eggen benötigt wird. Diesem Begehren kam der damalige Schuldirektor nicht ungerne nach, wurde doch sein Entgegenkommen am sonntägigen Stammtisch meist mit einem oder mehreren Gläsern Rotwein honoriert. Auch beim „Saustechen“ dachte man an die guten Beziehungen zur Schuldirektion und legte ein schönes Stück Fleisch für sie zur Seite. Die Frau des Schuldirektors, von allen Menschen in der Gemeinde als Frau Direktor angesprochen, nahm sich als Tochter eines Fleischhauers der weiteren Verarbeitung gerne an. An den Tagen ohne vorzeitiges Ende des Unterrichts wurde Martin zu Hause die Schultasche abgenommen und ihm die Tasche mit einem gewässerten Most, eingehüllt in ein nasskaltes Tuch zur Kühlung, ausgehändigt. Damit wurde er aufs Feld geschickt. Dort musste er mitarbeiten bis abends und fiel nicht selten erschöpft ins Bett.
Martin hatte oft nicht einmal Zeit, seine Hausaufgaben zu machen. Durch seinen leichten Schlaf stand er oft zu einer Zeit auf, wo noch Gäste anwesend waren, und legte sich wieder in das Bett. Nicht selten stand er um 2 oder 3 Uhr früh auf und machte bei Kerzenlicht seine Hausaufgaben. Erst danach konnte er wieder einschlafen. Schon mit sechs Jahren wurde Martin Ministrant und führte mit dem Pfarrer den liturgischen Dialog in lateinischer Sprache. Des Öfteren wurde er kurz vor 07:00 Uhr geweckt, wenn der Mesner zur Mutter lief und Martin als Ministrant für die tägliche Messe verlangte. Erst das 2. Vatikanische Konzil, das 1965 endete und u. a. den Priestern die Hinwendung zu den Kirchenbesuchern und den Dialog mit ihnen erlaubte, ermöglichte auch die Messfeier in der jeweiligen Landessprache. Damit wurden die Ministranten vom „kleinen Latinum“ befreit und der überwiegende Teil der Kirchenbesucher verstand erstmals, was hier eigentlich gebetet wurde. Ein ähnlicher Vorgang wie die Übersetzung der Bibel vom Lateinischen ins Deutsche durch Martin Luther. Für Martin kam diese Änderung zu spät, da er 1964 nach acht Jahren Kirchendienst ausscheiden musste. Andererseits beherrschte er die lateinischen Texte im Zwiegespräch mit dem Priester längst perfekt. An Wochentagen gab es nur stille Messen ohne Orgelmusik oder gesangliche Begleitung. Entsprechend der gotischen Architektur war es an Tagen mit geringem Sonnenschein in der Kirche sehr finster und die wenigen, meist älteren Frauen mit ihren dunklen Kleidern waren kaum sichtbar – und hörbar schon gar nicht. Es hatte etwas Gespenstisches. Um 07:30 Uhr war die Messe aus und Martin lief nach Hause, um sich vor dem um 08:00 Uhr beginnenden Schulunterricht noch schnell am Frühstückstisch zu laben.
Ministrant zu sein bedeutete nicht nur eine liturgische Verpflichtung bei einer Messfeier, sondern auch einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten anzugehören und für Gott und die Kirche etwas Positives zu leisten. Und alternative Gemeinschaften für Kinder und Jugendliche gab es in der kleinen Gemeinde ohnehin nicht. Vor dem Hintergrund dieser Gegebenheiten traten Martin und viele seiner Freunde der Katholischen Jungschar bei. Spielerisch und singend lernten sie die religiösen Werte kennen und wurden ermuntert, nach diesen Wertvorstellungen zu leben. Unvergesslich für Martin blieben ihre Aktivitäten, die von der Diözese Linz veranstaltet wurden. Einige Tage auf einer alten Burg im oberösterreichischen Kremstal wurden für alle 8- bis 10-Jährigen zum unvergesslichen Erlebnis. Die geisterhaften Nächte zwischen den Burgmauern, die nächtlichen und angsteinflößenden Entdeckungsmärsche durch den Wald sowie der Badeausflug über den bewaldeten Berg in die 12° Celsius kalte Steyr waren weitreichende Lernprozesse und unvergessliche Erlebnisse. Ebenso die Österreichische Jugend-Olympiade in der Steiermark, an der Martin mit seinem Freund Joachim teilnehmen durfte. Mehr als 2.000 Jugendliche im Alter von 10 bis 14 Jahren aus allen Teilen des Landes nahmen an den sportlichen Wettkämpfen mit großem Eifer teil. Die Jugendlichen schliefen in Zelten, wo sie sich auch von ihrem sportlichen Wettbewerben erholten. Martin und Joachim konnten sich mangels eines Trainers und mangels verfügbarer Trainingsgeräte nur für den 60 m-Lauf und im Schlagball vorbereiten, wo sie nicht so schlecht abschnitten. Im Schwimmen war Martin durch sein Donautraining ziemlich gut, als er auf dem dortigen Schwimmteich neben einer Ringelnatter seine Distanz bewältigte und schneller als sie war. Wie hoch dabei der Angstfaktor war, wurde nie erforscht.
Wenn allerdings saisonale Schwerstarbeit am Programm stand und mit den üblichen Personalressourcen nicht das Auslangen gefunden wurde, erwies sich die Großfamilie von Johanna als Glücksfall. Ihr älterer Bruder Edi und ihr jüngerer Bruder Hans halfen an Wochenenden, wenn der große Misthaufen auf die Felder auszubringen oder das Heu auf den Heuboden zu bringen war. Der Eisenbahner und der gelernte Glasermeister waren höchst motiviert und vermittelten das Gefühl, alles im Vorbeigehen erledigen zu können. Auch wenn ihr Gefühl mit der praktischen Umsetzung selten in Einklang zu bringen war. Der Eisenbahner war eher der Schlaue und etwas Schlitzohrige und hatte großen Spaß, wenn sich sein jüngerer Bruder ärgerte. So kam es schon manchmal vor, dass Edi beim Aufladen von Schweine- und Kuhmist zu schwungvoll war und sein Bruder „irrtümlich“ etwas Mist im Gesicht abbekam. Wobei dieser wütend schimpfte und sich der Missetäter heuchlerisch entschuldigte. Ähnlich war es beim Abladen von Heu von einer hohen Fuhre, wo Edi nicht immer die Einzugsvorrichtung des Heugebläses, sondern seinen Bruder am Kopf traf.
Hans war schon frühzeitig von seiner Frau, einer Wirtin am Stadtrand von Linz, geschieden und hatte keine Familie. Sein früherer Bezug zum Gasthaus qualifizierte ihn, bei Bällen und Hochzeiten im Obergeschoß den Getränkeausschank zu bedienen. Edi, der Eisenbahner, war ein guter Schriftführer und notierte die Getränke der Kellnerinnen für die spätere Abrechnung. Beide machten einen hervorragenden Job und delektierten sich auch am frisch gezapften Bier. Es wurde sehr spät und die beiden waren froh, dass sie im Wohnzimmer ihrer Schwester schlafen konnten, denn am Montag um 05:45 Uhr mussten sie den Postbus erreichen. Als Hans am frühen Morgen in die Küche zum Frühstücken ging und seinen Schwager Ludwig und seine Geschwister traf, konnten sich diese nicht mehr halten vor lauter Lachen. Das war für ihn unverständlich und machte ihn wütend. Damit entstand eine wechselhafte Steigerung von Wut auf der einen und Lachen auf der anderen Seite. Erst als sich Hans in den Spiegel sah, verstand er, warum die anderen einen Lachkrampf bekamen. Er war im Gesicht schwarz von Ruß, der aus dem Kaminloch kam und ihn aussehen ließ wie einen Rauchfangkehrer. Sein Schwager hatte am Tanzboden einen weiteren Ofen in Betrieb genommen und dazu das freistehende Ofenrohr im Wohnzimmer abmontiert. Durch das offene Kaminloch blies der Wind den Ruß in den Raum und schwärzte Hans so sehr, als hätte er alle Kamine in der Gemeinde gereinigt. Als sich das Gelächter legte und sich Hans beruhigt hatte, versuchte er seine Schuhe anzuziehen. Edi machte ihn aufmerksam, dass er die falschen Schuhe anhabe, nämlich jene von seinem Schwager Ludwig. Da unter der Sitzbank mehrere Schuhe standen, war Hans irritiert und zog seine eigenen Schuhe wieder aus und schlüpfte erst recht in jene von Ludwig. Als ihm auch dieser Versuch ausgeredet wurde, griff er intuitiv erneut, aber höchst verunsichert zu seinen Schuhen. Seine Verwirrung war perfekt. Dieses Spiel an unwahren Behauptungen und verständnislosen Entgegnungen dauerte an, und Hans wusste am Ende wirklich nicht mehr, welche Schuhe nun tatsächlich seine waren. Bis Johanna die Komödie mit klaren Worten beendete und ihre Brüder aufbrachen, um den Postbus gerade noch zu erreichen.
Ein besonderer Helfer in Zeiten mit Arbeitsspitzen und an Wochenenden zur Unterstützung der jugendlichen Kinder bei der Stallarbeit war Poschko. Poschko war ein groß gewachsener Mann aus Serbien, der im Zuge des Zweiten Weltkriegs in die Gemeinde von Ludwig und Johanna kam und dort eine Kriegerwitwe mit zwei Kindern kennen und lieben lernte. In seine Heimat wollte er nicht mehr zurückkehren. Seine Herkunft war ziemlich dubios, da er keinen Pass hatte und weder sein Geburtsdatum noch seinen Geburtsort kannte. Der damalige Gemeindesekretär schätzte sein Alter und stellte ihm eine Geburtsurkunde aus, damit er später eine österreichische Staatsbürgerschaft erhalten konnte. Einen Arbeitsplatz fand er in einem Ziegelwerk in der Nachbargemeinde, den der Führerscheinlose mit dem Fahrrad leicht erreichen konnte. Da niemand in seiner Umgebung Serbokroatisch sprach und er sich in Deutsch sehr schlecht verständigen konnte, war die Kommunikation mit ihm schwierig. Niemand wusste so richtig, ob seine auch nach Jahrzehnten noch schlechten Deutschkenntnisse an seiner geringen Lernleistung oder an seiner mangelnden Lernwilligkeit lagen. Ungeachtet dieses Mangels war Poschko ein Mann, der wie seine Partnerin gerne als Tagelöhnerin in seiner Freizeit bereitwillig am Bauernhof von Ludwig und Johanna anpackte. Als offensichtliche Motivation dafür konnte seine Liebe zu Schnaps, Zigarren und kräftigem Essen angesehen werden. Das ihm von Johanna heimlich zugesteckte Geld nahm er natürlich auch gerne entgegen.
An Wochenenden klopfte er bereits um 04:30 Uhr mit einer Stange an das Schlafzimmerfenster von Andreas und Martin, damit ihm geöffnet wurde. Da Andreas meist tief schlief und seinen Unterstützer nicht hörte, öffnete ihm meist Martin die Tür. Noch bevor er die Stallarbeit begann, verlangte er Schnaps und Zigarren mit der Begründung: „So viel schlegte Magen, muss ma Stampal trinken, elpa zwei!“ Diese Versorgungswünsche waren verständlich und mit 1/8 Liter Schnaps oder Weinbrand und mehreren Zigarren leicht erfüllt, da der Stallgeruch schon schwer zu ertragen war. An Samstagen waren auch die Schweineställe zu entmisten. Auch jener vom etwa 250 kg schweren Eber, der für die Zucht gehalten wurde, was sich im Poschko-Deutsch so anhörte: „Muss ma Hutschivater seine Aport putzen!“ Poschko wurde von seinen Bekannten wegen seiner sprachlichen Eigenheiten und seiner humorvollen Einstellung gleichermaßen geliebt und geschätzt. Nur wenige Ereignisse konnten ihn aus der Reserve locken. An einem Herbsttag brachte er Martin mit seinem Fahrrad auf die Weide, um das Vieh heimzutreiben. Die Kühe kannten zwar den Weg nach Hause, machten jedoch immer eine Abkürzung durch Nachbars Garten, wo leckeres Obst am Boden lag. Um Ärger zu vermeiden, versuchte der Serbe mit seinem Fahrrad die junge Kuh Berta zurück auf die Straße zu drängen. Davon unbeeindruckt stieg Berta mit ihrem Fuß in das Hinterrad und verbog die Felge derart, dass man mit dem Fahrrad nicht mehr fahren konnte. Poschko schimpfte, verfluchte das blöde Tier und schulterte seinen Drahtesel, um diesen nach Hause zu bringen. Er hatte sich noch gar nicht beruhigt, als es einen lauten Knall gab und nun auch die Luft draußen war. Damit war der ruhige Serbe am Ende seiner Geduld angelangt, war doch sein einziges und wichtigstes Fortbewegungsmittel unbrauchbar geworden. Er beruhigte sich erst wieder, als ihm Ludwig sein Fahrrad zur vorübergehenden Nutzung anbot. Als Poschko am Folgetag damit von der Arbeit wieder heimfahren wollte, wurde er von einem Gendarm wegen des defekten Lichts aufgehalten und mit 5 Schilling bestraft. Dafür zeigte er absolut kein Verständnis, da es ja nicht sein, sondern das Fahrrad vom Kirchenwirt war und dieser seiner Meinung nach dafür zahlen sollte. Seine Aufregung war groß und legte sich erst, als ihm Johanna einen Schnaps reichte und den Betrag refundierte.
5 Institut für Wirtschaftsforschung: Die Wertschöpfung der österreichischen Land- und Forstwirtschaft in den Jahren 1937 und 1949 bis 1956. In: Beilage Nr. 47, XXX. Jahrgang, Nr. 6, Juli 1957
6 Bundesanstalt für Agrarwirtschaft: http://www.agraroekonomik.at/index.php?id=allgdaten