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Fünf Tage zuvor, Tag eins: Rasterfahndung

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„Club Punta Arabi“ prangte in retro-90er Neongrün auf dem gelben Bus, der etwa 50 Meter rechts von der Ankunftshalle des Flughafen Eivissa stand und stark an einen ausrangierten US-Schulbus erinnerte. Die Farben der Buchstaben stachen so grell hervor, dass sie wahrscheinlich auch ein an grauem Star erkrankter Greis in einem Seesturm der Stärke zehn auf 100 Meter hätte entziffern können. Komplettiert wurde die Unauffälligkeit in Gelb von blinkenden Lichterketten in den Seitenfenstern und bunten Papierschlangen am oberen Rand des Fahrergehäuses. Als ich mir Hannes' Zustand vor Augen führte, begriff ich den Sinn, der hinter diesem fast schon karnevalesken Auftritt steckte: Offenbar kamen nicht wenige Punta-Gäste dermaßen verstrahlt auf der Insel an, so dass sie mehr als deutliche Wegweiser benötigten, um nicht in das falsche Transportmittel zu steigen.

Glücklicherweise nahmen wir Hannes die Navigation ab. Er schnarchte ziemlich laut, als wir ihn mitsamt Gepäck unsanft über die Fahrbahn schoben. Über die „topes“, die verkehrsberuhigenden Bodenwellen auf der Straße, wuchteten wir ihn immer mit ein bisschen Anlauf, so dass Hannes auf unseren Koffern hüpfte. Einige Passanten zeigten mit dem Finger auf unseren Wagen. Zurecht, wie ich fand. Wir waren noch nicht einmal im Club angekommen, und Hannes machte schon schlapp.

„Das kann so nicht weitergehen.“ Kopfschüttelnd wendete ich mich Pascal zu. Er nickte. Ich drehte mich um und bedeutete ihm, meinen Rucksack zu öffnen. Pascal zog eine gelbe und eine rote Berentzen-Flasche heraus, beide halbvoll. Wir schraubten die Deckel ab, prosteten uns zu und tranken.

Nur noch ein „tope“, dann hatte es Hannes zu unserem Bus geschafft. Pablo und Bert schoben unsere Koffer-Schnapsleichen-Pyramide weiter, während Lukas sie immer wieder zur Vorsicht mahnte: „Achtung. Passt doch auf! Wenn der runterfällt.

Das fränkisch-halbkolumbianische Duo grinste. Zeitgleich nahmen sie Anlauf und etwa einen Meter vor der Rampe ließen sie ihr Geschoss los.

„Sssss“, rollten Gepäck und Hannes.

Plötzlich verkeilte sich das vordere, rechte Rad des Wagens und das Gefährt fing auf Höhe des Bremsers an, wild zu rotieren. Nicht einmal das konnte den glückselig schlafenden Hannes aufwecken. Gefährlich neigte sich der Wagen, ich sah ihn schon kippen. In diesem Moment befreite sich das Kugellager des blockierten Rades, der Wagen rollte schwungvoll auf den Bremser zu, hopste mit Karacho darüber und kam schließlich seitlich vor dem Bus zum Stehen. Ohne Hannes allerdings. Der Sprung über den Bremser hatte ihn abgeworfen und er war mit dem Rücken auf den Asphalt geknallt. Bert und Pablo lachten, Lukas, Pascal und ich rannten zu der reglosen Schnapsleiche.

Als wir ihn von oben anblickten, schlug Hannes endlich die Augen auf. „Hat jemand meinen Koffer?“, lallte er. Ich grinste erleichtert. Als die vor dem Bus Wartenden feststellten, dass die Einlage folgenlos geblieben war, spendeten die gut zehn Leute spontanen Szenenapplaus.

Es ist doch immer wieder interessant, wie sehr sich das Verhalten von Deutschen im Ausland von ihrem Verhalten zu Hause unterscheidet. In einer durchschnittlichen teutonischen Kleinstadt wäre die Reaktion der Wartenden auf Hannes' Sturz wahrscheinlich wie folgt ausgefallen: Einer hätte sich um den möglicherweise Verletzten gekümmert, zwei hätten zeitgleich Krankenwagen, Feuerwehr, ADAC und Tierheim angerufen – möglicherweise in umgekehrter Reihenfolge – und die anderen sieben wären wutentbrannt auf die offensichtlichen Verursacher des Unfalls, also uns, losgegangen. Dieser Verteilungsschlüssel gilt im Übrigen auch für das deutschsprachige Ausland, also die Schweiz, Österreich, Luxemburg, Liechtenstein und Südtirol.

Ausnahmen bilden hierbei Länder bzw. Orte, in denen deutsch zwar nicht die Amtssprache ist, aber als öffentliche Sprache in Bars, Restaurants und Nachtclubs akzeptiert wird: Mallorca, Lloret de Mar, Jesolo, der bulgarische Goldstrand, Side und eben Ibiza. Ein Hoch auf den Neo-Imperialismus, der nicht mehr in Spitzhaube und Flottillenadmirälen, sondern in zu engen Bikinis, Crocs in Kotzgrün und Batiktüchern für viel zu breite Hüften, die nach dem Urlaub völlig zurecht ein trauriges Dasein in der dunkelsten Ecke des Kleiderschranks fristen, daherkommt. In eben jenen Provinzen handeln deutsche Touristen in solchen Situationen grundsätzlich entgegen ihres herkömmlichen Verhaltens. Genauso, wie sie entgegen ihres herkömmlichen Verhaltens an der Theke im Urlaub auch immer noch einen bestellen, obwohl der Kragen schon bis zur Halsfalte voll ist. Gott segne Michail Gorbatschow, die Ostblocköffnung und das Verhalten russischer Touristen im Ausland, sonst gäbe es bis auf die Engländer kein Volk, das den Durchschnittsdeutschen auf Reisen in Sachen Niveaulimbo unterbieten würde.

Hinter uns klackte es. Und meine Vermutung, dass hinter diesem Klacken eine gutaussehende junge Frau in hohen Schuhen steckte, bestätigte sich. Anerkennend nickte ich einer hübschen Anfang 20-Jährigen in einem luftigen Sommerkleid zu. Beim Vorbeilaufen warf sie uns ein Lächeln zu, dessen Wirkung ihr sehr bewusst zu sein schien. Ich beobachtete ebenso wie meine Freunde mit offenem Mund, wie sie sich zu einer etwa gleichaltrigen Schwarzhaarigen stellte, die das Wort Durchschnitt in ihren ausgewaschenen Blue-Jeans, ihrem schwarzen, kaum ausgeschnittenem Top und ihren weißen Sneakern ähnlich perfekt verkörperte wie Bayer 04 Leverkusen. Bingo! Offensichtlich gehörte das ungleiche Duo zu den glücklichen Menschen, die ihren Urlaub mit uns verbringen durften.

Als Pascal sich dieser Tatsache gewahr wurde, kniff er seine Augen zusammen. Angestrengt musterte er die Hochbehackte. In seinem Vorderhirnlappen schien eine Art Rasterfahndung abzulaufen:

Hohe Schuhe – Check!

Gute Figur – Check!

Langes, wallendes Haar – Check!

Er jokerte: „Das wird ja immer besser“, schnappte sich seinen Trolley vom Boden und schlurfte auf den Bus zu.

Ich half Hannes hoch. Die halbe Stunde Schlaf hatte ihm offenbar gutgetan, denn auch er schnappte sich seine Tasche und folgte Pascal mit relativ geraden Schritten. Während der Fahrer – ein Rastafari in Baggypants – unser Gepäck im Bauch des gelben 80er-Jahre-Relikts verstaute, stiegen wir ein. Pascal lief vorneweg und hatte schnell erspäht, dass die letzte Reihe noch frei war. Ein dummer Zufall wollte es so, dass die Hochbehackte und ihre Freundin in der vorletzten Reihe Platz genommen hatten. Pablo, Lukas, Pascal und ich ergatterten den Fünfersitz. Bert und Hannes setzten sich links vor uns neben die beiden Mädels.

Ich musterte Pascal. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich ihn für einen Triebtäter gehalten. Das irre Jokergrinsen umspielte seine Mundwinkel. Die Haare standen nach Taxifahrt und Flug skurril in verschiedene Richtungen vom Kopf ab. Am schlimmsten aber waren seine Augen: Schmale Schlitze, die sich nur auf die Hochbehackte richteten, mit vor Übermüdung geweiteten Pupillen.

Unser Rasta-Fahrer ließ das Bus-Mikro knacken und schmetterte stark akzentuiert: „So, nun wir sind vollzahlig! Auf gaht in de Club Punta Arabi!“

„Zicke zacke, zicke zacke“, skandierte ein glatzköpfiger Endzwanziger im Mittelteil des Busses.

„Hoi, hoi, hoi!“ Gaben ihm die weiteren etwa 15 Insassen des Busses zurück. Der Motor rüttelte los und unter dem Jubel der Reisegäste verließ der Bus den Parkplatz des Aeropuerto Eivissa.

Pascal rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her und beobachtete die Reihe vor uns. Auch ich musterte die Hochbehackte. Sie hatte ein feines Gesicht, das ein bisschen an eine Maus erinnerte aber dennoch sehr hübsch war. Umrahmt wurde es von bräunlich-rotem, leicht gelockten Haar, das ihr etwa bis zum Brustansatz reichte.

Schließlich beugte sich Pascal vom Mittelsitz der Fünferreihe nach vorne und fragte höflich: „Und, macht ihr auch Urlaub im Club Punta Arabi?“

Vor Scham hätte ich mich am liebsten in den Schaumstoff meines staubigen Sitzes gefressen. Das war mit Abstand die dümmste Variante, ein Gespräch mit der spitznasigen Schönheit zu beginnen. Was sollte sie darauf antworten?

„Ne, wir zertrümmern auf halbem Weg das Fenster mit dem Nothammer, fliehen aus dem Bus und springen die Steilklippen dort drüben runter?“ Oder: „Nein, wir sind zwei brandschatzende Männermörderinnen, die diesen Bus nach der übernächsten Linkskurve kidnappen werden, eure Wertsachen an uns nehmen und euren Bus und euch dann mitsamt eurem Fahrer und eurem armseligen Saufen-Ficken-Party-Ticket über die Klippen in die See laufen lassen?“

Stattdessen schenkte ihm das zarte Pflänzchen ein Lächeln und hauchte: „Na klar. Ich bin übrigens Kerstin aus Regensburg.“

Sie streckte die Hand aus. Pascal griff sie, zog Kerstin zu sich, gab ihr Küsschen links-Küsschen rechts und sagte: „Pascal. Freut mich.“

Ich war fassungslos, wollte aber nicht unhöflich oder neidisch erscheinen. Also stellte auch ich mich vor. „Toni“, brummte ich, was Kerstin nickend erwiderte. Um mein Selbstbewusstsein zu stärken, beugte ich mich zu der Schwarzhaarigen. Da ja nun das Eis gebrochen war, würde ich leichtes Spiel haben. Dümmlich winkte ich: „Und wer bist du?“

Bitterböse funkelte es mir aus kleinen, fast schwarzen Augen entgegen. Keine Antwort. Hallo? „Also, ich bin Toni“, versuchte ich, die Situation zu retten.

Schwarzkopf zuckte nur die Schultern: „Und ich durstig!“

„Dem können wir Abhilfe schaffen.“ Ich beugte mich zurück und zog die Berentzen-Flasche hervor. Bert und Lukas, deren Gespräch sich offenbar um Fußball drehte, waren bereits wieder fleißig am Trinken. Ich rief: „Prost“, und schon stießen wir an und ließen den lauwarmen Hirntod auf Raten kreisen, so dass auch Kerstin und Tina, wie ich kurz nach dem ersten Schluck knurrend von ihr erfuhr, etwas von unserem Spontankauf abbekamen.

Drei Grüppchen hatten sich im hinteren Teil des Busses gebildet. Pascal und Kerstin, deren Gespräch mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit im Bett enden würde; Lukas, Hannes und Bert, deren Gespräch sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die komplette Fahrt um Fußball drehen würde; und Tina, Pablo und ich – tja, unser Gespräch drehte sich um totale Nebensächlichkeiten. Das Wetter, das Alter des Busses, das Essen im Flieger. Pablo und ich schafften es in der fast eineinhalbstündigen Busfahrt nicht, Tina auch nur an den Rand einer sexuell aufgeladenen Konversation zu bringen. Mission failed. Immerhin war es uns gelungen, auf dem Weg in den Club sämtliche Berentzen-Vorräte zu vernichten. Mit Tinas Hilfe, wohlgemerkt. Ihre halblangen, schwarzen Haare umspielten nun ein glasiges Paar Augen.

Der Check-In im Club Punta Arabi verlief unspektakulär. Pablo, Lukas und ich ergatterten Zimmer 117. Allerdings nannten die Arabianer ihre Behausungen „Bungalows“. Ob das in irgendeiner Beziehung zu Silvio Berlusconi und dessen Bunga-Bunga-Politik steht, ist nicht überliefert. Wir verabredeten uns mit Tina und Kerstin für 16 Uhr am Strand, weshalb noch genug Zeit blieb, Bungalows und Anlage zu inspizieren.

Schon nach zwei Minuten Fußweg auf einem schmalen, betonierten Pfad, der sich an einem Hügel aufwärts schlängelte und von allerlei Palmen und mediterranem Gesträuch gesäumt war, erreichten wir die 117. Da Pascal, Bert und Hannes direkt um die Ecke in Bungalow 119 wohnten, trennte sich unsere Gruppe. Nachdem Pablo aufgeschlossen hatte, warf ich stöhnend meine schwere Reisetasche auf den Boden und mich auf das Bett rechts neben der Eingangstür. Ich ließ den Blick kreisen. Unser Bungalow verdiente das Prädikat Mittelklasse. Die nackte Wand war lehmig-rot, der geflieste Boden im gleichen Ton gehalten. Das Bad, das man nicht abschließen konnte, war zwar nicht geräumig, doch es hatte eine funktionierende Dusche und Toilette, wie Lukas, der das sofort überprüft hatte, mit einem Kopfnicken feststellte.

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