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Langsam erhob er sich vom Steg, löste sich aus seinem Traumbild und begann in Richtung des Dorfes zu schlendern, wo er den Bäcker vermutete. Nachdem er den mit Panzerplatten betonierten Zufahrtsweg zum Campingplatz hinter sich gelassen hatte und der Wald sich lichtete, um einem großen Rübenacker Platz zu machen, konnte er aus der Ferne bereits einen Kirchturm entdecken. Er schätzte, dass dieser ungefähr zwei bis drei Kilometer entfernt sein müsste. Die Wolkendecke zeigte nun bereits einige hellere Stellen, durch die es vereinzelte Sonnenstrahlen herunter schafften, wie Vorboten auf besseres Wetter. Erleichtert beschleunigte er seine Schritte, da er sich ausrechnete, wohl gut eine halbe bis Dreiviertelstunde zum Dorf unterwegs zu sein und dieselbe Zeit nochmals zurück. Er würde ziemlich genau dann am Campingplatz wieder angekommen sein, wenn die Familie sich verschlafen aus den Betten erhob.

So schritt er pfeifend aus, immer der Straße entlang, während links und rechts eintöniges Ackerland das Landschaftsbild ausmachte, nur in der Ferne durch vereinzelte kleine Waldgruppen aufgelockert. Nach wenigen Minuten kreuzte eine Bahnlinie die Straße, an der ein kleines graues fensterloses Wartehäuschen die wenigen Fahrgäste, die zu erwarten gewesen wären, vor der Unbill des Wetters schützen konnte. Doch es war jetzt leer, nicht einmal ein Fahrplan wies auf die Verkehrszeiten eines Zuges hin, noch war ein Stationsschild zu erkennen. Ein Mast, an dem wohl eines gehangen haben musste, wies wenigstens noch die verrostete Halterung des Schildes auf. Auf dem Boden lagen Glasscherben zerschlagener Bierflaschen, einige leere Papiertüten und zerbeulte Getränkedosen. Gras wucherte zwischen den Schienen, so dass er sich fragte, ob in der letzten Zeit hier überhaupt ein Zug verkehrt haben mochte. Er stellte sich mit dem Rücken an das Wartehäuschen, um den morbiden Geist der Station in sich aufzunehmen.

Die Station passte irgendwie zu der öden Gegend und auch zu seiner Grundstimmung der letzten Tage. Er stellte sich vor, er stünde hier in dem Wartehäuschen, einen Zug erwartend, der niemals kommen würde. Wind und Regen wären ihm die einzige Begleitung und schließlich würde er über die Gleise davongehen. Endlose Gleise ins nirgendwo.

Nachdem er sich ausreichend umgesehen hatte, setzte er seinen Weg fort, nur um wenige hundert Meter später an die Hauptstraße zu kommen. Allerdings verlief diese weder in der einen noch der anderen Richtung auf das Dorf zu. Da die Straßenkreuzung in einer Talmulde lag und sich ihm der Kirchturm nun dem Blick entzog, konnte er sich nicht recht entscheiden, wohin er sich wenden sollte. Unschlüssig schaute er mal in die eine, dann die andere Richtung. Sollte er lieber wieder zurückgehen? Das wäre ihm wie eine Niederlage vorgekommen. Niederlagen hatte er in letzter Zeit genug erlitten. Er dachte an die Gleise. Er würde sich dem Nichts überlassen. Er würde jetzt eine Münze werfen und dem Zufall die Wahl der Richtung überlassen. Zahl für links, Kopf für rechts.

Die Münze sprang genau in dem Moment aus seiner Hand, als die Wolkendecke aufriss und einen kräftigen Sonnenstrahl hindurch ließ, der das gelbe Metall hell aufblitzen ließ. Dann kullerte sie auf die Straße, drehte sich mehrmals im Kreis, als könne sie sich nicht entscheiden, in welche Richtung sie fallen wolle und kippte dann schlingernd um, mit dem Kopf nach oben. Kopf stand für rechts. Er bückte sich, um die Münze wieder aufzuheben. Sie war direkt neben der ausgetrockneten Leiche eines vor längerer Zeit platt gefahrenen Frosches liegen geblieben. Angeekelt kickte er die Münze in den Chauseegraben und wandte sich in die andere Richtung, nach links.

Die Straße zog sich endlos hin, machte mehrere Biegungen, wand sich durch ein kleines Waldstück, passierte einige weitere Felder, doch von dem nahe gelegenen Dorf war nichts mehr zu sehen. Die Sonne hatte es geschafft, die restlichen Wolkenfelder mehr und mehr zur Seite zu drücken und begann bereits gnadenlose Hitze zu verströmen, die sich mit dem Dampf der regennassen Felder vermischte. Er begann heftig in seiner Regenkleidung zu schwitzen, die er schließlich aufknöpfte, ohne dass sich dadurch eine wesentliche Abkühlung einstellte. Langsam ärgerte er sich, dass er diesen Weg überhaupt auf sich genommen hatte.

Er war nun gut eine Stunde unterwegs, durstig und zunehmend übelster Laune. Bislang war ihm nicht ein Fahrzeug entgegengekommen, das er hätte vielleicht anhalten können. Ratlos blickte er zurück. Er beschloss, es noch bis zur nächsten Kurve zu versuchen. Ohne weitere Orientierung, wo er war, würde er dann eben doch zurückgehen.

Am Ende des kleinen Wäldchens führte ein Forstweg in das Waldstück hinein. Dort stand ein grauer Lieferwagen, dessen Motor vor sich hin knatterte. Erleichtert atmete er auf und beschleunigte seinen Schritt auf den Wagen zu. Der Wagen war leer, eine Kofferraumtür nur leicht angelehnt. Der Fahrer konnte also nicht weit sein. Er beschloss zu warten.

Wenige Sekunden später hörte er aus dem Waldstück das Rascheln herankommender Schritte. Ein mittelgroßer Mann in blauem Handwerkerdrillich kam aus dem Unterholz herangestapft.

»Guten Tag!«, begrüßte er den unrasiert und leicht ungepflegt wirkenden Mann. Der zuckte zusammen und blieb plötzlich stehen. Er stierte Roy feindselig an, ohne weiter zu gehen. Der Mann war Roy auf Anhieb unheimlich.

»Entschuldigen Sie, ich habe mich wohl verlaufen«, versuchte er die Situation zu entspannen. Der Mann machte einen kurzen Schritt auf Roy zu, blieb dann jedoch abrupt stehen, drehte den Kopf kurz in Richtung Wald, aus dem er gekommen war, als überlege er etwas, brummte etwas in sich hinein, das wie ein Fluch klang und spuckte auf den Boden, bevor er zum Wagen ging. Vielleicht war er betrunken, überlegte Roy alarmiert. Wer weiß, ob es noch zu einer Schlägerei kommen würde. Roy selbst war zwar nicht gerade schmächtig. Er war etwas größer als der Typ vor ihm. Doch Roy war eher der gemächliche Typ, der gutmütige Bär, der einer Auseinandersetzung gerne aus dem Weg ging. Er straffte sich, versuchte aber nochmals, irgendeine Information aus dem Mann heraus zu bekommen. »Können Sie mir vielleicht sagen, wie weit es bis zum nächsten Dorf ist?«

Es folgte jedoch keine Antwort. Stattdessen rammte der Fremde, der an Roy vorbeigehen musste, wenn er zu seinem Wagen wollte, ihn grob mit der Schulter an. Roy ging erschrocken einen Schritt zurück und bekam es mit der Angst zu tun. An einer Schlägerei war ihm absolut nicht gelegen. Der Fremde stieg jedoch mit einem »Verpiss dich« in seinen Wagen, setzte rückwärts aus dem Waldweg, wendete und fuhr in die Richtung los, aus der Roy gekommen war.

Da er jedoch offenbar vergessen hatte die Kofferraumtür des Kombis zu schließen, klappte diese auf, als er Gas gab. Etwas fiel aus dem Wagen und blieb auf der Straße liegen. Der Fahrer schien dies nicht zu bemerken, sondern fuhr mit quietschenden Reifen davon. Wie betäubt stand Roy noch immer dort, wohin er ausgewichen war und atmete erleichtert aus, froh, dass es noch einmal glimpflich ausgegangen war. Er schüttelte verärgert den Kopf. Langsam trottete er zur Straße zurück. Der Wagen war nicht mehr zu sehen, doch der Gegenstand, der hinausgefallen war, lag noch immer dort. Es war ein Schuh! Eine zierliche Sandale mit weißen Lederriemchen und Strassbesatz. Offenbar ein Frauenschuh. Das Fußbett wies Spuren auf, dass er getragen worden war, auch das Leder zeigte einige Falten, die auf vorherigen Gebrauch hinwiesen. Schon wollte er den Schuh einfach ins Gebüsch werfen, doch irgendetwas hielt ihn zurück, und er bremste die Bewegung, da er schon ausgeholt hatte und betrachtete den Schuh nochmals.

Wie passte der Schuh zu diesem merkwürdigen Fremden, aus dessen Wagen er gefallen war? Er beschloss, ihn mitzunehmen und steckte ihn kurzerhand in seinen Regenmantel, wo er knapp aus der Tasche ragte. Da der Fremde in die Richtung gefahren war, aus der er selbst gekommen war, überlegte Roy, konnte er wohl vorher nicht von dort gekommen sein, denn dann wäre er ihm auf der Straße begegnet. Also musste er aus der anderen Richtung gekommen sein. Deshalb würde dort wohl irgendeine Siedlung liegen. Er setzte also nachdenklich seinen Weg fort und richtig, kaum machte die Straße einen Bogen, sah er auch bereits den Kirchturm, den er in der Ferne vorher erblickt hatte und ein Ortsschild. »Klein Quentin«. Weit ausholend schritt er erleichtert darauf zu.

Als er über drei Stunden später mit einer großen Tüte voll duftender Brötchen im Ferienhaus wieder ankam, fand er es leer vor. Auf dem unabgeräumten Küchentisch, auf dem die Spuren eines Frühstücks noch überdeutlich zu sehen waren, lag ein Zettel, den seine Frau geschrieben hatte.

»Da du ja offensichtlich keinerlei Interesse hast, mit deiner Familie einen entspannten Urlaub zu verbringen, sind wir schon ohne dich losgefahren!!!!«

Seufzend legte er die Brötchentüte ab. Dann fiel es ihm wieder ein. Sie wollten ja bei guten Wetter eine Fahrradtour machen! Er ging nochmals aus dem Haus, um nach den Fahrrädern zu schauen. Tatsächlich stand nur noch seines dort. Warum hatten sie ihn nicht einfach auf dem Handy angerufen.

Er fasste in die Manteltasche, wo er jedoch lediglich auf den gefundenen Schuh stieß. Er nahm ihn heraus. Was sollte er jetzt nur damit machen? Er konnte ihn kaum in der Wohnung abstellen. Also steckte er ihn vorerst wieder zurück. Sein Handy hatte er offenbar gar nicht mitgenommen. Er entdeckte es neben seinem PC, wo er es abends abgelegt hatte.

Seufzend ließ er sich am Küchentisch nieder. Es war nun knapp zehn Uhr. Sollte er versuchen, seine Frau telefonisch zu erreichen? Er versprach sich nicht viel davon. Er starrte sein Mobiltelefon an, als könne es ihm die Antwort geben. Das Display zeigte keine neuen Nachrichten.

Suzanne

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