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Mit der Familie auf Wanderschaft

Nach Jahren in der Fremde und vor dem Nichts zu Hause war für Ludwig ein Neubeginn alternativlos – beruflich und familiär. Bekanntlich gab es nach dem Krieg keine Online-Partnerbörsen, wo man sich zwischen hunderten von Frauen oder Männern entscheiden kann. Die spärlichen Veranstaltungen und Personen mit häufigen Hauskontakten waren wesentliche Vermittler bei der Suche nach einem geeigneten Partner oder einer geeigneten Partnerin. Nicht selten hatten beispielsweise Schweinehändler nicht nur Kenntnis über den Schweinebestand an einem Bauernhof, sondern auch über die eine oder andere Heiratspartie. Vor allem deshalb, weil zu diesen Zeiten nicht die Charaktereigenschaften einer Frau oder eines Mannes im Vordergrund standen, sondern die Größe des bäuerlichen Betriebes und die damit verbundene Mitgift. Die persönlichen Wünsche und Eigenschaften der Partnerwahl wurden als vernachlässigbar angesehen, da sie von der künftigen, schweren Arbeit überlagert wurden. Ludwig ging den traditionellen Weg und lernte über eine Tanzveranstaltung in der näheren Umgebung Johanna kennen.

Johanna war um ein Jahr älter als Ludwig und entstammte einer Großfamilie mit elf lebenden Kindern. Ihr pfeiferauchender Vater war von mittlerer Größe mit einer etwas rundlichen „Bauchmuskulatur“ und dem obligatorischen Oberlippenbart. Auf seinem Pfeifenständer am Fensterbrett stellte er sein Rauchequipment, sortiert nach Wochen- und Feiertagspfeifen, ab. Als Glasermeister in Heimarbeit war er viel zu Hause und beschäftigte sich wohlwollend mit den Kleinkindern. Für ihn war nichts ein Problem, da er sich an der Kindererziehung und Haushaltsführung nach dem Prinzip „Es wird sich schon alles irgendwie von selbst richten“ nicht beteiligte. Johannas Mutter war das Exekutivorgan in der Familie. Sie sagte, wo es langgehen sollte, und war in der Kindererziehung streng. Bei dieser hohen Anzahl an Kindern aus Gründen des Selbstschutzes verständlich. Obwohl der Vater von Johanna als Glaserer unterwegs war, um bei den Bauern die gebrochenen Fensterscheiben zu reparieren, konnten er und seine Frau ihre Kinder nicht bis ins Erwachsenenalter ernähren. Schon im Alter der Grundschule kamen die Kinder zu Bauern, wo sie ernährungsmäßig versorgt wurden, die Schule besuchten und mitarbeiten mussten.

So kam auch Johanna mit zwölf Jahren zu einem Bauernhof mit angeschlossener Wäschereinigung in der Nähe von Linz. Sie war das Mädchen für alles und musste ihre unbeheizte und schlecht gelüftete Schlafstätte mit anderen Bediensteten teilen und gelegentlich mitanhören, wenn diese ihre sexuellen Bedürfnisse nicht auf dem Heuboden, sondern im gemeinsamen Schlafraum erfüllten. Das führt bei einem Mädchen in der vorpubertären Phase und ohne sexuelle Aufklärung unweigerlich zu Irritationen. Der Tag war lang und auch am Samstag wurde gearbeitet. Lediglich am Sonntag durfte sie ihre Familie besuchen. Der Fußweg war lang und führte durch einen Wald, wo sie bei Dunkelheit nicht selten das Gefühl der Angst überfiel. Meist pfiff sie in der Annahme, dass sie durch das Pfeifen als ein Junge wahrgenommen werden würde und daher weniger zu befürchten hätte. Nach Beendigung der Pflichtschule arbeitete sie als Köchin für die etwa 30 Bediensteten.

Johanna zählte mit ihren 160 cm nicht zu den größten Frauen, aber sie war hübsch mit braunen, langen Haaren und ein Energiebündel mit enormer Schaffenskraft. Als sich Ludwig und Johanna erstmals sahen, war das Liebe auf den ersten Blick. Erst später erfuhr Ludwig, dass Johanna bereits einen einjährigen Sohn namens Andreas hatte. Mit Johanna, ihren Eltern und Geschwistern kam Ludwig in eine große Familie, die ihm so fehlte. Darüber hinaus stand ihm mit Johanna eine kongeniale Partnerin für das Start-up-Unternehmen Bauernhof zur Seite. Im Mai 1948 schlossen Ludwig und Johanna den Bund fürs Leben und Ludwig adoptierte Andreas als Sohn, womit die damals noch nicht gesellschaftsfähige Patchworkfamilie verborgen blieb. Die Hochzeitsfeier in einem Landgasthof war nur dadurch möglich, dass Ludwig dem Gastwirt ein Schwein aus eigenem Bestand lieferte, da Fleisch eine Mangelware war. Für Johanna war auch kein Hochzeitskleid aufzutreiben. Deshalb schneiderten sie und ihre jüngere Schwester Anni ein Hochzeitskleid aus bestehenden Vorhängen. Johanna hatte ein langes, weißes, hochgeschlossenes Kleid mit langen Ärmeln an. Auf ihren dunklen langen Haaren saß ein selbstgefertigtes Diadem, das in einen schulterlangen Schleier überging. Trotz der widrigen Umstände kam sie ihrer Rolle als Braut bemerkenswert nach und stach am Hochzeitsbild markant hervor. Ludwig trug einen geliehenen, dunkelgrauen Anzug, der nicht ganz seiner Größe entsprach. Die Hose war um einiges zu kurz und das Sakko hätte einem etwas fülligeren Mann besser gepasst. Sein weißes Hemd war keine Attrappe wie in früheren Zeiten, sondern hatte auch Ärmel und ein Rückenteil. Die Hochzeitsgäste räumten jeweils ihr bestes Kleidungsstück hervor, aus dem man zu diesen Zeiten in Ermangelung von Nahrung nicht herauswuchs.

Ludwigs Elternhaus war eine Ruine und irreparabel. Daher entschlossen sich die jungen Eheleute einen Bauernhof auf dem Truppenübungsplatz in der Nachbargemeinde zu pachten. Daran knüpften sie die Hoffnung, dass dieser nach dem Übergang vom Deutschen Reich in österreichisches Staatseigentum käuflich erworben werden könne. Da, den Friedensbedingungen entsprechend, Österreich nach dem Krieg über kein eigenes Militär verfügen durfte. Noch vor der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Gabriele übersiedelten sie mit den beiden älteren Geschwistern von Ludwig auf den gepachteten Bauernhof und starteten ambitioniert durch. Im Februar 1950 kam Martin, ihr gemeinsamer Erstgeborener, bei einer Hausgeburt auf die Welt. Um 06:00 Uhr morgens lief die Schwester von Johanna zu Ludwig in den Stall, der gerade mit dem Kuhmelken beschäftigt war, und teilte ihm mit, dass er einen Sohn habe. Sofort sprang er auf und lief in das Geburtszimmer, um seinen Stammhalter zu bewundern und in die Arme zu nehmen. Seine schwere Kindheit und die brutalen Erlebnisse im Krieg hatten dazu geführt, dass er Gefühlsregungen und sichtbare Rührungen als Schwäche ansah und weitestgehend unterband. Doch als er Martin sah, kamen ihm vor Freude und Stolz die Tränen.

Johanna kümmerte sich fürsorglich um die drei Kinder, um den Haushalt und darum, dass alle am Hof Wirkenden genug zu essen hatten. Denn Essen war in Zeiten der Handarbeit der Treibstoff. Zusätzlich schaute sie auch noch auf die von den Hühnern gelegten Eier und fand bald heraus, dass der Bruder und die Schwester von Ludwig den Ab-Hof-Verkauf auf eigene Rechnung immer noch praktizierten. Es kam zu einem Konflikt, der letztendlich dazu führte, dass die Schwester den Hof verließ und Magd auf einem Bauernhof im Traunviertel wurde. Der ältere Bruder von Ludwig wurde mit Hilfe des befreundeten Bäckers mit einer Stadtbäuerin im nördlichen Linz verkuppelt. Es war ein Kleinbetrieb, der durch Gemüseanbau und Grundverpachtung das Einkommen sicherte. Die Bäuerin verkaufte am Linzer Markt ihr Gemüse, während ihr Ehemann den Trank zum Füttern der Schweine von den Stadtwirten abholte.

Ludwig und Johanna waren mit ihren Kindern nunmehr allein am Bauernhof und hatten für arbeitsintensive Zeiten Tagelöhnerinnen engagiert. Frauen, die für einen Tageslohn arbeiteten, gab es genug, da zu diesen Zeiten fast nur der Mann einer erwerbsmäßigen Vollzeitstelle nachging und sich die Frauen gerne etwas dazuverdienen wollten. Gelegentlich kam auch Hans von der Nachbarfamilie und half bei den verschiedensten Arbeiten mit. Vor allem die Pferde hatten es ihm angetan. Nach Beendigung seiner Pflichtschule wurde Hans fixer Mitarbeiter am Hof von Ludwig und Johanna. In Erntezeiten war bei den landwirtschaftlichen Arbeiten auch die Mithilfe von Johanna unentbehrlich. In diesen Fällen kam öfters ihre verwitwete Tante aus der Stadt und kümmerte sich um die Kinder und das Essen. Eines Tages wollte die Tante das in steinernen Bottichen eingelegte Kraut aus dem Keller holen. Der Keller war kalt, finster und die Stufen waren durch den Temperaturunterschied nass und rutschig. Sie rutschte aus und stürzte kopfüber in einen Krautbottich und konnte sich selbst nicht mehr befreien. Ihre Hilferufe blieben ungehört, doch als sie nach einiger Zeit nicht zurückkam, ging Hans sie suchen und zog sie aus dem Krautbottich. Ihr Sturz ging glücklicherweise mit ein paar blauen Flecken glimpflich aus. Seit dieser Zeit war sie für alle die „Krauterl-Tante“.

Die schöne und glückliche Zeit am Bauernhof des Truppenübungsplatzes fand ihr Ende, als sich herausstellte, dass der Übungsplatz vom deutschen Eigentum in das Eigentum der Republik Österreich übergangen war und als militärisches Übungsgelände bestehen blieb. Somit waren die Gedanken von einem Erwerb illusorisch und die Suche nach einem anderen Bauernhof begann. Durch Zufall traf Ludwig seinen ehemaligen Kompaniekommandanten aus der Militärzeit, der zwischenzeitlich Bezirkshauptmann der nördlich von Linz angrenzenden Bezirksverwaltungsbehörde war. Dieser verriet Ludwig, dass in einer kleinen Gemeinde im fruchtbaren Eferdinger Becken ein Bauernhof mit 20 Hektar Grund zum Verkauf ausgeschrieben sei. Die verwitwete Bäuerin hatte den Hof ihrem Neffen vererbt, der kein Interesse am landwirtschaftlichen Betrieb hatte und diesen nunmehr an Ludwig und Johanna mit dem Wohnrecht seiner Tante verkaufte. Die Altbäuerin war sehr verärgert über diesen Verkauf. Die Freude bei den damals bestimmenden Großbauern im neuen Ort hielt sich ebenso in Grenzen, da sie selbst die Gründe kaufen wollten. Obwohl sie demnach einigen nicht sehr willkommen waren, kauften Ludwig und Johanna den Hof.

Im April 1950 zog das Ehepaar mit den Kindern, den Noriker Pferden Fritz und Bubi, den Rindern, Schweinen und Hühnern sowie mit Heu und Stroh von den hügeligen Wiesen und Felden im Osten von Linz nach Westen in die Tiefebene der Donau. Es erinnerte an die Tracks, die im 19. Jahrhundert vom Osten in den Westen der USA für ein besseres Weideland zogen. Andreas war vier Jahre, Gabriele eineinhalb Jahre und Martin sechs Wochen alt. Sie waren robust genug und überlebten ebenso wie die Hühner und die Schweine die Übersiedlung, ohne Schaden zu nehmen.

Gleich nach Ankunft erkundigte sich Ludwig beim Gemeindesekretär, der nebenbei auch Versicherungsvertreter war, über die Versicherungshöhe des Bauernhofes. Als er erfuhr, dass die Versicherungssumme des Gebäudes lediglich 100.000 Schilling betrug, wollte er sofort eine Erhöhung beantragen, was der Schreiber2 wegen mangelnder Kaufvertragsurkunden nicht vornehmen konnte. Dieses Begehren sollte Ludwig noch Schwierigkeiten bereiten. Vier Tage nach dem Umzug fuhr er mit dem Fahrrad in das 6 Kilometer entfernte Lagerhaus, um Grassamen für die Neuanlage der alten Wiesen zu besorgen. Während seiner Besorgungstätigkeit hörte er, dass in seiner Gemeinde ein Bauernhof in Brand stehe. Gedanken schossen durch seinen Kopf, ob es vielleicht sein Bauernhof sei. Sein Blutdruck schnellte in die Höhe, während er den Sack am Gepäckträger befestigte, sich auf das Fahrrad schwang und wie ein Verrückter nach Hause radelte, wo er nur mehr die Brandruine seines Hauses vorfand. Die von der Freiwilligen Feuerwehr vorgenommenen Löscharbeiten verdienten nicht einmal ihren Namen: Der Schuster als Feuerwehrkommandant fand in der Hektik des Einsatzes nicht den Schlüssel zum Feuerwehrdepot. Erst mit einem Ersatzschlüssel gelang den Florianijüngern der Zugang zur Wasserspritze, die damals noch händisch bedient werden musste. Der Löschvorgang begann zu spät und die Löschwirkung war ähnlich gering, als würde man mit einer Wasserpistole ein Sonnwendfeuer löschen.

Johanna und Ludwig waren am Ende ihrer sonst so starken psychischen Kräfte angelangt und an eine therapeutische Hilfe war nicht zu denken. Nach dem zerbombten Elternhaus und den zweimaligen Übersiedlungen eines landwirtschaftlichen Unternehmens standen sie nunmehr wiederum vor dem Nichts. Sie kannten keine Menschen in diesem Ort und hatten deshalb auch keine Freunde, die ihnen mit aufmunternden Worten zur Seite hätten stehen können. Als die Kriminalabteilung der Gendarmerie feststellte, dass es sich bei diesem Brand um Brandstiftung gehandelt hatte, wurde Ludwig dieser Tat verdächtigt und stundenlang verhört. Verdächtigt wurde er, weil er sich vorher nach der Versicherungssumme erkundigt hatte, was objektiv gesehen als absoluter Schwachsinn bezeichnet werden kann. Wer zündet schon sein Haus an, wenn er der Meinung ist, dass es unterversichert ist. Für Ludwig, der stets um Redlichkeit bemüht war, brach eine Welt zusammen. Eine Welt, die es wirklich nicht gut mit ihm und seiner Familie meinte, die ihn permanent zurückwarf und seine Ehre zutiefst verletzte. Erst einige Wochen später konnten die Brandstifter ermittelt werden. Ein Knecht eines örtlichen Bauern war mit dem Pferdefuhrwerk in unmittelbarer Nähe des Hauses gewesen, als er zum Tatzeitpunkt zwei Buben im Alter von sechs und acht Jahren aus dem später brennenden Heustadel herauslaufen sah. Die minderjährigen Nachbarbuben gestanden gegenüber der Gendarmerie, dass sie von der Altbäuerin zu dem Brandanschlag angestiftet worden waren. Ludwig war damit zwar rehabilitiert, litt aber noch lange unter dem falschen Verdacht.

2 So wurde damals der Gemeindesekretär bzw. Amtsleiter genannt und sogar sein Sohn Josef hörte auf den Namen Schreiber Peperl.

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