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FRIAUL-JULISCH VENETIEN

PEONIS

wo Ottavio Bottecchia (1894–1927) am 15. Juni 1927 tot aufgefunden wurde, am Straßenrand seiner bevorzugten Trainingsstrecke.

Das Friaul ist die bildhübsche Stieftochter Italiens. Man könnte meinen, sie werde weggesperrt, um sie vor begehrlichen Blicken zu schützen. Zum Westen hin lenkt die beliebte Weinregion Venetien die Aufmerksamkeit ab. Zum Norden und Osten hin erwecken Österreich und Slowenien den Eindruck, das Friaul sei von allem, was Italien italienisch macht, weit entfernt. Und zum Süden wird die Region von der Adria begrenzt, die dort aussieht wie ein Burggraben ohne Zugbrücke. Im Friaul ist es so schön, dass sich während des gesamten Aufenthalts dort eine Angst im Bauch einnistet, eine Angst vor dem Erwachen, mit dem diese Welt voller anthrazitfarbener Felswände, braungrüner Bäume und eisig blauer Strömungen im Tagliamento-Fluss plötzlich wieder spurlos verschwunden sein könnte.

Das Friaul ist eine der regenreichsten Gegenden Italiens. Die tief hängenden Wolken scheinen dem Ruf der Region heute alle Ehre machen zu wollen, können deren Schönheit jedoch nichts anhaben. Es riecht hier sogar gut, wie ich auf meiner Reise nach Peonis feststelle. In den Dörfern, durch die ich hindurchkomme, vermischt sich Mistgestank mit dem Geruch von brennendem Holz, denn in den Häusern versuchen die Bewohner, den Herbst noch ein wenig in die Berge zurückzudrängen, indem sie nach Kräften ihre Öfen schüren. Auf den Feldern, die den Lauf des Tagliamento säumen, vergilben die Maiskolben, in scharfem Kontrast zu den benachbarten grünen Weiden. Die Straßen liegen so gut wie verlassen da.

Auf dem kurvenreichen Weg zwischen Bordano und Internappo taucht nach ein paar hundert Metern plötzlich ein großes Gemälde auf der Befestigung der Felswand neben der Straße auf. Ein von seiner Größe her eher bescheidenes, aber stolz vor sich hin glänzendes Schild gibt den Titel an: MURALE MITOLOGICO DI CICLISMO. Zu wahren Mythen sind jedenfalls die darauf abgebildeten Radsportler geworden, die alle ein eigenes Namensschild haben. Ganz links, an der Spitze, fährt Ottavio Bottecchia, der hier zu seinen Lebzeiten immer so gern trainiert hat. An seinem Hinterrad kleben Alfredo Binda, Costante Girardengo, Fausto Coppi, Vittorio Adorni, Fiorenzo Magni, Learco Guerra, Gino Bartali, Gastone Nencini, Felice Gimondi, Francesco Moser und als Schlusslicht Marco Pantani. Vorne weg ist Duilio Chiaradia zu erkennen, der Pionier des italienischen Sportfernsehens. Er sitzt hinten auf einem RAI-Motorrad, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, ohne Helm. Mit zwei Lederriemen ist er an den Motoradpiloten festgeschnallt, in den Händen hält er eine auf die Fahrer gerichtete Kamera. Seine Sitzposition sieht eher unbequem aus, aber sein etwas praller Bauch wird zumindest verhindert haben, dass er sich in der erstbesten Haarnadelkurve die Rippen gebrochen hat.

Ganz rechts auf dem Wandbild ist Antonio Lot abgebildet, ein Mann im Anzug mit einem Mikrofon. Wie das Schild zu seinem Namen kundtut, hat er das Museo del Ciclismo in der kleinen Gemeinde Portobuffolè aufgebaut, ebenso wie die Organisation Civiltà Altolivenza, die versucht, die gleichnamige nordwestitalienische Region international bekanntzumachen. Auch die Idee zu diesem Wandgemälde stammt von ihm. Ein wichtiger Mann also, aber so wichtig nun auch wieder nicht, dass ihm zwangsläufig dieser Platz zwischen den Großen auf der mythischen Mauer gebührt hätte. Vielleicht hat er ihn sich einfach selbst zugeteilt.

Das Friaul ist nicht gerade eine Radsport-Region, und so verwundert es zunächst, dieses Gemälde hier zu finden. Aber in Internappo stellt man schnell fest, dass es offenbar eine lokale Leidenschaft ist, die Wände mit Gemälden zu verzieren. Fast alle Häuser sind auf diese Weise bebildert. Es gibt Landschaftsansichten zu sehen, häusliche Szenen, Frauen auf Feldern mit Ähren in den Armen, knallblaues Meer vor einer Bergkulisse oder Engelchen auf einer Wolke. Und dank Bottecchia gibt es durchaus eine Verbindung zwischen dieser Region und dem Radsport. Es ist kein Zufall, dass gerade er die kleine Gruppe italienischer Radsporthelden anführt.

Zehn Kilometer südlich von Bordano, auf dem Weg von Peonis nach Trasaghis, steht ein Schild mit einem Schwarz-Weiß-Foto am Straßenrand. Ein missmutig dreinblickender Radsportler fährt über eine unbefestigte Bergstraße. Neben ihm her laufen Männer in langen Jacken, mit Mützen auf dem Kopf. Einer von ihnen trägt dicke Wollsocken, die er bis zu den Knien hochgezogen hat. LA STRADA DI BOTTECCHIA steht unter dem Foto: »Eine wunderschöne Straße mit Panorama-Aussicht im Herzen Friauls, mitten zwischen den Bergen und dem Fluss Tagliamento. Folgen Sie der Spur der Radsportlegende Ottavia Bottecchia, der zwei Mal die Tour de France gewonnen hat und bei seinen Friauler Trainingsfahrten regelmäßig auf dieser Straße unterwegs war.«

Bottecchias Straße ist zwar inzwischen asphaltiert, aber immer noch ziemlich schmal, an manchen Stellen wirkt sie wie eine Einbahnstraße. Zum Glück ist hier kaum jemand unterwegs. Links strömt der fluoreszierend blaue Tagliamento durch sein hellgraues Flussbett. Derselbe Anblick, der sich auch Bottecchia geboten haben muss, ein Jahrhundert früher. Derselbe Fluss, anderes Wasser.

Ottavio Bottecchia wuchs in San Martino di Colle Umberto auf, einem kleinen Dorf im Norden von Conegliano, in Venetien, zog aber später nach Pordenone um, ins Friaul. Sein Geburtshaus in San Martino gibt es noch, es ist allerdings fast schon eine Ruine. Nicht weit davon entfernt, an der Via Boschetta, die nach Vittorio Veneto führt, steht ein Denkmal für Bottecchia und seinen treuen Domestiken Alfonso Piccin (1901–1932). Piccin erzielte sein bestes Ergebnis beim Giro von 1929, bei dem er den achten Platz belegte, kam dann aber mit 31 Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben.

Bottecchia stammte aus einer ebenso großen wie armen Familie. Nachdem er ein Jahr lang zur Schule gegangen war, wurde er Maurer, um zu den Lebenshaltungskosten etwas beizutragen. Radrennen faszinierten ihn, aber in der Scheune stand nur ein einziges Fahrrad, und das gehörte seinem Bruder Gianni. Sonntags lieh Ottavio es sich des Öfteren aus, um Freunde zu besuchen und gemeinsam zu trinken, zu singen und zu tanzen. Eines Tages setzten diese Freunde sich in den Kopf, zusammen eine große Radtour durch das Friaul zu unternehmen. Aber kurz vor der Abfahrt entdeckte Ottavio zu seinem großen Schrecken, dass das Rad seines Bruders gestohlen worden war. In den kommenden Monaten arbeitete er ganz besonders hart, um so schnell wie möglich ein neues kaufen zu können.

Ein eigenes Rad bekam Bottecchia erst viel später, als er sich nämlich im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger meldete. Er wurde einer speziellen Gebirgsjäger-Einheit zugeordnet, die mit Klapprädern durch die Berge zog. Tagsüber hielten sie Ausschau, nachts machten sie sich auf die Suche nach möglichen Schmuggelrouten und Orten, die sich für einen Hinterhalt anboten.

Nach dem Krieg erhielt Bottecchia eine bronzene Medaille für seine Heldentaten. Er nahm jetzt immer häufiger an Rennen teil, zunächst noch als unabhängiger Radrennfahrer. 1923 belegte er beim Giro d’Italia den fünften Platz, woraufhin Henri Pélissier ihm einen Vertrag in seiner neuen Automoto-Mannschaft anbot. In jenem Jahr wurde er Zweiter bei der Tour de France, hinter Pélissier. 1924 gewann er die Tour dann, als erster Italiener, und zwar mit großer Souveränität: Er eroberte das Gelbe Trikot bereits auf der ersten Etappe und gab es fortan nicht mehr ab. 1925 gewann er die Tour ein weiteres Mal, mit einem Vorsprung von 54 Minuten vor der Nummer zwei. Angeblich waren die Frankreich-Rundfahrten, die Bottecchia gewann, die schwersten in der Geschichte des Rennens.

Ein Jahr später nahm jedoch die Karriere des »maçon de Frioul«, des Maurers aus dem Friaul, eine unerwartete, traurige Wendung. Er ging als Favorit für den Gesamtsieg an den Start, doch wie sich herausstellte, war er nicht mehr so gut in Form wie in den Jahren zuvor. Während der Etappe von Bayonne nach Luchon – Bottecchia lag in der Gesamtwertung gerade auf dem achten Platz – stieg er während eines stürmischen Unwetters krank und mit Rückenschmerzen von seinem Rad, setzte sich auf eine niedrige Mauer, fing an zu weinen und erzählte den Journalisten, er würde nie wieder bei der Tour starten, er hätte genug davon.

Kein Jahr später wurde er von zwei Bauern am Rand der Straße nach Trasaghis aufgefunden. Sein Rad lehnte unbeschädigt an einem Baum, aber Bottecchia selbst war bewusstlos, und sein Kopf lag inmitten einer großen Blutlache – ein Schädelbasisbruch, wie sich im Krankenhaus herausstellte. Wenige Tage später war er tot.

Dort, wo Bottecchia am Straßenrand gelegen hat, steht heute ein Denkmal für ihn. Ein Stein mit einem Kunstwerk aus Metall: ein großes, einzelnes Rad mit einem Fahrradlenker darüber – wenn man es genau von vorn anschaut, sieht es aus wie ein Kreuz. Flankiert wird es von verblühten, roten Geranien in Blumentöpfen, davor liegt ein rotes Stück Stoff. Hat jemand ihm ein Opfer dargebracht? Oder war mal ein Blumenstrauß in den Stoff eingewickelt?

Den Stein ziert ein Porträt von Bottecchia; er trägt ein schwarz-weißes Radtrikot mit Rollkragen und schaut ein bisschen grimmig drein. Der lange, interpunktionslose Text unter dem Foto klingt, als hätte ihn jemand in Atemnot zusammengeschrieben:

Ottavio Bottecchia Weltberühmter Radrennfahrer Während er sich vorbereitete auf schwerere Prüfungen und heißersehnte Siege fiel er einer tödlichen Krankheit zum Opfer und stürzte an dieser Stelle Einwohner von Peonis halfen ihm aber er starb im Krankenhaus von Gemona am 15. Juni 1927.

Fiel einer tödlichen Krankheit zum Opfer, behauptet das Denkmal; Bottecchia sei gestürzt, ein Unfall also. Das ist die offizielle Lesart, aber in Wirklichkeit ist Bottecchias Tod immer ein Mysterium geblieben. Ein Bauer aus der Gegend berichtete später, er habe an dem Unglückstag einen Stein nach jemandes Kopf geschleudert, der von seinen Weintrauben genascht habe. Aber im Juni sind die Trauben noch so sauer, dass niemand sie stehlen würde, auch ein hungriger Radprofi nicht. Und dann war da noch dieser Einwanderer aus Sardinien, der in New York, kurz bevor er niedergestochen wurde, das Geständnis ablegte, er hätte Bottecchia im Auftrag der Mafia getötet. Die noch immer glaubwürdigste Erklärung ist die des Priesters, der Bottecchia an seinem Sterbebett die letzten Sakramente spendete. Ihm zufolge waren es die Faschisten gewesen, die den Radrennfahrer umgebracht hatten. In Mussolinis Italien der zwanziger Jahre wurden Sportler als Symbole des mächtigen Staats gesehen, und in Ermangelung militärischer Helden mussten starke Sportler als Botschafter der faschistischen Ideologie herhalten. Bottecchia hatte international große Erfolge zu verzeichnen, aber er war nicht ganz die Visitenkarte für seine Nation, die Mussolini sich gewünscht hätte. Bottecchia war vielmehr Antifaschist. Bei einem Interview mit einem französischen Journalisten machte er aus seinen sozialistischen Überzeugungen keinen Hehl, ja er brachte sogar zum Ausdruck, dass er die Zeit für gekommen hielt, sich persönlich in dieser Richtung zu engagieren. Keine Frage, Mussolini wäre ihn gern los gewesen. Ob er allerdings wirklich den Auftrag erteilt hat, ihn zu ermorden oder ihm auch nur eine Abreibung zu verpassen, um ihn zu warnen – das wird wohl für immer ein ungelöstes Rätsel bleiben.

Ich pflücke ein paar welke Blätter von den Geranien vor dem Denkmal. Rote Geranien, genauso rot wie das Stück Stoff, wie mir jetzt erst auffällt. Ein letztes Mal schaue ich zu dem ernst dreinblickenden Gesicht von Bottecchia auf. Was für eine traurige Geschichte. Da hat einer bis zum Umfallen als Maurer gearbeitet, damit seine Familie zu essen hatte, hat den Krieg an der Front und die Kämpfe gegen Österreich überlebt, notabene auf einem Klapprad, und hat zwei Mal die Tour de France gewonnen. Und dann wird er hier mit 32 Jahren bewusstlos am Rand seiner Lieblingsstraße gefunden, während unter ihm der aquamarinfarbene Fluss gleichmütig vor sich hin strömt.

Kein Wunder, dass das Friaul seiner Schönheit zum Trotz so gottverlassen daliegt.

Pellegrina

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