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EINLEITUNG

An einem Dienstagmorgen im September 2014 laufe ich zu Fuß von Gallarate nach Cassano Magnago, zum Haus von Ivan Basso. Es ist warm und stickig. Der Weg steigt leicht an, nach fünfhundert Metern ziehe ich meinen Pullover aus. Ein paar Kilometer weiter steht mitten auf dem Fußweg ein Schild: CASSANO MAGNAGO. Ich gehe durch entzückende kleine Gassen und Tore, vorbei an Bögen, die unvermutet weite Ausblicke gewähren, an hellgelben Mauern, von denen der Putz abbröckelt. Ergraute kleine Männer schlurfen durch die Straßen, eine Friseurin steht im Eingang zu ihrem Salon und raucht eine Zigarette. Immer, wenn ich einen Radfahrer kommen höre, blicke ich auf. Nie ist es Basso.

Es ist der erste Tag meiner Radsportwallfahrt durch Italien, und während meiner Wanderung kommt mir plötzlich eine Frage in den Sinn, die so grundsätzlich ist, dass ich gar nicht begreife, warum ich sie mir nicht schon viel früher gestellt habe. Warum laufe ich vier Kilometer zu irgendeinem verfallenen Dorf in Norditalien, um ein Haus von jemandem zu finden, den ich gar nicht persönlich kenne? Hoffe ich etwa darauf, dass Basso dort im Garten steht und den Rasen mäht oder in der Einfahrt an seinem Fahrrad herumschraubt? Dass er mich kommen sieht und mir zuruft: »Hallo, ich bin Ivan Basso, der Radrennfahrer, sollen wir zusammen Mittag essen gehen?« Ich habe mal ein Jahr lang in Rom studiert und in dieser Zeit immer wieder das Grab des englischen Dichters John Keats besucht. Damals war ich weniger verlegen, als ich es heute bin, auf dem Weg zum Haus von Basso. Aber wonach war ich damals eigentlich auf der Suche?

Sie werden »Pilger« genannt, die Fans, die ihren Idolen hinterherreisen. Ein Wort, das nicht nur auf den quasi-religiösen Charakter solcher Reisen verweist, sondern auch etwas über den emotionalen Wert einer solchen Unternehmung für den Einzelnen aussagt. Immer spielt die Erwartung eine Rolle, dass der Besuch eines solchen magischen Orts etwas bewirken wird, dass die Reise vielleicht sogar den Pilger selbst verändern wird. Tatsächlich bewirken Orte überhaupt nichts. Was den Pilger verändert, kommt aus ihm selbst heraus, aus seinen Gedanken. Die Reise bezieht ihren Wert aus dem Imaginationsvermögen.

1949 folgte der italienische Schriftsteller Dino Buzzati dem Giro d’Italia als Reporter für den Corriere della Sera. Seine Berichte sind alle zusammen in einem Buch erschienen: Beim Giro d’Italia. Im letzten Kapitel, Nie wird es vergehen, das Märchen vom Fahrrad, vergleicht Buzzati die Rennfahrer selbst mit Pilgern:

»Schaut sie euch an, wie sie strampeln und strampeln zwischen Feldern, Hügeln und Wäldern. Sie sind Pilger auf dem Weg in eine weit entfernte Stadt, die sie nie erreichen werden: Sie verkörpern in Fleisch und Blut, wie im Bild eines antiken Malers, das unverständliche Abenteuer des Lebens. Das ist reine Romantik.«

Poetische Worte, von unzähligen Radsportromantikern zitiert, obwohl Buzzatis Vergleich doch eigentlich verunglückt ist: Ein Pilger auf dem Weg in eine Stadt, die er nicht erreichen wird, ist kein Pilger, sondern ein rastloser Landstreicher. Denn wenn die Stadt unerreichbar ist, wozu macht man sich dann auf den Weg? Welche Geschichte soll dann noch geschrieben, welche Ehre noch erlangt werden?

Aber eigentlich geht es um den zweiten Teil von Buzzatis Zitat, denn darin liegt die wahre Romantik: Radrennfahrer als die Fleisch gewordenen Symbole des unverständlichen Abenteuers des Lebens. Ihr Ehrgeiz, ihre Leiden, ihre Opferbereitschaft, ihre Hingabe – und das alles nur, um in der nächsten Stadt anzukommen. Nicht die Radprofis sind die Pilger, sondern die Fans, die ihren Idolen treu ergeben folgen. Die dorthin gehen, wo auch die Fahrer selbst hingegangen sind, die das berühren, was sie berührt haben, die Leiden nachempfinden, die die Fahrer selbst gelitten haben. Denn nichts ersehnt der Pilger so sehr, wie selbst ein Teil dieses unverständlichen Abenteuers zu werden, vom Heldentum zu kosten, aus demselben Bidon zu trinken wie die Helden, und sei es auch nur ein kleiner Schluck.

»We cannot go back in time (though we might wish to), but we can go back in place«, lautet ein Zitat in einem Graceland-Führer für Elvis-Fans. Ich bin in dem Buch Understanding Fandom von Mark Duffett darauf gestoßen. Näher als an den Ort kommt der Pilger nicht. Er kann den Schauplatz von damals aufsuchen. Die Zeit von damals muss er sich dann selbst dazudenken.

Ein Grab ist dazu da, dass Menschen es besuchen, genau wie ein Denkmal oder das Geburtshaus eines verstorbenen Künstlers. Jedes Jahr kommen Tausende nach Rom, nur um den nicht-katholischen Friedhof zu besuchen, auf dem Keats begraben liegt. Nie habe ich dabei irgendeine Art von Verlegenheit verspürt. Anders beim Besuch des Hauses von Basso. Vielleicht, weil dieses Haus gerade kein offizieller Wallfahrtsort ist. Es ist ein ganz normales Wohnhaus, in dem eine Familie lebt.

Aber vielleicht erhofft sich der Pilger, der schüchtern daran vorbeigeht, um einen Blick vom täglichen Leben der Bewohner zu erhaschen, gerade diese Art von Bestätigung. Die Bestätigung, dass sein Idol in derselben Wirklichkeit lebt wie er selbst, in keiner anderen Zeit, keinem anderen Raum – dass sein Idol genauso menschlich ist wie er selbst. Nur die Kenntnis der konkreten Lebensumgebung des Idols kann das Gefühl der Unerreichbarkeit ein bisschen relativieren.

Ein Radsport-Pilger fühlt sich nirgends auf der Welt so zu Hause wie in Italien. Es ist das Land der Hingabe, der bedingungslosen Liebe zu seinen Rennfahrern und vor allem auch zu seiner großen Landesrundfahrt. Denn auch als es den Giro noch gar nicht gab, als er erst ein Hirngespinst der Zeitung La Gazzetta dello Sport war, die ihn organisieren wollte, war er schon das Wunschkind der ganzen italienischen Nation. Seine Ankündigung im Jahr 1908 war der reine Bluff, aber das erwies sich als völlig problemlos: Halb Italien meldete sich, um einen Beitrag zu leisten und mitzuhelfen, bis hin zum Konkurrenzblatt der Gazzetta, dem Corriere della Sera.

Wo auch immer der Giro hinkommt, wird er bis heute wie das lang ersehnte Kind in Empfang genommen, das 1909 endlich das Licht der Welt erblickte. Das Giro-Peloton ruft bei den italienischen Radsportfans Gefühle wach, die der religiösen Verzückung, mit denen sich die Leute zu Ostern auf dem Petersplatz nach vorne drängeln, in nichts nachstehen. Radsportfans reißen sich um eine weggeworfene Trinkflasche wie Gläubige um eine Hostie aus der Hand des Papstes.

Es ist die Fantasie, die der Wallfahrt ihren Wert verleiht und den Radsportliebhaber zum Romantiker werden lässt. Wo normale Menschen im Fernsehen eine Gruppe von Männern sehen, die quälend langsam auf ihren Rädern durch die Ebene und durchs Hochgebirge vorankriechen, sieht der Radsportfanatiker Helden, die mit jedem Tritt in die Pedale Geschichte schreiben. Jedes Rennen, jede Etappe zeugt für ihn erneut von unbeschreiblichem Leiden, von übermenschlichen Leistungen und von Heldenmut.

Und wer als pellegrina, als Pilgerin, durch Italien zieht, um auf Dorfplätzen, an Kreuzungen oder in irgendeinem Gewerbegebiet die Geschichten aufzustöbern, die dort vor sich hin schlummern, lernt dabei auch noch das Land kennen. Ganz von selbst. In all seiner Pracht und Hässlichkeit.

Pellegrina

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