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ОглавлениеLOMBARDEI
CITTIGLIO
Geburts- und Sterbeort von Alfredo Binda (1902–1986), fünffacher Gewinner des Giro d’Italia und dreifacher Weltmeister.
Ein Samstagmorgen im September. Es hängen Wolken zwischen den Bergen nördlich von Varese, ab und zu landen Tröpfchen auf der Windschutzscheibe. Trotzdem sieht es aus, als hätten an diesem Morgen sämtliche Einwohner der Lombardei ihre Rennräder aus den Garagen geholt. Während ich kleine Gruppen von Rennradfahrern im Slalom überhole, immer in der Hoffnung, dass hinter der Kurve kein Gegenverkehr kommt, wird mir bewusst, warum längst nicht alle Lombarden begeistert davon sind, dass man in ihrer Region so gut Rad fahren kann, und warum immer weniger Profis von hier kommen. Auf den viel befahrenen, engen Bergstraßen ist das Überholen von Radfahrern eine ziemlich stressige Angelegenheit, jedenfalls wenn man nicht gerade auf eine Runde Domino aus ist.
Cittiglio hat etwas mehr Atmosphäre als die meisten anderen kleinen Orte hier in der Gegend, und gerade klart der Himmel ein bisschen auf. Gegen elf Uhr vormittags melde ich mich beim Rathaus, wo ein Mann mit einem grauen Pferdeschwanz auf mich wartet. Der Bibliothekar der kleinen comune wird mir das Museo Alfredo Binda zeigen. Zu Fuß gehen wir zum kleinen rosa getünchten Bahnhof von Cittiglio, wo Binda zahllose Male in den Zug gestiegen ist, um zu irgendwelchen Rennen zu fahren. Inzwischen ist der Bahnhofsplatz nach ihm benannt, und im oberen Stockwerk des Empfangsgebäudes befindet sich das ihm gewidmete Museum.
Letztes Jahr habe ich hier auch schon vor der Tür gestanden, vergeblich. Es war sogar noch schlimmer, ich habe die Tür nicht mal gefunden. Es war ein Samstag, und der Internetseite zufolge sollte das Museum lediglich montags und freitags geschlossen sein. Ich habe sämtliche Türen durchprobiert, keine einzige ging auf. Schließlich habe ich einen Mann in einer leuchtenden gelb-grünen Hose gefragt, der gerade das Bahnhofsklo saubermachte. »Hmm«, sagte der. Er wusste auch nicht, wo der Eingang sein sollte, ging aber mit mir mit, und nachdem wir drei Mal um den gesamten Bahnhof herumgelaufen waren, blieben wir vor einem großen Plakat an der Wand stehen. Eine Zeichnung: Kopf, Arme und ein Fahrradlenker, in einfachen Linien, quer darüber ein Regenbogen. MUSEO ALFREDO BINDA. Der Klomann zeigte auf ein kleines Stück Papier, das jemand daruntergehängt hatte; die Schrift war vom Regen ganz verwischt: ÖFFNUNGSZEITEN VON JULI BIS DEZEMBER: SONNTAGS 14.00 BIS 18.00 UHR.
Ein Zettel an der Wand, am Tor oder an der Tür ist eine typisch italienische Kommunikationsstrategie, sogar der Tod eines Familienmitglieds wird auf diese Weise bekanntgegeben. Eine Internetseite betrachtet man im Gegensatz dazu noch immer als etwas Statisches, als eine Art Poster – im Gegensatz zum Zettel an der Tür, der sich offenbar hervorragend eignet, um zum Beispiel Änderungen der Öffnungszeiten mitzuteilen. Das gilt nicht nur für Museen, die sowieso nie jemand besucht, oder für kleine Tante-Emma-Läden, sondern auch für offizielle Einrichtungen wie Bibliotheken oder Konsulate. Wer in Italien loszieht, um irgendetwas zu regeln, kehrt am Ende des Tages in neun von zehn Fällen mit leeren Händen zurück. Vielleicht sagt das etwas darüber aus, wie sehr die Italiener auf ihre unmittelbare Umgebung fixiert sind, wie klein ihre Lebenswelt in Wahrheit ist. Dass manche Leute vielleicht extra kilometerweit angereist sind, kommt ihnen schlichtweg nicht in den Sinn.
Mittlerweile öffnet das Museo Alfredo Binda nur noch nach vorheriger Absprache. Letztes Jahr, so erzählt der Bibliothekar, gab es noch eine Freiwillige, die das Museum jeden Sonntagnachmittag aufgemacht hat, eine sehr alte Dame, aber damit ist es jetzt auch vorbei. Jetzt ist es immer geschlossen, es sei denn, man erreicht den Bibliothekar.
Während er mir den Aufbau der Ausstellung erklärt, wischt er mit dem Ärmel seines Fleecepullovers den schwarzen Staub von den Glasvitrinen mit Memorabilia. Er zeigt zur Decke. »Immer wenn ein Zug vorbeikommt, beben die Balken, und es fällt Dreck von der Decke.« Während ich mir das kleine, liebevoll eingerichtete Museum anschaue, nimmt der Bibliothekar seufzend und fluchend den Kampf gegen den Staub auf, bewaffnet mit Wedel, Handfeger und Kehrblech. Das Museum besitzt eine großartige Fotosammlung, zwei wollene Siegertrikots mit Kragen und zwei Fahrräder: das Legnano, auf dem Binda 1927 Weltmeister wurde, und das Siegerrad von 1932. Bei dem 1927er Modell weist der Bibliothekar mich auf die Holzfelgen hin. Das Holz federte die Stöße der unbefestigten Straßen besser ab als der spätere Stahl, hatte aber den großen Nachteil, dass es zerbrechlich war.
Binda kam 1902 in Cittiglio zur Welt und wuchs im Kreise einer großen Familie auf, mit drei Brüdern und sieben Schwestern. Um der Armut zu entkommen, ging er mit siebzehn zusammen mit einem Bruder nach Nizza, wo er im Dienste eines Onkels als Stuckateur arbeitete. Seine gesamte Freizeit widmete er allerdings dem Training und den Radrennen, von denen es an der Französischen Rivièra damals schon eine ganze Menge gab. 1922 gab er seinen Brotberuf auf, umsich ganz dem Radsport zu widmen, und am 4. März 1923 gelang ihm beim Halbklassiker Nizza–Mont Chauve der definitive Durchbruch. Er ließ in den Alpen nicht nur Costante Girardengo, sondern auch Gaetano Belloni hinter sich, die seinerzeit beide große Radsporthelden waren. »LE POUSSIN A BATTU LES AIGLES«, titelte eine Zeitung, das Küken hat die Adler besiegt.
1924 brach Binda mit seinem Rad von Nizza nach Mailand auf, um an der Lombardei-Rundfahrt teilzunehmen: Er wollte die fünfhundert Lira gewinnen, die für jenen Fahrer bereitlagen, der als Erster oben auf dem Ghisallo ankäme. Er heimste nicht nur diesen Bonus ein, sondern ging am Ende auch noch als Vierter aus dem Rennen und bekam einen Vertrag bei Legnano angeboten, der Mannschaft von Eberardo Pavesi.
Binda erwies sich als wahrer fuoriclasse, als Radsport-Ausnahmetalent, und er tat, was er konnte, um seine gute Form zu bewahren. Im Herbst 1924 kehrte er nach Cittiglio zurück, wo er wieder bei seiner Mutter und seiner Schwester einzog, in sein Geburtshaus in der Via Nazario Sauro. Er rauchte nicht, führte gewissenhaft Buch über seine Ernährung und ging Frauen aus dem Weg, denn die hätten ihn schließlich nur abgelenkt. Und seit ihm jemand erzählt hatte, dass man, wenn man auf Zehenspitzen eine Treppe hinaufging, bestimmte Muskeln trainierte, wodurch man noch kräftiger in die Pedale treten konnte, legte er bei seinen Trainingsfahrten regelmäßig einen Zwischenstopp in dem nahe gelegenen kleinen Dorf Brenta ein. Die lange Treppe, die dort von der Via Leopardi zu der höher gelegenen Chiesa dei Santi Quirico e Giulitta führt, bot ihm eine ideale Trainingsmöglichkeit.
1925 gewann Binda seinen ersten Giro d’Italia: Ohne jede Hilfe von seinen Mannschaftskollegen hielt er Girardengo auf fast fünf Minuten Rückstand. Ein Jahr später sicherte er sich den Sieg bei einer stürmischen Ausgabe der Lombardei-Rundfahrt – angeblich dank sechs Spiegeleiern vor dem Start und weiteren zweiundzwanzig rohen Eiern, die er während der Fahrt auf dem Lenker aufgeschlagen und verschlungen haben soll. Jedenfalls kam er mit gut einer halben Stunde Vorsprung vor Ottavio Bottecchia ins Ziel. Der Nummer zwei, Antonio Pegrini, war er immer noch gut 29 Minuten voraus. 1927 gewann Binda zwölf der fünfzehn Giro-Etappen, ein bis heute ungebrochener Rekord.
Als er den Giro auch 1928 und 1929 spielerisch gewann, waren die Organisatoren es satt. Bindas Übermacht war für die anderen Teilnehmer entmutigend und für die Zuschauer unattraktiv. Es gab keinen Kampf und kein Spektakel mehr: Dass der Sieger so klar vorhersehbar war, würde, so fürchtete man, eines Tages noch den Tod dieser schönen Rundfahrt bedeuten. Also beschlossen sie, Binda dafür zu bezahlen, 1930 nicht wieder anzutreten. Sie boten ihm 22.500 Lira, was dem Preisgeld des Gewinners zuzüglich der Prämien für einige Etappensiege entsprach. Binda nahm das Geld an und fuhr 1930 stattdessen die Tour de France, wo er zwei Etappen nacheinander gewann, nach der zehnten jedoch wegen eines Sturzes aufgeben musste.
Insgesamt wurde Binda drei Mal Weltmeister, 1927, 1930 und 1932. 1933 gewann er seinen fünften Giro und auch die in jenem Jahr erstmals eingeführte Bergwertung sowie das erste Zeitfahren in der Geschichte des Giro, von Bologna nach Ferrara. Insgesamt verbuchte er während seiner Radsportkarriere 41 Giro-Etappensiege, ein Rekord, der ihm erst 2003 von Sprintstar Mario Cipollini abspenstig gemacht wurde.
Nach dem Ende seiner Profikarriere trat Binda als Coach der italienischen Nationalmannschaft an. Seiner ältesten Tochter Lauretta zufolge hat er später noch oft von seiner Zeit als commissario tecnico erzählt. »Er sagte immer, er hätte mehr Befriedigung aus seiner Arbeit als Coach geschöpft denn aus seinen eigenen Siegen als Rennfahrer. Die diplomatischen und psychologischen Aspekte dieser Arbeit gefielen ihm sehr, und er liebte die Herausforderung, die vielen Top-Fahrer, die natürlich alle ihren eigenen Kopf hatten, zu einem Team zusammenzuschweißen. Wenn er seine Arbeit gut machte, errang das Team Siege, und das fand er großartig. Die Leidenschaft dafür war so tief in ihm verwurzelt, dass er manchmal mitten in der Nacht aufschreckte, weil er geträumt hatte, Coppi hätte einen Platten.«
Was die Frauen anging, holte Binda die verlorene Zeit nach dem Ende seiner aktiven Radsportkarriere mehr als gründlich nach. Lange Zeit genoss er sein Junggesellendasein in vollen Zügen, ging von einer Frau zur anderen. Bis schließlich der Moment für ihn gekommen war zu heiraten, eine Familie zu gründen – zu diesem Zeitpunkt war er bereits fünfzig. Eine junge Frau und dann zwei Töchter, das war sein Plan, und so kam es auch. 1952 heiratete er die 23-jährige Lina Ambrosetti, ein Jahr später kam Lauretta zur Welt und 1955 dann Marta, seine zweite Tochter. Lina Ambrosetti ist mittlerweile 86 Jahre alt. Ihr Onkel und ihr Vater waren Fans von Binda gewesen und hatten sich mit ihm angefreundet. »Meine Familie hatte eine Tankstelle in Varese«, erzählt sie. »Ich habe eine Ausbildung als Lehrerin gemacht, dann aber nie in dem Beruf gearbeitet, weil ich meinem Vater im Büro helfen musste. Ich stand oft hinter der Kasse. Alfredo wohnte in Cittiglio, besaß aber auch ein Haus in Mailand, wo er immer von Dienstag bis Freitag hinfuhr. Zwei Mal in der Woche kam er bei uns in Varese zum Tanken vorbei, und dann hielten wir immer ein kurzes Schwätzchen. Er war ein schöner, eleganter Mann, kontaktfreudig, klug und geistreich, außerdem wirkte er jünger, als er tatsächlich war. Eines Tages fragte er mich: ›Könnten Sie sich vorstellen, einen Mann wie mich zu heiraten?‹ Und ich entgegnete: ›Sie zu heiraten, wäre eines, jemand anderen als Sie zu heiraten, wäre etwas anderes.‹ Daraufhin hat er das Gespräch mit meinen Eltern gesucht. Sie waren hocherfreut – genau wie ich, denn die Jungs in meinem Alter interessierten mich nicht die Bohne. Und ich hatte Glück, denn trotz des Altersunterschieds sind wir vierunddreißig Jahre zusammen gewesen.«
Bindas Witwe wohnt noch immer in dem Haus in Mailand, in das sie an ihrem Hochzeitstag mit Binda zusammen eingezogen ist. Die Hochzeitszeremonie fand damals in der Kathedrale von Varese statt. »Es war eine Hochzeit, wie man sie heute nur noch bei Fußballern und Filmstars sieht. Der ganze Platz war voller Menschen, und die Presse war vor Ort, um zu berichten. Als ich vom Auto zur Kirche ging, ist mein Kleid gerissen, weil jemand mit dem Fuß draufgetreten war, so voll war es.« Gemeinsam mit ihrem Mann hat Lina die Welt bereist. Alles hat sie gesehen, sogar das Haus von Bob Marley auf Jamaika. Und obwohl sie in Mailand wohnten, kamen sie regelmäßig zurück nach Cittiglio. »Für meinen Mann war Cittiglio der schönste Ort der Welt.«
Als der Bibliothekar mit dem Staubwischen fertig ist, bin ich auch durch mit dem Museum, wir begeben uns wieder nach draußen. Auf dem Weg fällt mein Blick noch auf einige Original-Titelseiten der Gazzetta dello Sport aus den zwanziger und dreißiger Jahren. An einigen Stellen sind mit unterschiedlichen Farben einzelne Satzteile unterstrichen. Der Bibliothekar tippt sich an den Kopf. »Sie war wirklich schon ziemlich alt, unsere Freiwillige.« Dann zeigt er mir noch das Gästebuch. Er hat eine frische, weiße Seite aufgeschlagen. »Würden Sie sich hier eintragen? Es kommen nicht viele Besucher hierher, wissen Sie. Sie sind der dritte in diesem Jahr.«