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ОглавлениеLOMBARDEI
INDUNO OLONA
Geburtsort von Luigi Ganna (1883–1957), Maurer und Gewinner des ersten Giro d’Italia 1909.
Wer in einem der Dörfer des äußersten Nordens Italiens zur Welt gekommen ist, eingeklemmt zwischen dem Lago Maggiore im Westen und der Schweizer Grenze im Nordosten, der wird, wenn er sich in internationaler Gesellschaft befindet, wahrscheinlich erzählen, er komme aus Varese. Denn wer nicht selbst in dieser Gegend wohnt, wird von Brenta, Ganna oder Cittiglio noch nie gehört haben. Und von Induno Olona erst recht nicht.
Kein Wunder. Hier ist auch nichts weiter los. Induno Olona ist ein völlig gesichtsloses Dorf, genauso gesichtslos wie Brenta und Ganna. Ende September ist jenseits der Grenze der erste Schnee gefallen; die weißen Gipfel der Schweizer Alpen glänzen in der Ferne. Von den verschneiten Bergen strömt ein kalter Wind zu den norditalienischen Dörfern hinüber. Die Blätter der Bäume sind noch kaum verfärbt, aber manche pflückt dieser Wind schon mühelos ab und treibt sie vor sich her.
Induno Olona verdankt seinen Namen der Olona, einem Fluss, der gut siebzig Kilometer durch die Lombardei fließt. Dass es das Dorf überhaupt noch gibt, ist der Industrie zu verdanken, die sich in der Umgebung angesiedelt hat. In Induno Olona wohnt man, aber man lebt hier nicht, und genau das sieht man dem Ort auch an.
Mittags gegen halb zwei bilden sich rund um die kleine Grundschule endlose Autoschlangen. In kleinen Grüppchen kommen die Schüler aus dem Gebäude geströmt, erst die kleineren Kinder, dann die größeren. Manche werden am Tor abgeholt, andere machen sich routiniert auf die Suche nach dem Auto, das auf sie wartet.
Auch vor der Sporthalle, schräg gegenüber der Schule, ist alles zugeparkt. Der Palestra Comunale Luigi Ganna ist erst 2007 nach dem Sportler benannt worden, fünfzig Jahre nach seinem Tod. Ganna, der 1909 den damals zum ersten Mal veranstalteten Giro d’Italia gewann, war 1883 in Induno Olona zur Welt gekommen. An der Wand seines Geburtshauses in der Via San Cassano ist eine Plakette angebracht. In der kleinen Sackgasse hausten vor hundert Jahren noch große, arme Familien auf engstem Raum in kleinen Wohnungen. Damals muss es auf der Straße, die heute wie ausgestorben wirkt, von spielenden Kindern nur so gewimmelt haben.
Vor seiner Radsportkarriere arbeitete Ganna als Maurer. Seit seinem siebzehnten Lebensjahr hängte er jeden Morgen eine Tasche mit einem Butterbrot und einer Trinkflasche, in die er mit ein wenig Wein verlängertes Zuckerwasser gefüllt hatte, an den Lenker seines Fahrrads und legte damit die sechzig Kilometer nach Mailand zurück, zu seiner Arbeit. Immer fuhr er mit dem Fahrrad, auch wenn in der Schweiz schon der erste Schnee fiel und ihm auf dem Rückweg der winterliche Alpenwind entgegenwehte, auch wenn der Schnee sich bis nach Italien ausbreitete, über Straßen, die noch nie einen Meter Asphalt gesehen hatten.
Der Palestra Comunale Luigi Ganna sieht grässlich aus, ist aber praktisch. Zum Beispiel befindet sich direkt neben dem ingresso atleti ein Aschenbecher, und wer mit dem Fahrrad kommt, kann es vor der Tür in einem Ständer abstellen. Der Fahrradständer ist komplett leer. Nachdem die letzten Kinder ihre elterlichen Autos gefunden haben, bleibt auch der Parkplatz der Sporthalle verlassen zurück. Ob diese Kinder wohl irgendeine Ahnung haben, wer Luigi Ganna war? Haben sie überhaupt jemals auf einem Fahrrad gesessen?
Zu Gannas Zeiten waren Fahrräder noch etwas relativ Neues. Das erste Straßenrennen, Florenz–Pistoia, fand zwar schon 1870 statt, wurde aber erst 1985 zum zweiten Mal ausgetragen. Die Coppa del Re, die 1897 zum ersten Mal organisiert wurde, war lange Zeit das einzige Rennen auf italienischem Boden, das jedes Jahr stattfand. Erst als Fahrräder nach der Jahrhundertwende billiger und damit für ein breiteres Publikum erschwinglich wurden, stellte man mehrere Rennen auf die Beine.
Dank seiner täglichen Fahrten nach Mailand verfügte Ganna über eine hervorragende Kondition. Außerdem hatte er Talent, wie sich herausstellte. Das bedeutete allerdings nicht, dass er seinen Brotberuf von heute auf morgen an den Nagel hätte hängen können. Nachdem er 1905 bei der Lombardei-Rundfahrt den dritten Platz belegt hatte – ein Ehrenplatz, der ihm achtzehn Lira eintrug –, fuhr er anschließend direkt weiter zu der Baustelle, auf der er damals arbeitete. 1906 und 1907 gewann er dann einige Rennen in seiner Gegend, ein Jahr später wurde er Fünfter bei der Tour de France und verbesserte den Stundenweltrekord. Seinen größten Erfolg feierte er schließlich 1909. Im März gewann er Mailand–Sanremo, und am Donnerstag, dem 13. Mai, brach er mitten in der Nacht zusammen mit 126 anderen Fahrern vom Piazzale Loreta in Mailand zur ersten Etappe des ersten Giro d’Italia auf. Der unchristlichen Stunde zum Trotz waren Tausende Zuschauer gekommen, um den Fahrern zuzujubeln und ihnen hinterherzuwinken.
Die Etappe von Mailand nach Bologna war 397 Kilometer lang, die schnellsten Fahrer brauchten etwa vierzehn Stunden für die Strecke. Aber die Zeit spielte damals noch keine Rolle, das Klassement wurde einzig und allein nach der Reihenfolge aufgestellt, in der die Teilnehmer ins Ziel kamen, wobei jeder einen Punkt mehr erhielt als der Fahrer vor ihm. Wer am Ende des Giro die wenigsten Punkte hatte, wurde zum Sieger erklärt. In Bologna bekamen die Fahrer zwei Tage Zeit, sich von der ersten Etappe auszuruhen. Die Gazzetta dello Sport erschien nämlich immer montags, mittwochs und freitags, also mussten die Etappen jeweils am Sonntag, Dienstag und Donnerstag stattfinden.
Nach den ersten beiden Etappen hatte Ganna sich die Führung im Gesamtklassement erobert, aber bei der dritten, von Chieti nach Neapel, hatte er bereits vier Reifendefekte hinter sich, als er den ersten Kontrollposten in Isernia erreichte. Mit einem Rückstand von einer Dreiviertelstunde kam er in Neapel an und musste die Führung Carlo Galetti überlassen. Schon einen Tag später holte er sich jedoch den ersten Platz in der Gesamtwertung zurück: Er gewann die Etappe nach Rom. Eine höllische Strecke, die Straßen zwischen Neapel und Rom waren dermaßen ramponiert, dass man dort eigentlich überhaupt nicht Rad fahren konnte. Auch die fünfte Etappe nach Florenz konnte Ganna für sich entscheiden, einem platten Reifen zehn Kilometer vor der Ziellinie zum Trotz. Bei der sechsten Etappe nach Genua wurde er Dritter, und auf der siebten, über 357 Kilometer von Genua nach Turin, verbuchte er seinen dritten Etappensieg.
Die achte und letzte Etappe nach Mailand führte lediglich über 206 Kilometer, und die Strecke war flach. Ganna hatte drei Punkte Vorsprung vor Galetti und zehn vor Giovanni Rossignoli, es konnte also gefährlich für ihn werden. Wenn bis zum Finale eine große Gruppe übrig blieb, musste er, um seinen Vorsprung vor Galetti zu behaupten, einen tadellosen Sprint hinlegen. Aber schon achtzig Kilometer vor der Ziellinie wurde es spannend. Ganna lag in der Spitzengruppe ganz vorn, als er abermals einen Platten bekam. Kaum hatten Galetti und Rossignoli gemerkt, dass ihr wichtigster Konkurrent außer Gefecht gesetzt war, gingen sie zum Angriff über. Ganna wechselte den Reifen und nahm sofort wieder die Verfolgung seiner Konkurrenten auf. Aber gerade als die Spitzenfahrer endlich wieder in Sicht kamen, hatte er erneut einen Platten. Und schon wieder stand Ganna am Straßenrand und dokterte an seinem Rad herum. Diesmal gewannen die Fahrer an der Spitze so viel Vorsprung, dass Ganna sein Rosa Trikot schon in unerreichbarer Ferne verschwinden sah. Bis ihm in Gallarate ein rettender Engel zu Hilfe kam, in der Gestalt eines pflichtgetreuen Eisenbahnbeamten an einem Bahnübergang. Die Durchfahrt eines Schnellzugs stand unmittelbar bevor, und der Beamte untersagte es den Fahrern der Spitzengruppe, über die geschlossenen Schranken zu klettern. So konnte Ganna seinen Rückstand wieder aufholen.
In Mailand angekommen, gewann Dario Beni den Zielsprint, Galetti kam als Zweiter über die Ziellinie und Ganna als Dritter, womit er der erste Sieger des Giro d’Italia wurde. Die neuen italienischen Volkshelden auf dem Fahrrad – die neunundvierzig Männer, die bei diesem Giro bis zum Ende durchgehalten hatten – wurden in Mailand von hundertfünfzigtausend berauschten Zuschauern in Empfang genommen und bejubelt.
Dank seiner Erfolge konnte Ganna ein Haus und eine kleine Werkstatt kaufen, in der er anfing, Fahrräder zu bauen. Auf einem dieser Räder gewann er 1920 in Mailand den Gran Fondo La Seicento, einen Radmarathon über eine Strecke von 600 Kilometern. Das erwies sich als hervorragende Werbung für seine Fahrradmarke, so dass die Firma schon bald immer größer wurde. Unermüdlich widmete sich Ganna weiter der Entwicklung gleichermaßen robuster wie schöner Räder, die zugleich für breite Schichten bezahlbar sein sollten. Ab 1914 nahm er gar nicht mehr an Rennen teil, um sich ausschließlich seiner eigenen Fahrradmarke und dem ersten Ganna-Radrennstall widmen zu können. 1951 gewann er ein weiteres Mal den Giro d’Italia. Genauer gesagt: Fiorenzo Magni gewann ihn, auf einem Ganna-Rad.
Außer der hässlichen Sporthalle und der Plakette in der Via San Cassano erinnert in Induno Olona nichts an den großen Champion des Dorfes. Für den allerersten Sieger des Giro hätte man doch zumindest ein Denkmal auf dem Marktplatz erwartet, das jedes Jahr zum Start des Giro von zwei hübschen Podium-Mädchen geküsst wird – die aus dem Ort stammen und für diese ehrenvolle Aufgabe natürlich zuvor einen elfmonatigen Auswahlprozess durchlaufen mussten. Einen glänzenden Ganna aus Gold mit silbernem Fahrrad müsste Induno Olona aufstellen und ihm während des Giros täglich einen frischen Blumenkranz um den Hals hängen. Und der Bürgermeister könnte beim jährlichen Ganna-Tag im Mai, dem großen Festtag von Induno Olona, vor diesem Denkmal stehen und für die Kinder des Dorfes eine mitreißende Rede halten, über die atemberaubenden Abenteuer Gannas beim ersten Giro d’Italia. Auf dass die Jugend davon durchdrungen werde, dass man, wenn man den kalten Alpenwind nicht fürchtet, mit dem Fahrrad viel weiter kommt als mit dem Auto. Und nach ein paar Jahren kämen bestimmt ein paar Kinder auf die Idee, selbst ein Fahrradrennen zu organisieren, um Geld für ein zweites Denkmal zu sammeln. Ein etwas kleineres, nicht aus Gold, sondern nur aus Bronze, für den Eisenbahnbeamten aus Gallarate. Die Denkmäler von Luigi Ganna und dem Eisenbahnbeamten würden Induno Olona so etwas wie eine Seele zurückgeben, das Dorf wieder zum Leben erwecken. Woraufhin das gut zehn Kilometer entfernte verschlafene Örtchen Ganna plötzlich aufwachen und neidisch darauf hinweisen würde, dass doch eigentlich nicht Induno Olona, sondern das nichtssagende Ganna nach dem großen Radrennfahrer benannt sei, dass der wahre Ort des Helden also hier sei und nicht dort. Aber das würde niemand mehr glauben, nachdem Induno Olona zu einem Wallfahrtsort geworden wäre, zum lombardischen Lourdes, wo Pilger, ohne mit der Wimper zu zucken, astronomische Beträge hinblätterten, nur um eine Souvenir-Trinkflasche mit Zuckerwasser zu erstehen, verlängert mit einem Schuss Rotwein.