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TOSKANA

PONTE A EMA

Geburtsort von Gino Bartali (1914–2000), der während des Zweiten Weltkriegs per Fahrrad Dokumente zu Klöstern in Assisi schmuggelte.

Zehn Kilometer südlich von Florenz, inmitten von Hügeln, die von fahlgrünen Olivenbäumen bedeckt sind, liegt das kleine Dorf Ponte a Ema. Es hat keinen zentralen Platz, sondern erstreckt sich links und rechts der Hauptstraße, der Via Chiantigiana. Zu der Zeit, als Gino Bartali hier aufwuchs, hingen auf den Feldern außerhalb des Dorfs endlose Reihen von Laken und Tischdecken zum Trocknen in der Sonne. Viele der Frauen von Ponte a Ema arbeiteten als Wäscherinnen, sie wuschen die feine Wäsche und das Leinzeug für die wohlhabenden Familien in der zehn Kilometer entfernten großen Stadt. Was zu groß war, um in einer Tonne gewaschen zu werden, wurde in der Ema ausgespült, dem kleinen Fluss, dem das Dorf seinen Namen verdankt.

Das Museo del Ciclismo Gino Bartali in der Via Chiantigiana öffnet seine Pforten nur nach vorheriger Absprache, wie ein Zettel an der Tür kundtut. Immerhin vier Telefonnummern sind angegeben. Die erste auf der Liste ist die eines gewissen Andrea. Andrea Bartali vielleicht, der Sohn? Ich beschließe, ihn anzurufen, und eine halbe Stunde später hält ein kleines blaues Auto am Straßenrand. Dass ich alleine bin und dann auch noch eine Frau, scheint ihn zu erstaunen. »Kommen noch mehr?«, fragt er. Er ist anscheinend eher Gruppen von Männern gewohnt. Durch die Garage hindurch gehen wir ins Haus. Während wir auf den Fahrstuhl warten, nehme ich mir ein Herz und frage: »Sind Sie der Sohn von Gino Bartali?«

»Ich bin der Sohn seines Mechanikers.«

Ich gebe mir Mühe, nicht allzu enttäuscht zu wirken.

Das Museum ist groß, hell und modern, viel weniger verstaubt als erwartet. Vor allem gibt es viele Fahrräder zu sehen. Andrea ruft etwas in den Flur, und zu meiner Überraschung kommt aus einem Hinterzimmer ein alter Mann herausgeschlurft. Daraufhin lässt Andrea uns allein. Der Alte hat seine Hose über den dicken Bauch bis unter die Achseln hochgezogen, und damit sie nicht wieder herunterrutscht, trägt er sowohl einen Gürtel als auch Hosenträger. Bei dem Gürtel ist die Schnalle kaputt, und einer der Hosenträger ist mit einem Stück Klebeband befestigt. Die Schuhe würden eigentlich auch eher in ein Museum gehören. Bei dem ausgeblichenen, karierten Oberhemd fällt ein fehlender Knopf auf.

Der Mann nimmt mich zunächst wieder mit nach unten, zum Eingangsbereich, wo ich für 3,50 Euro eine Eintrittskarte kaufe. An der Wand hängen Postkarten, die Bartali 1948 von der Tour de France nach Hause geschickt hat, eine von jeder Etappe. Ich studiere sie aufmerksam. Es folgen ein paar prächtige Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Auf einer sind Bartali und Coppi zusammen abgelichtet, in Jagdmontur, komplett mit Gewehren und Jagdhund. »Waren die beiden richtig gute Freunde?«, frage ich den Mann.

»Bei uns in der Toskana gibt es das Sprichwort: di giorno litigano, la notte vanno insieme a rubare. So war es auch mit den beiden.« Tagsüber streiten, nachts zusammen Pferde stehlen.

Wieder oben, bekomme ich eine Privatführung, die auszuschlagen ein Ding der Unmöglichkeit scheint. Der Rundgang beginnt bei einem unglaublich alten Rad, das zweite Modell aus der Geschichte des Fahrrads. Es folgt ein etwas weniger altes Rad. Dann ein noch etwas weniger altes. Und so weiter. Wie sich herausstellt, verfügt der Alte über enzyklopädische Kenntnisse der technischen Entwicklung des Fahrrads. Und das Museum verfügt über gut und gern fünfzig Ansichtsexemplare. Zu jedem einzelnen gehört eine Geschichte von einer Dreiviertelstunde. Auf Italienisch, mit starkem toskanischen Akzent, und aus einem Mund, dem gerade noch fünf vor sich hin rottende Zähne verblieben sind. Von jedem Satz, den er sagt, verstehe ich höchstens zwei Wörter.

Es gibt auch noch Radtrikots, Fahrradlampen, Sättel und jede Menge loser Fotos zu sehen. Die zugehörigen Geschichten hat der Mann anscheinend alle auswendig gelernt. Als ich einen der Sättel heimlich zu überspringen versuche, bleibt er demonstrativ davor stehen, bis ich reumütig zurückschlurfe. Verzweifelt schaue ich mich um, ob es hier noch irgendetwas gibt, was einen Bezug zu Bartali hat, oder sonst vielleicht einen Notausgang. Aber ich kann nicht weg, und bei dem Schrank mit Bartalis Trophäen sind wir noch lange nicht angekommen. »Möchten Sie noch einen schönen Film über die Entwicklung des Fahrrads sehen?« Seine Stimme klingt immer noch munter, als die Führung gefühlte fünf Tage später endlich vorbei ist.

Draußen scheint die Sonne grell, ich blinzele. Die Kirchturmuhr zeigt zwölf Uhr mittags. Wie ein Zombie stolpere ich durch die Straßen von Ponte a Ema in die erstbeste Bar, die mir ins Auge fällt. »Gibt’s auch einen dreifachen? Nein? Dann bitte zwei doppelte Whisky.« Ich kippe sie hinunter, und als ich wieder auf die Straße hinauskomme, stehe ich plötzlich direkt vor Bartalis Geburtshaus, an der Ecke Via Chiantigiana/ Via di Campigliano. Über der Tür von Nummer 18 hängt eine Gedenktafel aus Marmor:

In diesem Haus wurde Gino Bartali geboren (1914–2000). Hier begann seine Fahrt über die Straßen des Lebens und des Sports. Der Enthusiasmus und die Begeisterung, die er erweckte, machten ihn zu einer Legende.

Rechts des Eingangs befindet sich ein kleiner Buch- und Zeitschriftenhandel. L’Intramontabile heißt er, nach einem der Beinamen Bartalis, wörtlich »der Unsterbliche«. Ob dieser Beiname sich bewähren wird? Wird Bartalis Ruhm den Lauf der Zeiten überstehen? Nirgends scheint das so glaubhaft wie hier, in der Stille dieses Dorfs, das sich träge in die zeitlose toskanische Landschaft ausstreckt.

Als Gino Bartali am 5. Mai 2000 starb, war er bekannt als einer der besten Radrennfahrer, die es je gegeben hatte. Nach seinem Tod fingen Journalisten an, seine Vergangenheit zu durchforsten, auf der Suche nach seiner Geschichte aus den Kriegsjahren. Wer in Italien zu graben anfängt, stößt immer auf irgendwelche Reste aus der Vergangenheit. Wie sich herausstellte, war der große Radrennfahrer ein Widerstandskämpfer gewesen. Er hatte nie darüber gesprochen, sondern das Geheimnis aus Bescheidenheit mit ins Grab genommen. Die Journalisten fanden Spuren, die nach Umbrien führten, in die einzige Gegend Italiens südlich der Alpen, die nicht an der Küste liegt. Die benachbarten Regionen scheinen Umbrien wie ein Elefantenbaby beschützend zu umringen. Inmitten ihres schützenden Kreises, auf einer der grünen Flanken des Monte Subasio, liegt das anscheinend permanent in der Sonne badende Assisi. Die Klosterstadt scheint zu strahlen, so hell wird das Licht von den weißen Mauern der Basilica di San Francesco d’Assisi reflektiert, jener Kirche, die den kleinen Ort zu einer berühmten Wallfahrtsstätte gemacht hat. Im Schatten des enormen Komplexes liegen noch zahllose kleinere Klöster, darunter das Klarissinnenkloster San Quirico und das Franziskanerkloster San Damiano.

Diese kleineren Klöster sollten im Leben von Gino Bartali eine große Rolle spielen. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, befand Bartali sich auf dem Zenit seiner Karriere. 1936 und 1937 hatte er den Giro d’Italia gewonnen, 1938 die Tour de France. Mussolini, der schon seit 1922 in Italien an der Macht war, lud ihn ein, seinen Tour-Sieg ihm zu widmen. Denn ein Italiener, der die Tour de France gewann, passte perfekt zu Mussolinis faschistischer Politik und galt diesem als Beweis, dass die Italiener zur »Herrenrasse« gehörten. Aber Bartali trat in die Fußstapfen von Ottavio Bottecchia und weigerte sich, Il Duce den gewünschten Dienst zu erweisen – womit er sich bei Mussolini nicht gerade beliebt machte.


Am 5. August 1938, kurz nach dem Ende der Tour, veröffentlichte Mussolini sein Manifesto della razza. Punkt neun dieses Manifests lautete: »Juden gehören nicht zur italienischen Rasse«. Wenig später mussten alle italienischen Juden ihre Staatsbürgerschaft abgeben. Trotz der antisemitischen Auslassungen Mussolinis blieb das Land noch lange ein relativ sicherer Aufenthaltsort für Juden – bis im September 1943 mit der deutschen Besatzung Italiens die systematische Deportation der jüdischen Bevölkerung in die Vernichtungslager begann.

In diesem historischen Augenblick beschloss Giuseppina Biviglio, die Oberin von San Quirico in Assisi, so vielen Juden wie möglich zu helfen und sie in ihrem Kloster zu verstecken. Das Kloster San Quirico liegt mitten in der Stadt und ist von hohen, blinden Mauern umgeben. Klarissinnen verlassen ihre Klosteranlage nie, sie leben in völliger Abgeschiedenheit, was San Quirico zu einem ausgezeichneten Versteck machte – ebenso wie einige andere Klöster der Stadt. Außerdem war Assisi ein vergleichsweise sicherer Ort, weil es hier keine militärischen Ziele für Bombardements gab. Auch Pater Rufino Niccacci vom Franziskanerkloster San Damiano, das direkt vor der Stadt liegt, schloss sich dem Untergrundnetzwerk an.

Gut einhundertsechzig Kilometer weiter nördlich, in Florenz, bat Erzbischof Elia Dalla Costa, ein guter Freund Bartalis, der ihn auch getraut hatte, den berühmten Radrennfahrer um Hilfe. Er sollte von Florenz aus Dokumente in die Klöster von Assisi schmuggeln. Bartali war einverstanden. Und er erzählte niemandem von seinen geheimen Radtouren, nicht einmal seiner eigenen Frau.

Der Weg zum Kloster San Damiano, zwischen den Olivenhainen an den Flanken des Monte Subasio, ist ausgesprochen uneben: das reinste Mosaik von Kieselsteinen jeglicher Größe und Form. Früh morgens, wenn die Touristenbusse noch nicht angekommen sind, hängt hier noch der Nebel zwischen den Olivenbäumen, und es ist so still, dass man, wenn man sehr genau lauscht, noch immer das Fahrtgeräusch von Bartalis Legnano-Rad auf seinem Weg ins Tal hören kann. Das Kloster ist für Katholiken ein bedeutender Wallfahrtsort: Die Heilige Clara von Assisi stiftete hier im Jahr 1212 ihre erste Gemeinschaft der »armen Frauen«, die späteren Klarissinnen. Ein Teil des Klosters ist auch für die Öffentlichkeit zugänglich, ein Rundgang führt durch kleine Gänge und über schmale Treppen. Heute wohnen hier Franziskaner. Ab und zu kommt ein Mönch in brauner Kutte aus einer Tür mit einem PRIVATO-Schild, um ein Stück weiter hinter einer ebensolchen zu verschwinden. Ich traue mich schließlich, einen von ihnen anzusprechen, und frage ihn, ob er mir mehr über Bartali erzählen kann. »Nicht viel«, sagt er, »aber ich habe die Geschichte natürlich schon mal gehört. Heute ist der Todestag von Pater Niccacci, zu dem Bartali damals Kontakt hatte.« Er fragt mich, woher ich komme, und die Antwort scheint ihn zu freuen. »1999 war ich mit meiner Verlobten in Amsterdam«, erzählt er, und als er meine Irritation bemerkt, fügt er schnell hinzu: »Es war das Jahr vor meiner Bekehrung.«

Als ich wenig später erneut die steile Straße hinaufgehe, frage ich mich, wie Bartali damals wohl nach oben gekommen ist. Ist er gelaufen und hat sein Rad geschoben? Oder hat er sich im Wiegetritt, auf den Pedalen stehend, hinaufgekämpft? Inzwischen kommen mir auch Touristen entgegen. Oben angelangt, stelle ich mich erst mal in den Schatten eines Olivenbaums, völlig aus der Puste.

Von seinem Haus aus legte Bartali damals enorme Entfernungen zurück: nach Lucca, nach Genua, zum Vatikan, aber vor allem nach Assisi. Fotos und falsche Ausweisdokumente versteckte er im Rahmen und im Lenker seines grün-roten Legnano-Rads. Wenn er auf dem Weg nach Assisi bei einem Kontrollposten angehalten wurde, gab es immer jemanden, der den berühmten Radsportler erkannte. Bartali erzählte dann, er trainiere, gab das eine oder andere Autogramm und sagte rasch: »Es tut mir leid, ich kann jetzt nicht lange anhalten, ich bin viel zu verschwitzt.« Oder: »Ich muss so schnell wie möglich einen Fahrradmechaniker finden, mein Reifen verliert immer mehr Luft.« Und er bat die Kontrolleure mit Nachdruck, sein Rad möglichst nicht anzufassen, weil die Teile alle ganz präzise aufeinander abgestimmt seien, um die maximale Kraftausbeute zu erzielen.

Am Bahnhof von Terontola, einem kleinen Ort an der Grenze der Toskana zu Umbrien, ist auf dem Bahnsteig neben dem Warteraum eine Plakette an der Wand angebracht. Sie erinnert an eine andere Taktik, die Bartali anwandte, um Juden bei der Flucht zu helfen. Der Text lautet:

Gino Bartali, der große Radrennfahrer, hielt hier in den Jahren 1943 und 1944 auf seiner Trainingsstrecke zwischen Florenz und Assisi mehrmals an, um Menschen zu helfen, die während des Zweiten Weltkriegs aus politischen Gründen oder aufgrund von Rassenwahn verfolgt wurden.

Es ist eine Kurzzusammenfassung. Nicht zufällig legte Bartali gerade in Terontola stets eine Pause ein. An diesem Bahnhof mussten nämlich die jüdischen Flüchtlinge, die in Assisi neue Papiere bekommen hatten, in einen anderen Zug umsteigen, um nach Bologna, Rom, Mailand oder in die Schweiz weiterzufahren. Beim Umsteigen wurden auch ihre Papiere kontrolliert, was stets ein heikler Moment war. Also setzte sich Bartali bei seinen Fahrten als postino per la pace, als Friedenspostbote, immer in eine kleine Bar gegenüber dem Bahnhof von Terontola, wenn gerade der Zug aus Assisi ankam. Die Anwesenheit des Radsportstars verursachte stets viel Aufsehen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht in der Bar, auf der Straße und natürlich auch im Bahnhof: Bartali ist hier! Er versuchte immer, in den sechs bis sieben Minuten, die das Umsteigen dauerte, für so viel Trubel zu sorgen, dass die Beamten, die die Ausweise kontrollieren mussten, abgelenkt waren und die Flüchtlinge unbehelligt in den nächsten Zug gelangten.

Bartali hat später nie darüber gesprochen, was er im Zweiten Weltkrieg getan hat. Er wollte lieber mit seinen sportlichen Leistungen in Erinnerung bleiben – auf die war er nämlich wirklich stolz. Als Held betrachtete er sich selbst nicht. »Die echte Helden, das sind andere: diejenigen, die in ihren Seelen, in ihren Herzen, in ihrem Geist und in ihren Gedanken für die Menschen, die ihnen nahestanden, gelitten haben. Ich bin nur ein Radrennfahrer.«

Im September 2013 wurde Gino Bartali zum Gerechten unter den Völkern erklärt, ein Ehrentitel, der vom Staat Israel verliehen wird, und zwar an Nicht-Juden, die im Zweiten Weltkrieg Juden geholfen haben, unterzutauchen, zu entkommen und zu überleben. Im Mai 2006 wurde Bartali zudem vom damaligen italienischen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi posthum eine goldene Medaille verliehen. Nicht zuletzt dank Bartali und seines Legnano-Rads wurden 1943 und 1944 insgesamt achthundert Juden vor der Verfolgung bewahrt. Ein Jahr nach dem Krieg und zehn Jahre nach seinem ersten Sieg von 1936 gewann Bartali schließlich zum dritten Mal den Giro d’Italia.

Pellegrina

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