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Kapitel 7

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Frankfurt am Main, Deutschland

Ans Bett gefesselt, schaute Sascha ununterbrochen aus dem Fenster. Nachdem seine Nachbarin gegangen war, hatte sich der sonnige Tag verflüchtigt und seinen Platz einem düsteren Herbstabend überlassen. Der Himmel war in dichte graue Wolken gehüllt, hatte die Stadt mit seinen nassen Umarmungen eingefangen und überschüttete sie großzügig mit sprühenden Wasserfällen.

Manchmal verstärkte der Regen sich, dann begannen die wütenden Tropfen an die Scheiben zu klopfen: ihre Rache dafür, dass es auf der anderen Seite des transparenten, ja unsichtbaren Hindernisses trocken, warm und hell war.

Die Zeit bis zum nächsten Besuch verbrachte Sascha mit Gedanken über das zurückliegende Gespräch. Die Geschichte über den offenbaren Rückzug der tödlichen Krankheit von Andrea Kantor traf auf die pragmatische Vernunft des jungen Mannes. Er kannte seine Nachbarin mittlerweile schon ein halbes Jahr und war überzeugt, dass sie eine ehrliche und offene Person war. Nach einigen Treffen auf der grünen Terrasse und ihren offenherzigen Gesprächen hatte er Grund genug, ihr zu vertrauen. Anderseits glaubte Sascha nicht an Wunder. Märchen hatte er kaum gelesen, fantasierende Filme ignorierte er, auf die Existenz eines Gottes hatte er noch nie einen Gedanken verschwendet. Die Geschichte über die seiner Ansicht nach sehr merkwürdige Genesung ließ ihm keine Ruhe.

Auch die „auflebenden“ Portraits, die sein Adoptivvater einst gemalt und dann in seinem Museum des Gewissens ausgestellt hatte, stellten für Sascha keinen Widerspruch zu seiner Vernunft dar. Das Gewissen blieb für ihn eine Kehrseite des Lebens fremder Menschen. Es kam auf ungewisse Weise aus dem Jenseits, aber ein anderes Interesse als ein geschäftliches hatte es bislang nicht bei ihm geweckt. Von den Silhouetten des Gewissen, die sich auf den Portraits im Museum seines Vaters zeigten, wussten außer ihm und seinem Vater Anton nur die Dargestellten. Der junge Sascha war mit diesem Wissen großgeworden, daher erachtete er die Geschehnisse auf den väterlichen Gemälden nicht als übernatürliche Phänomene.

Er war sie gewohnt wie ein Brötchen morgens zum Frühstück.

Wie gut polierte Schuhe.

Wie ein frisches Taschentuch in der Tasche.

Das Gewissen aus dem Jenseits war wie ein Beiwerk des Lebens.

Saschas Gedanken blieben noch eine Weile bei den Portraits seines Vaters hängen.

Sie waren von blutigen Tränen überdeckt, ihre Rahmen krümmten sich vor Schmerzensschreien, hässliche, in Blut getauchte Finger streckten sich aus den Leinwänden hervor – die Sünden der Dargestellten, ihr Gewissen fand dort einen Spiegel. All diese Ereignisse überraschten Sascha jedoch nicht.

Wer unter einem Berg von Schutt lebt, entdeckt an der Welt keine Unordnung.

Den Zauber in den Handlungen fremder Menschen Hände sieht nur ein Außenstehender.

Ein gesunder Mensch glaubt schwerlich an Krankheiten.

Sascha Glebow wusste von den lebendigen Portraits, aber diese Erscheinungen waren für ihn die Normalität.

Nun, um ehrlich zu bleiben, fragte er sich von Zeit zu Zeit schon, ober er nicht auch selbst ein vom Vater gemaltes Portrait haben wolle, doch die Antwort darauf kam immer recht schnell: nein. Zwar fühlte er keine besonders sträflichen Vergehen in seinem Hintergrund, aber ein unnötiges Risiko wollte er auch nicht eingehen.

Das Gewissen musste ein intimeres Geheimnis bleiben als Sex oder gar die Geburt eines Kindes.

Der Akt der Liebe stellte sich heutzutage als ein profitables Geschäft dar: große Bildschirme und Videos betonten in abstoßenden Bildern eine mechanische, gefühllose Form von Sex.

Und auch die Geburt eines Kindes war seit längerer Zeit nicht mehr mit einem großen Geheimnis verbunden, sondern mit weit auseinandergehaltenen Beinen und einer hässlichen Vagina, die ein Stück schreienden Fleisches ausspie ...

Der Mensch hatte die Essenz seines großen Wesens verführt und war ihm mit Verachtung begegnet.

Er hatte sie so pervers offenbart, dass sie nicht einmal für ihn selbst interessant blieb.

Das Gewissen war bislang das Einzige, das noch nicht zum Verkauf angepriesen wurde.

Da es wirklich ein Rätsel war.

Und jeder war frei, dieses Rätsel allein zu lösen.

Von Zeit zu Zeit erlaubte sich Sascha Überlegungen wie diese. Sie erwiesen sich als gute Orientierung seines Plans einer eigenen Akademie der Genies.

Hieran war nichts Persönliches.

Es war nur sein Job.

Nur sein Geschäft.

Andrea Kantor kam, wie versprochen, am nächsten Nachmittag wieder. Auch heute brachte sie einen angenehmen neuen Duft – sie roch nach Regen und frischer Luft – in das sterile Krankenzimmer. Sie zog ihren nassen Mantel aus und hängte ihn an den Haken am Eingang. Ihre neue, leuchtend-gelbe Strickjacke erschien Sascha wie ein Sonnenstrahl, der zufällig in das weiße Zimmer fiel. Dieses Bild war so wirklich, dass Sascha seinen Kopf schüttelte, um die Vision loszuwerden.

Mit schnellen Schritten ging Andrea Kantor zum Bett, beugte sich vor und legte ihre Wange kurz an Saschas. Von ihrem angenehmen Duft eingehüllt, schloss Sascha für einen Augenblick die Augen und hielt den Atem an, um den Geruch so lange wie möglich bei sich zu behalten.

„Ich hoffe, dein Wohlbefinden heute ist besser als gestern, vorgestern und vor einer Woche“, sagte munter seine Besucherin. Gleichzeitig holte sie aus ihrer Tasche zwei duftende Mandarinen und einen Pelzhamster mit lustigem Gesicht, angesichts dessen Sascha erschrocken die Augen aufriss.

„Es geht mir besser. Danke für die Geschenke! Aber ich bin leider kein fünfjähriger Junge mehr und spiele auch nicht mehr mit Plüschteddys“, antwortete Sascha kühl, grinste dann aber.

„Das ist kein Teddybär, sondern ein sprechender Hamster. Ich dachte, dass du dich hier allein vielleicht langweilst und manchmal ein wenig Spaß im Gespräch haben könntest.“

Andrea Kantor legte einen Hebel an dem Hamster um und sagte zu dem Spielzeug:

„Guten Morgen!“

„Guten Morgen!“, reagierte das Tierchen sofort mit lustiger Stimme und kicherte.

„Wie geht es dir?“, folgte die nächste Frage.

„Wie geht es dir?“, wiederholte sich die Frage.

„Sehr gut!“ Sie hatte noch keine Zeit zu lächeln, da retournierte das Tierchen schon das „Sehr gut“ mit einem schelmischen Lachen.

Kantor nahm den säuerlichen Gesichtsausdruck des Patienten wahr, schaltete das Spielzeug ab, stellte es auf den Nachttisch und setzte sich neben das Bett.

„Sascha, sag mir, wo sind deine Gedanken? Haben die Ärzte dir etwas Neues mitgeteilt?“

„Nichts Neues haben sie mir gesagt.“ Die Realität, schmerzhaft ans Bett gefesselt zu sein, bahnte sich erneut ihren Weg in Saschas Bewusstsein. „Ich kann nach Hause entlassen werden, wenn meine Schnittverletzungen geheilt sind und mein Kopf sich wieder von der Gehirnerschütterung erholt hat. Sie wissen aber nicht, was ich zu Hause weiter machen sollte.

Mich aus dem Zimmer auf den Balkon und wieder zurückrollen?

Was wird mit meinem Projekt in Deutschland?

Mit meiner Arbeit in Russland?

Wie kann ich mich den Augen meiner Eltern zeigen?

Und meiner Freunde?

Ob sie einen verkrüppelten Freund wie mich brauchen?

Ganz zu schweigen von den Frauen.

Keine von ihnen wird ihr Leben mit mir verbringen wollen.

Soll ich als einsamer Wolf leben?

Mein Vater wird mich als Verlierer betrachten. Ich will das alles gar nicht ...“

Eine beunruhigende Stille hing über dem Zimmer. Der junge Mann fühlte, dass er mit seinen Problemen einen im Grunde fremden Menschen belastete, aber er konnte nicht aufhören. Er musste seine Wut über den Unfall, seine Unzufriedenheit mit den Ärzten, die ihn so hilflos machte, und die Sorgen über seine Geschäfte einfach loswerden. Das Entscheidende aber war, dass er unter der Folter der Angst feststeckte, die jede Zelle seines Körpers ausfüllte.

Der Angst, nicht leben zu können wie bisher.

Der Angst, als Halbmensch am Leben zu bleiben.

Der Angst vor dem Verlust der normalen Zukunft.

Diese Angst nahm ihm nicht nur seinen Schlaf und seinen Appetit, sondern auch die Möglichkeit, nüchtern über alles nachzudenken. Jeder vernünftige Gedanke, der noch nicht einmal voll ausgebildet war, begann sofort, sich unkontrolliert aufzublähen, so dass die Ausmaße des allgegenwärtigen Schreckens allem seine ursprüngliche Bedeutung nahmen. Sascha war wie im Zustand eines Kindes gefangen, das sich in einem dunklen Wald den Fuß verknickt: überall Schmerz, Verlassenheit, unbekannte verdächtige Geräusche, Ungewissheit und keine Menschenseele.

Was, wenn nicht Angst, lässt sich in solchen Situationen fühlen?

Saschas Gehirn zitterte vor Anspannung.

Der Körper weigerte sich, sich unterzuordnen.

Das Leben hatte das Gleis gewechselt.

Andrea Kantor verstand den Zustand ihres Nachbarn sehr gut. Im Rollstuhl sitzen zu müssen, war nicht die beste Perspektive für einen Mann, der von so vielen Ideen und Energie erfüllt war. Dazu kam, dass er sich in einem fremden Land mit fremden Regeln befand, in dem er keine Verwandte oder Freunde hatte, vor denen er ohne Schande weinen oder loslassen konnte.

Eine traurige Aussicht.

Andrea Kantor verstand jedoch ebenso, dass sich der Mensch nur selber helfen kann. Ihre Aufgabe sah sie darin, Sascha sehr vorsichtig zu einer richtigen Entscheidung zu führen. Indes stellte sie sich dieser schwierigen Herausforderung nicht, weil sie eine berüchtigte Altruistin war. Vielmehr hielt Andrea Kantor es nicht nur für wichtig, sondern obligatorisch, das irgendwann selbst empfangene Gute auch mit Gutem zu beantworten, auch andere in großer Not unterstützen zu müssen.

Natürlich war sie sich nicht sicher, ob ein eigentlich fremder Mann ihre Worte wirklich hören wollte. Doch sie wurde von dem Glauben an ihren Erfolg und das Mitgefühl zu einem Nachbarn angetrieben, der ihrem verstorbenen Sohn so ähnlich sah. Sie hatte schon begriffen, dass ihr Spielzeug, das Sascha eigentlich hätte erheitern sollen, ihn nicht überzeugte. So wechselte sie ihre Taktik erneut.

„Sascha, weißt du, wer die Samurai sind?“ Diese unerwartete Frage weckte Saschas Interesse. Er hob seinen Kopf und schaute in die Augen der Besucherin. Er nickte unsicher, kaum sichtbar. Andrea Kantor erkannte, dass er nicht viel wusste. „Gut. Ich will dir ein wenig über diese japanischen Krieger erzählen und dir ihre Gesetze in Erinnerung bringen. Die Samurai gehören zu einer Kriegsklasse des niederen Adels. Sie sind keine Bauern, sondern eine besondere Kaste von Kriegern, die ihr eigenes Gesetzbuch haben. Das Buch heißt Bushido. Dieses Gesetzbuch beinhaltet die Bedeutung von Gut und Böse, es bestimmt die moralischen Werte des Lebens, also alles, was die Krieger als Allerwichtigstes schätzen. Von Kindheit an wird den Jungen, die Samurai werden möchten, beigebracht, im Blühen der Blumen die Ewigkeit zu sehen ...“

Andrea Kantor blickte Sascha aufmerksam an, der seinen Blick unverwandt an die Decke richtete, und fragte besorgt:

„Wenn dich meine Erzählungen ermüden, kann ich gehen. Du musst es mir nur sagen.“

Die Antwort kam sofort:

„Nein, Andrea. Bitte, gehen Sie nicht. Seit gestern fällt es mir nur etwas schwer, den Kopf zur Seite zu bewegen. Bei der Gymnastik habe ich mir den Hals etwas verstaucht. Das geht bald vorbei, da bin ich sicher. Sprechen Sie weiter, Ihre Geschichten sind sehr interessant.“

„Also …“ Andrea schob fürsorglich das Kissen etwas höher und fuhr fort: „Es ist nicht so einfach, mich gerade jetzt an all das zu erinnern, was ich gelesen habe. Aber einige Regeln der mutigen Krieger habe ich mir mein ganzes Leben lang gemerkt … Eine davon hat sich so tief in meine Seele gesenkt, dass sie mir eines Tages half, zurück ins Leben zu kommen: Denke daran, dass du stets siebenmal ein- und ausatmest, bevor du eine Entscheidung triffst. Mein Junge, Tiefe und Ausmaße unserer Krankheiten und Missgeschicke bestimmen wir selbst.

Durch unsere Haltung ihnen gegenüber.

Wenn wir glauben, dass das Leben im Unglück zu Ende geht, dann wird es zu Ende gehen. Wenn wir aber dieses schwarze Loch überwinden, dann wird das Leben in anderen Farben erstrahlen.

Wir entscheiden selbst, was wir wollen.

Ich habe bei den Samurai eine Vorschrift gefunden, die mit den Worten der christlichen Weisheit fast übereinstimmt. Die Samurai bekräftigen im Bushido, dass ein Mensch immer dazu in der Lage ist, ein Ziel zu erreichen, wenn er Entschlossenheit zeigt.

Legt er Entschlossenheit in ein Wort, vermag sie Himmel und Erde zu erschüttern.

Man muss es so verstehen – es geht um den Glauben an sich selbst. Genauso sagt es auch Christus: ‚Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, so würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Entwurzle dich und verpflanze dich ins Meer! Und er würde euch gehorchen.‘ Du musst einfach an dich selbst glauben, dann schaffst du alles im Leben.

Einfach an sich glauben.

Ist das zu viel?“

„Oh nein, es ist eine Kleinigkeit!“ Saschas Gesicht verzog sich zu einer sarkastischen Grimasse. „Sagen Sie mir aber bitte, wie soll ich an mich glauben, wenn die Ärzte meinen Glauben mit ihrem Urteil getötet haben? Wenn ich den Experten nicht mehr vertrauen kann? Sie sind doch nicht einmal Ärztin ...“

„Das stimmt. Ich bin keine Ärztin. Aber ich bin geheilt und ich möchte auch dir helfen, und so sage ich: vertraue nie dem Urteil eines Arztes. Auch Ärzte machen oft unerträgliche Fehler. Sie sind keine Götter, sondern einfache Menschen.

Und gerade wegen ihrer Fehler müssen wir Patienten zahlen.

Zahlen mit unserer Gesundheit und manchmal auch mit unserem Leben. Traurig, nicht wahr?“ Andrea Kantor seufzte, tätscheltet Saschas Hand und sprach weiter: „Du bist ein kluger und stolzer Junge, Sascha. Eine der Regeln der Samurai besagt: ‚Der Adler sammelt kein Getreide, auch wenn er vor Hunger stirbt.‘

Wähle nicht, was die Anderen dir hinlegen, beschaffe dir dein Wissen selbst.

Du bist ein stolzer Adler und ich glaube an dich.

Glaub auch du an dich.

Hilf dir selbst!“

Andrea sah, wie Tränen über die Wangen des hilflos daliegenden Mannes flossen. Die vollen Tropfen zitterten leicht, kullerten dann aus den Augen, liefen langsam die Wangen hinab und hinterließen auf ihnen glänzend-nasse Spuren. Ohne Hektik holte die Besucherin ein Päckchen mit Taschentüchern aus ihrer Tasche, zog eines heraus und tupfte damit vorsichtig die Nässe vom Gesicht des jungen Mannes. Dann legte sie ihre warme Hand auf Saschas. Sie fühlte, wie er ihre Hand feste drückte.

„Was soll ich denn jetzt tun? Ich will so gerne von diesem verdammten Bett aufstehen! Wo soll ich anfangen, helfen Sie mir! Ich werde alles tun, was Sie sagen. Alles!“

„Ach, lieber Sascha!“ Das Frauenherz zog sich unwillkürlich zusammen: Ihren Nachbarn so weinen zu sehen, war ein sehr trauriger Anblick. „Entschuldige, Sascha, aber leider muss ich nun gehen. Doch wir werden unser Gespräch fortführen. Eine goldene Regel der Samurai will ich dir aber noch mitgeben: Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, dann mache einfach einen Schritt nach vorn.

Ich werde dir beim Aufstehen helfen, aber den ersten Schritt musst du selber machen.“

Eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben.“ (Koh 3,2)

Michele

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