Читать книгу Suzanne - Levi Krongold - Страница 9

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Er hatte die halbe Nacht durchgeschrieben, nachdem er ein wenig angetrunken aus der Campingplatzgaststätte zurückgekehrt war. Das Ferienhaus lag schon im Dunklen und vorsichtig tastete er sich durch den Schlafraum, um seinen PC vom Fensterbrett zu nehmen. Er hörte den gleichmäßigen Atem seiner Frau, der anzeigte, dass sie bereits schlief. Vorsichtig hatte er die Tür zum Kinderzimmer geschlossen, damit diese nicht durch das Tastengeklapper aufwachten. Jetzt, nachdem der letzte Satz geschrieben war, gähnte er ermüdet und schleppte sich ins Bett. Dort, noch immer die letzten Sätze seines Romans im Kopf, fühlte er den warmen Körper seiner Frau, die wie immer nackt schlief. Sie lag quer im Bett, so dass ihm wenig Platz blieb, sich entspannt hinzulegen. Vorsichtig zog er seine Decke zurecht und versuchte, eine einigermaßen bequeme Position zu finden. Er spürte das Verlangen, sie anzufassen, ihr wieder nahe zu kommen und legte eine Hand auf ihre bloße Schulter. Sie schnaufte unwillig im Schlaf, reagierte jedoch nicht. Ärgerlich und enttäuscht nahm er die Hand zurück, machte sich etwas energischer Platz, indem er sie grob anschubste. Sie drehte zwar den Kopf in seine Richtung, rückte wohl auch ein Stück zur Seite, schlief jedoch weiter. Er starrte den Lichtfleck an der Decke an, den eine Laterne in der Nähe des Ferienhauses erzeugte. Suzanne. Wie würde es mit ihnen weitergehen? Wie würde es mit seiner Frau und ihm weitergehen? Hatte Iris, die recht selbstbewusst war, nur einmal in ihrer gesamten Ehe versucht, die Missstimmungen, die regelmäßig aufgekommen waren, von sich aus zu glätten? War sie auch nur einmal auf ihn zugekommen mit einer Geste oder den Worten, »Wollen wir es noch einmal im Guten versuchen?«. Er konnte sich nicht erinnern. Stets war er es, der den Anfang machte nach tagelangem, beleidigtem Schweigen ihrerseits. Weil er diese Atmosphäre der Ablehnung und Zurückweisung nicht mehr ertragen konnte. Weil er sich sagte, irgendwie waren die Anlässe für ihre Zwistigkeiten eigentlich zu banal, um in ein dauerhaftes Zerwürfnis führen zu müssen. Und eigentlich liebten sie beide ihre Kinder heiß und innig, ja, er konnte sich ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen. Und eigentlich sollten sie als Erwachsene langsam ein wenig über den Dingen stehen. Vielleicht war das der Grund, warum er nachgiebiger war als sie. Seine Lebenszeit war um fast zwanzig Jahre mehr verstrichen als die ihre. Er fühlte den langsamen Abbau seines Körpers, das Nachlassen der Intensität seines Erlebens, die Hoffnungslosigkeit, noch etwas Bedeutendes zu schaffen. Da, wo andere gut situiert die gesellschaftlich notwendigen Items abhaken konnten, ‚ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt und Kinder gezeugt, mein Auto, meine Karriere, meine Familie‘, konnte er nur mit Familie punkten und wenn er es recht betrachtete, nicht einmal das. Suzanne. Er seufzte, drehte sich auf die Seite, doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Nach einer gefühlten Stunde des unruhigen Grübelns stand er wieder auf und schlurfte zum Kühlschrank. Er öffnete die Tür und starrte minutenlang hinein, ohne recht zu wissen, was er eigentlich suchte. Beim Schließen des Kühlschranks stieß er gegen einen Küchenstuhl, der lärmend umfiel. Erschrocken hob er ihn wieder auf und schob ihn geräuschlos zurück. Das Wohnzimmer-licht ging an und Iris stand völlig nackt und verschlafen im Raum. »Was machst denn du für einen Krach mitten in der Nacht? Bist du verrückt geworden? Willst du die Kinder aufwecken?« Er unterdrückte die Erkenntnis, dass er sie immer noch begehrenswert fand und brummte in ihre Richtung zurück: »Du mich auch!« »Idiot!«, zischte sie und verschwand auf der Toilette. Den Rückweg erledigte sie schlaftrunken, ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Er beschloss, auf dem Sofa zu schlafen, fischte sich seine Decke aus dem gemeinsamen Bett und sortierte sich mühsam auf das seiner Körpergröße nicht recht angemessene Möbelstück. Wenig später musste er eingeschlafen sein. Als er morgens mit steifem Rücken und schmerzendem Nacken erwachte, erinnerte er sich noch daran, von ihr, von Suzanne, geträumt zu haben. Verzweifelt versuchte er, sich die Traumszenen in Erinnerung zu rufen, um sie später zu verwenden, doch je mehr er erwachte, umso undeutlicher wurde die Erinnerung. Nur ein Bild blieb. Suzanne winkte ihm auf einer Bergspitze stehend aus der Ferne zu, bevor der Nebel sie einhüllte. Verstimmt trottete er zum Küchenfenster, um einen Blick nach draußen zu werfen. Es war noch nicht einmal 6 Uhr, wie der Wecker auf dem Küchenregal anzeigte. Der Himmel war verhangen, wenigstens regnete es nicht mehr. Dann wäre heute vielleicht Gelegenheit für einen Ausflug, überlegte er. Andererseits würden die Kinder erfahrungsgemäß nicht vor 9 Uhr aufwachen. Seine Frau nicht vor 10 Uhr aus dem Bett kommen. Was verdammt hatte er nur zuletzt geträumt? Er erinnerte sich nur noch an das Gefühl eines verzweifelten Verlangens, sie festzuhalten, seine Traumfigur, Suzanne. Doch es gab keine Möglichkeit dazu, sie war zu weit entfernt. Mehr kam ihm nicht mehr in Erinnerung. Er beschloss, einen Spaziergang zu machen und die Morgenstimmung zu genießen, während er warten würde, bis alle erwacht wären. Vielleicht würde er auch Brötchen holen gehen im nahe gelegenen Dorf. Möglicherweise hatte der Dorfbäcker schon geöffnet. Also entschied er sich für die Stiefel und den Regenmantel, nahm einen kleinen Rucksack vom Haken und trat vor die Tür. Die feuchte, kühle Luft ließ ihn frösteln, doch vertrieb sie auch den Schlaf. Er streckte sich unentschlossen, wandte sich dann in Richtung See und stapfte durch den morastigen Untergrund. Der See lag als graue, trostlose Fläche vor ihm, umrandet von Schilf und dichter Uferböschung. Nur der alte hölzerne Bootssteg neben dem kleinen Bootshaus gewährte einen Zugang. Er betrat die knarzenden morschen Bretter des Steges, um bis ganz vorne an den Rand zu gehen. Dort ließ er sich nieder. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, als derartige Stege immer ein unheimliches Gefühl in ihm hervorgerufen hatten. Das kribbelig, schaurigschöne Gefühl, das entsteht, wenn man nicht weiß, ob die Angst davor ins Wasser zu fallen daher kommt, weil man ausgleiten oder gar freiwillig in den See springen würde. Er ließ die Beine baumeln. Die Stiefelabsätze berührten knapp die Wasseroberfläche und erzeugten kleine Wellen. Im braungrünen Wasser spiegelten sich die regenschweren grauen Wolken. Auch sein eigenes Spiegelbild sah er, gebrochen durch kleine Wellen. Er beugte sich vor, beugte sich vor, immer weiter, bis er drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. Doch er konnte seine Augen nicht erkennen! Das Spiegelbild seines Kopfes zeigte nur verschwommene Umrisse seines Gesichtes, doch seine Augen waren nicht zu erkennen! Erschrocken setzte er sich auf. War dies so etwas wie eine Prophezeiung? Er schalt sich einen Dummkopf. Er beugte sich nochmals vorsichtig vor. Da trat durch eine Wolkenlücke ein kleiner Sonnenstrahl hervor und erhellte unerwartet die Wasseroberfläche. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass er sich nun vollständig sehen konnte und akzeptierte damit stillschweigend auch, diese Art von Aberglauben zu tolerieren. Der Sonnenstrahl glitzerte einen Moment so hell, dass er geradezu geblendet wurde. Als er aufblickte und dem dunklen Nachbild in seinen Augen vor dem Hintergrund des Sees nachspürte, meinte er darin die Formen eines Gesichts erkennen zu können. Suzanne.

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Der Tag begann wie fast alle vorherigen Tage seines Aufenthaltes hier, mit einem freundlichen Gruß der strahlend gelben Sonne vor dem azurblauen Himmel. Er trat vor die Hoteltür in freudiger Erwartung der kommenden Ereignisse. Er hatte ausgesprochen gut geschlafen und von ihr geträumt. Er hatte von ihr geträumt, wie sie sich ihm hingab in wilder erfüllender Ekstase. Das Traumerleben war so intensiv, so gegenwärtig, dass er beim Erwachen noch einen kleinen Moment innehielt, die Augen fest geschlossen, um dieses wohlige Gefühl in die Realität des Wachzustandes mitzunehmen, hinüberzuretten in die materielle Welt. Fröhlich singend war er aufgestanden, hatte sich ausgiebigst geduscht, sorgfältig rasiert und gekämmt, ja, sogar ein wenig Rasierwasser aufgetupft. Er verzichtete darauf, seine Krawatte anzulegen, das wäre wohl doch übertrieben gewesen und er wusste ja noch gar nicht, wann sie sich melden würde. Nachdem er sich versichert hatte, dass sein Mobiltelefon noch keine Nachricht von ihr anzeigte, genug Akkuladung zur Verfügung stand, um eine solche auch nicht zu verpassen, machte er sich in sein gewohntes Straßencafé am kleinen Platz am Ende der Avenue Marina auf, wo er zu frühstücken pflegte. Der Wirt, ein behäbiger Korse mittleren Alters, nickte ihm freundlich zu, als habe er in ihm schon einen Stammkunden wiedererkannt. Leider sprach dieser weder englisch noch deutsch und Levi verstand zwar etwas Französisch, konnte jedoch selbst nur mühsam einige Sätze formulieren, nicht genug, um eine lockere Unterhaltung beginnen zu können. Deshalb beschränkte sich ihre Konversation im Wesentlichen auf die Bestellung eines mediterranen Frühstücks und Milchkaffees sowie einiger radebrechender Bemerkungen über das wundervolle Wetter. Sinnend blickte er in Richtung der Innenstadt, als wenn er erwarten würde, dass sie zufällig daher kommt. Was sollte er nur heute unternehmen? Er wagte nicht, größere Ausflüge zu planen, denn sollte sie plötzlich anrufen, wäre er vielleicht nicht erreichbar oder unterwegs. Andererseits konnte er auch nicht den ganzen Tag warten. So beschloss er, nach einem kleinen Rundgang vielleicht ihr Haus auf eigene Faust zu suchen. Es musste sich irgendwo dort drinnen in der Altstadt befinden. Dann würde er weitersehen. Das Lokal füllte sich nach und nach mit weiteren Gästen. Üblicherweise saßen in Nähe der Theke im Eingangsbereich eher die Einheimischen, Handwerker oder Zulieferer, die ihren Espresso tranken, fröhlich miteinander schwatzten, um dann wieder ihren Aufgaben nachzugehen. Er blickte sich um. Eine Gruppe junger Männer betrat von der anderen Straßenseite kommend den Platz. Sie hatten das selbstbewusste, etwas unangenehm machohafte Auftreten, welches stolze junge Korsen auszeichnet, die sich im Vollbesitz ihrer Kraft und voller Selbstbewusstsein fühlen. Lachend strebten sie auf das Café zu, bahnten sich ihren Weg zwischen Tischen und Stühlen hindurch und riefen dem Wirt lautstark etwas zu. Einer der jungen Männer, ein unrasiert, grobschlächtig wirkender Flegel, stieß im Vorbeigehen heftig an Levis Stuhllehne, ging jedoch weiter, ohne sich auch nur mit einer Geste zu entschuldigen. Verärgert schaute Levi ihnen nach. Der Wirt, der den Vorfall offenbar beobachtet hatte, hob entschuldigend die Augenbrauen und zog die Schultern hoch, rief den Jungen etwas zu, was diese jedoch nicht besonders beeindruckte. Sie warfen sich auf die Stühle vor dem Eingangsbereich und setzten ihre lärmende Unterhaltung ungestört fort.Levi fühlte sich plötzlich unwohl in seiner Haut. Er beschloss, das Café nun lieber zu verlassen, um sich auf die Suche nach Suzannes Haus zu machen. Wie gewohnt, legte er das abgezählte Geld auf den kleinen Teller mit der Rechnung, winkte dem Wirt zum Abschied zu und machte sich auf in Richtung Innenstadt.Die Altstadt von Algajola ist eigentlich nicht besonders groß. Sie besteht im Wesentlichen aus dem Kastell und einigen davor gruppierten Häuschen in kleinen, verwinkelten Gassen. Teilweise gab es kleine, enge Zugänge, denen man nicht ansehen konnte, ob sie etwa in einen privaten Innenhof führten oder einen Zugang zu einer anderen Gasse darstellten. Es dauerte nicht lange und er wusste nicht mehr, wo er war. Immer wieder fand er sich auf einer größeren Gasse wieder, die er gerade erst verlassen hatte, oder bemerkte, dass er dieselbe Gasse nun zum zweiten Mal, nur aus anderer Richtung passiert hatte. Es war als spucke ihn die Innenstadt immer wieder auf die Hauptverkehrswege aus. Das Haus konnte er jedoch nirgends finden. Er kratzte sich am Kopf. Es musste doch möglich sein, die Zugangsgasse wiederzufinden. Er versuchte es vom Strand herkommend, wie gestern. Doch obwohl er in jede kleinere Gasse abbog, die von der Straße abzweigte, fand er sich doch wieder nur auf der Uferpromenade oder der A. Marina oder gar der Hauptstraße wieder. Es ging ihm nicht in den Kopf, dass er die Gasse nicht finden konnte. Frustriert wanderte er zum Kastell zurück, blickte zwischendurch auf das Display seines Handys, wo immer noch keine Nachricht von ihr eingetroffen war. Es war nun bereits fast an die Mittagszeit, und setzte sich auf eine Bank mit Blick auf das Meer. Etwas weiter weg, entdeckte er einen jungen Mann, der auf der Mauer saß, die das Kastell umgibt und ihn anstarrte. Ein Schreck fuhr Levi durch die Glieder, als er den rüpelhaften jungen Mann wiederzuerkennen glaubte, der ihn unsanft angerempelt hatte. Erfreulicherweise sprang dieser mit einem leichten Satz von der Mauer und entfernte sich in Richtung Innenstadt.

Suzanne

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