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Kapitel 3

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Frankfurt am Main, Deutschland

Nach dem gemeinsamen Besuch in dem Café als Entschuldigung für das unhöfliche Gebaren seiner Gäste hatten sich Sascha und Frau Kantor rasch näher angefreundet. Sascha war ein erfolgreicher russischer Unternehmer, der bei seinen Besuchen in Deutschland oft lange blieb, während all seine Freunde in Russland lebten. Er liebte seinen neuen Aufenthaltsort für seine Sauberkeit, Ordnung und Gemessenheit. Dennoch verspürte Sascha keine Eile, neue enge Beziehungen in Deutschland einzugehen, abgesehen von Geschäftskollegen und Mitarbeitern, die er hier traf.

Dies betrachtete er als ein Privileg. Andererseits stellte ein unbekanntes Land immer auch eine Gefahr dar, und diese mied Sascha intuitiv.

Seine Nachbarin, die 63-jährige Andrea Kantor, erzählte ihm gerne von ihrem Land, der deutschen Mentalität, den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen. Der junge Mann empfand sofort großes Vertrauen zu der ungewöhnlichen und interessanten Frau. Zudem erinnerte sie ihn äußerlich an seine Mutter Larissa, die er sehr vermisste. Doch erst nach einem unerwarteten Geständnis, das Andrea Kantor ihm eines Tages machte, verstand Sascha, dass ihre Verbindung mehr war als nur eine Freundschaft zwischen Nachbarn.

Ihre Beziehung erwies sich als der Beginn eines großen Rätsels.

„Hätte mein Sohn am Leben bleiben können, sähe er heute ungefähr so aus wie du ...“ An einem düsteren Abend saßen Sascha und Frau Kantor auf der Terrasse, jeder eine warme Decke auf den Beinen liegend. Vor ihnen auf dem Tisch standen Gläser mit Rotwein.

„Ich wusste nicht, dass Sie einen Sohn hatten.“

„Woher auch? Ich spreche ungern darüber. Seit seinem Tod sind viele Jahren vergangen ...“ Frau Kantor griff nach ihrem Glas, trank einen Schluck und fuhr fort: „Mein Ehemann Karl war Diplomingenieur von Beruf. Vor vielen Jahren beendete er sein Studium und gründete in Frankfurt ein kleines Unternehmen, das Teile für Zivilflugzeuge herstellte. Ich habe nie etwas von Technik verstanden, daher habe ich mich nie in seine Geschäfte eingemischt.

Unser Sohn Matteo war genau wie sein Vater. Er absolvierte eine technische Universität und stieg sofort in das Familiengeschäft ein. Nachdem er mit voller, junger Kraft und neuen Ideen dazugekommen war, war dies für unser Unternehmen wie ein zweiter Atem. Mein Matteo begann, genauso wie du, Sascha, Kontakte zu ausländischen Kunden zu knüpfen. Seine Ambitionen steigerten das Potential des Geschäfts um ein Vielfaches. Wir Eltern waren sehr stolz auf unseren talentierten, lieben Jungen ...

Eines Tages fuhren Matteo und ich von einem Verwandtenbesuch zurück. Meine Cousine hatte uns zur Verlobungsfeier ihrer Tochter eingeladen. Mein Mann war zu dieser Zeit krank und zu Hause geblieben, aber die Einladung hatten wir nicht absagen können.

Bis heute weiß ich nicht, was genau diesen Selbstmörder zu seiner Entscheidung gedrängt hat – das regnerische Wetter oder ein privates Drama. Aber dieser Verrückte steuerte plötzlich einfach auf die Gegenfahrbahn. Mein Sohn saß am Steuer und hatte keine Wahl: er konnte weder halten noch ausweichen. Das Auto des Selbstmörders raste wie ein Blitz auf uns zu und riss im nächsten Augenblick einen Teil unseres Mercedes ab, zusammen mit meinem Sohn. Matteo war sofort tot. Ich blieb, zum Glück, am Leben, nur schwer verletzt. Aber ach, was bedeuten die schlimmsten Verletzungen einer Mutter, wenn ihr einziges Kind stirbt ...“

Frau Kantor schwieg und blickte regungslos ins Leere.

„Frau Kantor, wenn es Ihnen zu schwer fällt …“ Auf eine gewisse Weise fühlte sich Sascha als Urheber der grausamen Erinnerungen seiner Nachbarin. Sie aber hörte den entschuldigenden Klang in der Stimme ihres Gesellschafters, drückte sanft seine Hand und schüttelte den Kopf.

„Erinnerungen an die Vergangenheit sind oft traurig, besonders, wenn sie mit einem Verlust verbunden sind. Wenn du aber nicht mehr möchtest ...“

„Doch, ich möchte! Bitte, setzen Sie Ihre Geschichte fort.“

„Sascha, letztes Mal haben wir vereinbart, dass wir ‚Frau Kantor‘ aus unseren Gesprächen raushalten. Wir wollten einander beim Vornamen nennen und duzen. Ich möchte auf keinen Fall wie deine alte Großmutter aussehen und älter wirken, als ich bin.“

„Natürlich, Andrea, nur die Vornamen. Duzen aber kann ich Sie nicht. Ich bin aus Russland und in meinem Land ist es nicht akzeptabel, einen fremden älteren Menschen zu duzen. Ich verspreche aber zu versuchen, mich der deutschen Mentalität anzupassen. Geben Sie mir nur bitte etwas Zeit.“

„Einverstanden. Auch ich muss die Mentalität deines Landes respektieren. Wir werden voneinander lernen.“ Andrea Kantor lächelte sanft, aber ihre Augen blieben dabei traurig. „Nun gut. Nach dem unglücklichen Unfall war es besonders schwer, dass ich mit meinen schwierigen Verletzungen nicht bei der Beerdigung meines Sohnes dabei sein konnte. Traurigerweise erfolgte seine Verabschiedung also ohne mich. Zur selben Zeit fügten die Ärzte die Teile meines Körpers wieder zusammen, was mich lange und fest ans Bett fesselte. Jedem war klar: zum Friedhof fährt man nicht mit dem Krankenwagen ... Nach einem Monat im Krankenhaus begann dann die wochenlange Reha … doch darüber gibt es kaum etwas zu berichten.

Der Tod unseres Sohnes ließ meinen Mann Karl fast vollständig zusammenbrechen. Auf Extremsituationen in der Familie reagieren Männer ganz anders als Frauen. Umso mehr, wenn es um der Tod des einzigen Sohnes und Erben geht. Karl begann, mich für das, was passiert war, zu beschuldigen, obwohl ich nur Beifahrerin gewesen war. Nicht einmal unser Matteo war doch schuld gewesen.

Es war ein Unfall.

Ein bösartiges Schicksal.“

Andrea Kantor schwieg, nahm erneut ihr Glas, trank den Rest des Weins und streckte es Sascha immer noch schweigend entgegen, damit er ihr nachfüllen konnte. Sie hielt das gefüllte Glas in der Hand und stellte es auf dem Tisch ab. Dann zog sie sich die Decke von den Knien bis zu den Schultern hoch und fuhr fort: „Sechs Monate nach dem Unfall wurde mir durch Zufall bewusst, dass mein Mann mich betrog. Den Familienbetrieb vernachlässigte er, Geschäfte und Zahlen erlebten eine Talfahrt. Doch es kam noch schlimmer. Ein junges Mädchen löste das nächste ab. Eines Tages sagte Karl, dass er mich verlassen würde.

Ehrlich gesagt war sein Weggang für mich keine große Überraschung. Ich hatte längst verstanden, dass mein Mann nie mit dem Verlust unseres Sohnes fertig werden würde. Karl liebte ihn viel mehr als mich.

Und er liebte in ihm sich selbst.

Matteo war seine Fortsetzung.

Sein Erfolg.

Weißt du, Sascha, was für eine seltsame Kreatur der Mensch ist?

Er trauert, wenn er Geld verliert oder sein Auto einen Kratzer hat.

Aber er stellt sich ahnungslos bei dem Gedanken, wie schnell die Monate und Jahre seines eigenen Lebens verloren gehen.

Als mein Mann aus unserem Haus ging, beschuldigte er mich nicht nur, für den Tod unseres Sohnes verantwortlich zu sein, sondern auch für den Verlust unserer ausländischen Kunden. Auch hier sah er nur meine Schuld. Ich aber wusste genau: diese Beschuldigungen besaßen kein einziges Gramm eines gesunden Menschenverstandes. Karl versteckte sich dahinter, um sich von seinen eigenen Schmerzen zu entlasten.“

Andrea Kantor schwieg für lange Zeit. Ihr aufmerksamer Zuhörer saß ruhig da und vernahm den leisen Ruf eines Vogels im Garten. Eine frische Abendbrise strich angenehm um seinen Kopf.

Endlich kehrte Andrea Kantor aus ihren Erinnerungen zurück. Sie wandte sich ihrem Gast zu und setzte ihre Geschichte mit einem etwas fröhlicheren Ton fort:

„Ich hatte damals großes Glück, dass Karl bei Verstand blieb, sich nach dreißig Jahren Ehe nicht von mir scheiden zu lassen. Nach mir hatte er zwar mehr als genug Frauen, aber keine von ihnen blieb länger bei ihm als zwei, drei Monate ... Mein Mann starb kurz nach dem Tod unseres Sohnes an Herzversagen, bereits ein Jahr später.

Allein in seiner großen Wohnung.

Ohne Familie.

Ohne Liebe.

Das ist die traurige Geschichte eines glücklichen Lebens, das ein unbekannter Selbstmörder brach ... Was mir bleibt, sind die Erinnerungen an meine Familie und die gute finanzielle Unterstützung durch das Erbe meines Mannes ... Ich hoffe, dass ich deinen Abend mit meiner Beichte nicht ruiniert habe, Sascha?“

„Ach was, Andrea. Das Drama Ihrer Familie hat mir tiefe Einblicke gegeben. Alles ist so kompliziert und traurig ...“

„Nun, Sascha, es handelt sich nur um einen kleinen Teil meines Lebens. Für den vollständigen Roman bräuchten wir mehrere Abende. Trotzdem bin ich froh, dass du ein interessierter und aufmerksamer Zuhörer bist. Bei uns in Deutschland heißt es:

Einen Ehepartner gibt uns der Himmel, ein Talent müssen wir selber finden, die Nachbarschaft schickt uns das Schicksal.

Ich weiß noch nicht, an welchem Wendepunkt das Schicksal die Notwendigkeit unserer Begegnung entschieden hat, aber sie geschah bestimmt nicht zufällig ...

Und jetzt lass uns den Abend beenden. Morgen hast du einen langen Tag. Ruf mich an, wenn du wieder aus deinem Russland zurückkehrst. Wenn du möchtest, hole ich dich dann vom Flughafen ab.“

„Danke, Andrea, für Ihr großzügiges Angebot, das ich aber ablehnen muss. Mein Mitarbeiter wird mich abholen, aber ich werde bestimmt anrufen, wenn ich wieder da bin – versprochen. Ich plane, nicht länger als sechs, sieben Wochen daheim zu bleiben. Eine Gute Nacht wünsche ich Ihnen!“

Als sie sich verabschiedeten, wussten sie noch nicht, dass ihr nächstes Treffen in einem Krankenhaus stattfinden würde.

Michele

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