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Kapitel 6

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Florenz, Italien, 1490

„Damit ihr es wisst, ihr Faulenzer: Tommaso di Ser Giovanni di Guidi war genauso unvorsichtig, oft zerstreut und unpraktisch wie einige von euch. Aber!“ Der alte Bertoldo di Giovanni erhob seinen knorrigen arthritischen Zeigefinger und stieß ihn in die Luft, um sich der Aufmerksamkeit seiner Schüler ganz sicher zu sein. „Der liebe Gott gab ihm ein großes Talent. Sein ganzes Wesen lebte nur für die Kunst, seine Seele nur für die Themen, die er für seine unsterblichen Gemälde wählte.

Er war in die gewählte Arbeit verliebt und widmete ihr seine ganze Zeit.

Er gab für die Gemälde sein Leben.

Aufgrund dieser Abwendung von den irdischen Dingen und dieser Hingabe, die man bei ihm schon im jungen Alter beobachten konnte, galt er als seltsamer Sonderling. Er wurde Masaccio, der Koloss, genannt, was sich sowohl auf seine physische Erscheinung als auch auf sein Temperament bezog. Diejenigen, die diesen Exzentriker gernhatten, behandelten ihn mit Respekt und Ehrfurcht. Diejenigen, die eifersüchtig auf seine Begabung waren, mit Verachtung.

Ein großer, ein sehr großer Maler ...

Einer der berühmtesten Meister der Florentiner Malereischule ...

Er war der Erste, der die Apostel auf seinen Bildern in voller Größe darstellte.

Er stellte sie auf den ganzen Fuß!

Generationen von Künstlern vor ihm hatten das Wort ‚Perspektive‘ nicht gekannt. Sie porträtierten die Apostel auf den Zehenspitzen stehend. Die Skeptiker erstickten seine Innovation mit Misstrauen, Pessimismus und Neid. Doch trotz dieser Angriffe zeigte Masaccio, das die Integrität seiner Bilder nicht von einem Hundertstel Braccio4) gestört wurde.

Der große Masaccio war der Erste, der die menschliche Gestalt in die richtige Perspektive brachte. Vor ihm hatte das niemand je gemacht oder gekonnt. Er war ein treuer Sohn unserer Mutter Kirche und wählte die Motive für seine unsterblichen Gemälde aus den biblischen Erzählungen.

Der Herr nahm Tommaso zu sich, ungerecht, so jung. Der arme Masaccio wurde kaum achtundzwanzig Jahre alt.

Das untalentierte Grau beneidet eben niemand.

Es wird behauptet, sein Tod sei durch Gift begründet, mit dem seine Neider einst seine Nahrung tränkten ... Wir werden es nie erfahren.

Was für ein elendes Schicksal ...

Euch grünen Sprossen indes mangelt es noch an Fantasie für die Themen eurer Bilder. Euer unbewegliches Gehirn arbeitet besser, wenn es die Gemälde des großen Masaccio kopiert. Das ist jetzt eure Aufgabe.“

Der alte Bertoldo stützte seinen Kopf auf die Hände, die seinen Holzstab hielten, verstummte und versank in Gedanken. Die langen Haare, die unter der braunen Kopfbedeckung hervorschauten, breiteten sich wie ein weißes Spinnennetz auf seinem dunklen Gewand aus.

Nach der Mittagspause versammelten sich die Schüler vor der Kirche Santa Maria del Carmine und tauschten schweigend Blicke. Auf Befehl ihres Lehrers betraten sie die Brancacci-Kapelle, um die Fresken von Masaccio zu kopieren. Am Tag zuvor hatte jeder von ihnen bereits erfahren, welchen Teil von welchem Gemälde er studieren und nachbilden würde. Masaccio hatte in der Kapelle insgesamt nur sechs Fresken vollständig beendet. Genau auf diese Fresken hatte der alte Bertoldo am Tag zuvor die Aufmerksamkeit der Jugendlichen gelenkt.

Die Jungen hatten in einer engen Gruppe zusammengestanden und die Szenen aus dem Leben des heiligen Petrus diskutiert, die sie zum ersten Mal sahen. Einige bewunderten die so lebendig gemalten Köpfe mit den unterschiedlichen Emotionen auf den Gesichtern. Andere faszinierte besonders die Heilung des Gelähmten. Und alle schienen von dem Bild wie erschlagen, auf dem Petrus auf das Gebot Christi aus dem Bauch eines soeben gefangenen Fisches eine Münze nimmt, um damit die Tempelsteuer bezahlen zu können. Die Jungen waren aufgeregt von Freske zu Freske gelaufen. Sie waren ergriffen von der Erhabenheit der Geschichten, der Fantasie und der Raffinesse der Meisterarbeiten.

Aber das war gestern gewesen.

Heute veränderte sich ihre Stimmung dramatisch. Nachdem sie beim Mittagessen einen großen Krug Wein geleert hatten, fiel es den zukünftigen Bildhauern schwer, ihre Ausgelassenheit zu zügeln. Sie kicherten hinter vorgehaltener Hand und beobachteten Torrigianos Späße, der heimlich den langsamen Lehrer nachäffte. Michelangelo war der einzige Schüler, der sich auf einen dreibeinigen mitgebrachten Hocker in die Ecke setzte und die Freske vor ihm zu kopieren versuchte.

Einige Lichtstrahlen fielen durch ein hohes Fenster auf den konzentrierten jungen Mann.

Der Lehrer, als habe er den allgemeinen Spaß nicht bemerkt, räusperte sich und begann, seine Schüler weiterhin mit leiser Stimme an seinem Wissen teilhaben zu lassen. Die Brancacci-Kapelle führte seine Gedanken schnell in die Vergangenheit und seine jungen Jahre. Gern erinnerte er sich an die vielen Stunden, die er mit Donatello verbracht hatte, der vor langer Zeit in eine andere Welt übergegangen war. Der alte Bertoldo fühlte sich dem großen, ewig jung gebliebenen Masaccio sehr verbunden, denn Donatello war ihr gemeinsamer Lehrer gewesen. Ihr berühmter Lehrer und Bildhauer hatte mit seinen Werken, die so voller Wahrheit und natürlicher Authentizität waren, unvergessliche Spuren in der Geschichte Italiens hinterlassen. Donatello hatte die Traumwelt der aristokratischen Schönheit, voller Romantik und Bedingtheiten, abgelehnt – deswegen war er so groß und berühmt geworden.

Bertoldo di Giovanni war sehr stolz darauf, dass sein Name in direkter Beziehung zu diesem großen bekannten florentinischen Namen stand. Und mit einem ganz besonderen Gefühl erfüllte ihn der Gedanke, dass seine Skulpturen und Arbeiten künftigen Generationen von Florentinern als Vorbild großer Schöpfungen erhalten bleiben würden ...

„Francesco, vergiss nicht – du bist in der Kirche und nicht auf einer Vergnügungsreise. Du brauchst ein Stück Kohlekreide zum Zeichnen und einen Kopf zum Denken, aber keine aufgerichteten Ohren, um dem Blödsinn der Nachbarn zu lauschen. Ich habe ein gutes Mittel, um deinem Kopf zu helfen, schneller zu denken.“

Überraschend munter erhob sich Bertoldo di Giovanni plötzlich von der Bank, auf der er während seines Vortrags gesessen hatte, schwang seinen Stock und schlug Francesco Granacci damit leicht auf den Rücken. Der Klang des Holzstocks auf dem knöchernen Körper erschallte in der Kapelle, wurde nach oben getragen, verharrte kurz unter dem hohen Gewölbe und senkte sich mit dem unangenehmen Geräusch fallender trockener Erbsen wieder hinab.

Der alte Mann wandte sich seinen Schülern zu.

„Und du, Torrigiano, merke dir endlich einmal: du bist hier, um ein Bildhauer zu werden, kein Hofnarr. Bei deiner Geburt hat der liebe Gott dir mehr Arroganz als Talent gegeben. Denk mal darüber nach, was du in deinem Leben wirklich erreichen willst. Wenn du in meiner Schule bleiben möchtest, zeige etwas mehr Fleiß und Gehorsam. Ich werde dir nicht hinterherlaufen. Denk gut daran – es ist meine letzte Warnung.“

Bertoldo di Giovanni ging mit langsamen, schweren Schritten durch die Kapelle, stützte sich auf seinen Holzstab und sah sich aufmerksam um. Endlich hielt er an, stand ein paar Minuten sinnend da und sagte dann zu den verstummten jungen Männern:

„Jeder von euch wird jetzt beginnen, die Freske zu kopieren, die er gestern gewählt hat. Diejenigen, die ihr Herz nicht für ein gesamtes Bild erwärmen können, sollten ein bis zwei Lieblingsmotive nehmen. Auf euren Bildern möchte ich eine menschliche Figur, Körperhaltung, einen menschlichen Gesichtsausdruck sehen. Lasst die Bäume oder Naturgebilde weg. Ich weiß, dass jeder von euch gut zeichnen kann. Das brauchen wir aber nicht für diese Aufgabe.

Meine Schüler! Ich möchte, dass ihr versteht, wie man einen Menschen in der richtigen Perspektive auf die flache Leinwand bringt. Dieses Wissen werdet ihr später brauchen. Ihr werdet es in künftigen Schöpfungen umsetzen und in Stein meißeln. Mir ist wichtig, dass ihr lernt, einen lebendigen Menschen zu zeigen, sein lebendes Gesicht, seine lebende Körperhaltung, wie Masaccio sie gezeigt hat.

Kopiert von einem Genie, solange ihr seinem Niveau nicht gewachsen seid.

Lernt, arbeitet, öffnet eure Kräfte für die Arbeit.

Geht voran.

Arbeitet unermüdlich.

Dies ist die einzige Möglichkeit, Magie und Gabe, die der Schöpfer in jeden Menschen gelegt hat, zu entdecken.

Einen anderen Weg gibt es nicht.

Ein Blick auf euer Spiegelbild im Wasser kann euch eure Fähigkeiten nicht zeigen. Es ist eine Beleidigung eures zukünftigen Lebens, wenn ihr faul seid und meinen Anweisungen nicht folgt. Denkt daran, ihr Schöpfungen Gottes: Menschen, die viel Zeit haben, können im Leben wenig erreichen.

Faulheit ist das Todesurteil jedes Genies.

Deshalb werdet ihr jeden Tag bis zur Erschöpfung und ohne Wochenende arbeiten. Ich möchte, dass der Name eines jeden von euch in der Geschichte von Florenz haften bleibt.

In der Geschichte unseres schönen Italien.

Der Herr hat mir noch ein wenig Lebenszeit geschenkt. Aber auch nachdem ich gegangen bin, möchte ich stolz auf jeden meiner Schüler sein.

Und jetzt an die Arbeit!

Ihr habt mehr als genug Zeit.

Bis zum Sonnenuntergang ist es noch lang.“

Der eisgraue Bildhauer drehte sich um und verließ die Kapelle. Kurz darauf hörte man das leichte Knarren und den Klang des schwer ins Schloss fallenden Kirchentors.

Nachdem der Lehrer weg war, nahmen die Jugendlichen die mitgebrachten Hocker und richteten sich vor den ausgewählten Fresken ein. Alle wichtigen Materialien lagen auf einem großen flachen Teller, von dem sich jeder nehmen konnte, was er brauchte. Einige der Schüler setzten sich direkt hin, andere standen, den Fuß auf eine Kniebank gestellt, und legten ihr Album auf dem Knie ab.

Alle begannen zu arbeiten, nur Torrigiano nicht.

Er war heute wie vom Teufel besessen ...

Der schlanke, gutaussehende junge Mann unterschied sich von den anderen vor allem durch seine Arroganz. Er war ungeduldig und wurde schnell aggressiv. Torrigiano hatte seine Kameraden in eine gewisse Rangordnung eingeteilt: Jene, die schwächer waren als er, die schwierige Aufgaben schlechter verstanden und ihn nicht an Geschicklichkeit übertrafen, verteidigte er, sofern ihm ihr Schutz vorteilhaft erschien. Diejenigen aber, deren Beharrlichkeit und Fleiß er wahrnahm, versuchte er bei jeder Gelegenheit mit üblen Worten zu treffen. Wer versuchte, ihm zu widersprechen oder sich selbst zu schützen, wurde zur Seite gestoßen.

Indes konnte Torrigiano auch ausdauernd und geduldig arbeiten. Der zukünftige Bildhauer bevorzugte zwei Lieblingsmaterialien: Stein und Lehm. Seine geschickten Hände formten die schönsten Figuren und Kompositionen, die oft das Lob des Lehrers erhielten. Jedes anerkennende Wort ließ in dem jungen Schüler ein großes Gefühl von Stolz entstehen, wurden aber seine Mitstreiter gelobt, reagierte er sehr empfindlich und es schmerzte ihn sehr. Er war ein komplexer, aber recht berechenbarer Charakter.

Die Missgunst machte es sich bei ihm gemütlich.

Von der ersten Minute an, in welcher der fünfzehnjährige Michelangelo in die kleine Gruppe der zukünftigen Bildhauer gekommen war, hatte Torrigiano ihn beobachtet, um einordnen zu können, welchen Platz er unter seinen Kameraden einnahm. Schon nach kurzer Zeit beschlich ein unangenehmer Verdacht seine Seele: der neue Schüler könnte sein Konkurrent werden.

Ein heftiger Hass umfing Torrigiano mit inniger Umarmung.

Jede Kleinigkeit an Michelangelo ärgerte ihn:

Er mochte seine kleine Statur nicht.

Seinen zerbrechlichen Körperbau.

Außerdem stieß ihm die Unbeirrbarkeit des Neulings bei der Arbeit auf:

Michelangelos konzentrierte Aufmerksamkeit im Unterricht zwang Torrigiano, die Zähne zusammenzubeißen, um nicht laut schreien zu müssen.

Seine Strebsamkeit bei der Durchführung von Aufgaben bereitete ihm Herzschmerzen.

Kopfschmerzen überfielen ihn, wenn der Neuling, anstatt zu schlafen, Spaß zu haben oder mit Freunden an den wenigen freien Tagen Wein zu trinken, heimlich zu Hause malte, auch nachts.

Aber vor allem verletzte Torrigiano, dass Michelangelo, so oft er ihn auch anrempelte, nie Angst zeigte und die Grobheit nie mit gleicher Unhöflichkeit erwiderte. Und nicht oft, aber hin und wieder wagte es der neue Schüler sogar, die Arbeiten der großen Meister, welche die Gruppe nachzumachen versuchte, zu kritisieren.

Diese Arroganz zwang Torrigiano, die Fäuste zu ballen.

Er verstand nicht, warum Michelangelos Arbeiten die besten in der Gruppe waren, verbrachte er doch eine Nacht nach der anderen schlaflos und gönnte sich sogar an den freien Tagen keine Ruhe. Der simple Gedanke, dass die Fähigkeiten umso früher kommen, je sorgfältiger die Arbeit ist, gelangten nicht in den schönen Kopf des neidischen Schülers.

Den Fleiß und die neuen Ideen Michelangelos hatten nicht nur seine Mitschüler beobachtet, sondern auch Lorenzo de‘ Medici, der Besitzer des Medici-Gartens und Begründer der Bildhauerschule. Nachdem der junge Künstler innerhalb von drei Tagen einen Faunkopf aus Marmor gemeißelt hatte, war Lorenzo so begeistert gewesen, dass er den Schüler eingeladen hatte, in seinem Palast zu leben. Diese Gunst, die der Herrscher der Republik Florenz dem jüngsten Schüler der Bildhauerschule entgegenbrachte, brachte Torrigianos Geduldfaden endgültig zum Reißen.

„Es kann nicht sein, dass Lorenzo il Magnifico mir, einem intelligenten, schönen und talentierten Jungen, einen unreifen Emporkömmling vorzieht. Ob der Herr nicht weiß, dass Michelangelo einen widerwärtigen, verschlossenen Charakter hat? Er sollte wohl wissen, dass sein Lieblingsschüler in der Nacht nicht schläft, sondern durchzeichnet, und das sieht nach Hexerei aus. Man darf niemanden zum Liebling wählen, wenn er es nicht verdient hat … “

Immer üblere Gedanken unzerlegbaren Neids nahmen von Torrigiano Besitz. Sie kochten, setzten sich wie ein aus Eifersucht geschmiedeter Eisenbügel um seinen Kopf und zwangen seine Seele angesichts der überwältigenden und unkontrollierbaren Gefühle zu zittern.

Die Schüler in der Brancacci-Kapelle hatten die vom Lehrer vorgegebene Aufgabe bereits in Angriff genommen und waren fleißig dabei, die ausgewählten Motive zu kopieren. Torrigiano aber trat wütend mit dem Fuß gegen seinen Hocker, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte trotzig auf die marmorne Balustrade vor dem Kapelleneingang. Er konnte den Tadel des Lehrers nicht vergessen, den dieser laut vor allen ausgesprochen hatte.

Und arbeiten wollte er auch nicht.

Die scharfen Krallen des Neids gruben sich fest in sein Herz.

Schließlich, um seiner Anspannung Herr zu werden und etwas von dem giftigen Dampf in seinem Inneren abzulassen, ging Torrigiano lauten Schrittes zu den arbeitenden Jungen. Er blieb bei Giuliano Bugiardini stehen, der am Rand saß und konzentriert arbeitete, und blickte ihm über die Schulter.

„Unser spröder Giuliano hat einen Papstthron zum Kopieren ausgewählt. Nun, sehr interessant! Du wolltest dich bestimmt selbst daraufsetzen, nicht wahr? Komm schon, versuche es weiter. Vielleicht erlaubt dir unser Oberpatron, wenn du ihm auffällst, sogar seinen Dessertlöffel abzulecken.“

Wie zufällig stieß Torrigiano mit seiner Hüfte gegen den Ellbogen des sitzenden Kameraden und verdarb damit ein von diesem sorgfältig gezeichnetes Detail. Dann wandte er sich schnell ab, als ob nichts geschehen sei, und ging zu seinem Nachbarn. Ein Blick auf dessen leeres Blatt, das auf dem Zeichenbrett lag, genügte, um zu sehen, dass er seine Arbeit noch nicht begonnen hatte. Torrigiano grunzte zufrieden und ging weiter.

Jetzt stand er neben Lorenzo di Credi, aber den recht starken jungen Mann offen zu beleidigen oder zu kritisieren, wagte er nicht. Gerade laut genug, dass jeder seine Worte hören konnte, murmelte er daher mit zusammengebissenen Zähnen:

„Vielleicht wirst auch du eines Tages die Herrlichkeit unseres Lieblings Masaccio erreichen, wer weiß? Unser Lehrer lobt deine Arbeiten doch immer so gern.“

All diese Gesten, Kommentare und der offene Hohn Torrigianos hinterließen einen unangenehmen Beigeschmack bei den Schülern, aber noch wagte es keiner, auf den Streitlustigen einzugehen. Francesco Granacci erriet, warum Torrigiano so unzufrieden war, und versuchte, die drohende Eskalation zu verhindern. Er nahm das Brett mit seinen Zeichnungen von den Knien, legte es sich neu auf dem Schoß zurecht und sagte in versöhnlichem Ton:

„Was konzentrierst du dich so auf uns? Geh besser an die Arbeit. Morgen früh überprüft der Lehrer unsere Bilder, und dann wird er mit dir sehr unzufrieden sein.“ Torrigiano fuhr herum. „Wer spricht denn hier? Аaah, Francesco, der beste Freund des Lieblings unseres Patrons Lorenzo. Bringt dir dein Michelangelo auch immer schön brav die Essenreste vom Tisch der Medici? Sie sind bestimmt sehr schmackhaft, mit viel saftigem Fleisch, und bestimmt ist der Wein nicht so sauer wie jener, der uns serviert wird.“

„Lass Francesco in Ruhe“, kam es da aus den Tiefen der Kapelle. Michelangelo hatte zu malen aufgehört und war aufgestanden. „Wenn du mich beleidigen willst, wende dich direkt an mich. Warum verwickelst du die anderen darin?“

„Michele, sei ruhig!“ Ängstlich erhob sich auch Granacci von seinem Hocker. „Niemand wollte dich beleidigen oder verletzen.“

„Setz dich, Michele, nachher platzt du noch vor lauter Kränkung“, ätzte Torrigiano mit gepresster Stimme und jetzt, da er nur noch seinen großen Feind sah, fügte er hinzu: „Du lebst doch bestimmt sehr gut im Hause unseres Gönners? Sag mal, womit hast du die Aufmerksamkeit von Lorenzo il Magnifico auf dich gezogen? Vielleicht hast du seinen Nachttopf besonders eindrucksvoll gezeichnet? Oder vielleicht leckst du besonders sorgfältig die Schalen seiner Mahlzeiten sauber? Du zeichnest nicht besser als ich, warum also plötzlich diese Ehre?“

Während Torrigiano seine höhnische Rede hielt, die deutlich zeigte, wie sehr er seine Fäuste ballte, schaute Francesco Granacci besorgt in Richtung seines Freundes.

Michelangelo saß auf dem Hocker und wurde sehr blass.

Seine Hände hielten das Zeichenbrett so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel bald so weiß waren wie sein Gesicht. Mit den letzten Worten Torrigianos erhob sich Michelangelo langsam von seinem Hocker. Eindeutig beabsichtigte er, auf die Beleidigungen zu reagieren. Francesco wusste sicher, dass der größere, stärkere und stabilere Torrigiano seinen Freund Michele leicht würde verletzen können, und versuchte, sich zwischen die beiden zu stellen.

„Hört auf, sonst hört jemand euer Fluchen im Gotteshaus und eilt herbei. Und wenn unser Lehrer von eurem Streit erfährt, werden wir alle bestraft. Beruhige dich, Torrigiano, lass uns weiterarbeiten. Gleich geht die Sonne unter. Michele, kannst du dir mal meine Zeichnung anschauen und mir sagen, was hier nicht stimmt …?“

Francesco hatte mit aller Kraft versucht, den drohenden Streit zu verhindern. Selbst wollte er aber selbstverständlich auch nicht von den neidischen, verbitterten Fäusten Torrigianos getroffen werden. Mit seinem Brettchen unter dem Arm trat er bedacht zur Seite und stand nun mit dem Rücken zur Wand. Langsam und bedrohlich nährte sich der Streitstifter dem Ziel seines Hasses, Michelangelo, und stand jetzt fast neben ihm.

„Hör mal, Torrigiano, ich habe dich nie persönlich beleidigt. Obwohl ich ständig von dir beschimpft werde, möchte ich nicht kämpfen. Wenn du schlechte Laune hast, bedeutet das nicht, dass du auch allen anderen den Tag verderben darfst. Aber wenn du mich oder unseren Patron Lorenzo il Magnifico, dessen Großzügigkeit wir hier die große Kunst erlernen dürfen, weiterhin kränken willst, dann ...“ Michelangelo stockte, um die richtige Worte zu suchen.

„Was – dann?“, fragte sarkastisch Torrigiano und machte noch einen halben Schritt nach vorn. „Würdest du vor lauter Angst starr dasitzen? Oder würdest du zum Lehrer laufen, um mich anzuschwärzen?“

„Nein. Ich habe keine Angst vor dir und ich werde dich bestimmt nicht anschwärzen. Lorenzo weiß genau, dass ich der Beste bin, deshalb hat er mich von meinem ehemaligen Lehrer Ghirlandaio übernommen. Schreib es dir auf die Stirn – du wirst dich mit mir weder in der Malerei noch in der Bildhauerei jemals vergleichen können.“

Der schmächtige Michelangelo stand wie ein frisch geschlüpftes Küken vor Torrigiano und blickte von unten zu dem Feind empor. Seine Augen leuchteten stolz, doch dahinter versteckte sich auch ein ängstlicher Schimmer.

„Ach, der Beste? Nicht vergleichen?“

Torrigiano erstickte fast vor Hass. Seine Augen wurden riesig groß, die Mundwinkel verzogen sich. Seine Faust schoss kraftvoll vor und krachte mit voller Wucht direkt auf die Nase Michelangelos.

Das laute Knacken brechender Knochen war zu hören.

Durch die Wucht des Schlags taumelte Michelangelo rücklings gegen die Wand. Er schlug mit dem Hinterkopf dagegen und fiel dann bewusstlos zu Boden. Die anderen Schüler hatten die Auseinandersetzung schweigend beobachtet, jedoch keine Zeit, rechtzeitig dazwischenzugehen. Nun standen sie, überrascht von der Plötzlichkeit und der Heftigkeit des Schlags, wie erstarrt da.

Der herzzerreißende Klang der brechenden Knochen und des stumpfen Aufpralls erfüllten die traurige Stille der Kirche Santa Maria del Carmine. Sein Echo prallte von den Wänden ab, bündelte sich in einer luftigen Spirale, stieg hoch und verlor sich unter der Kuppel der Kapelle.

Das deutliche Echo der Tragödie ließ die Anwesenden erzittern.

Verschreckt und ängstlich standen die Jugendlichen um den am Boden liegenden Kameraden herum und wussten nicht, was sie tun sollten. An der Stelle, an der vor einigen Sekunden noch Michelangelos Nase gewesen war, zeichneten sich die Umrisse scharfer weißer Knochen unter der aufgerissenen Haut ab. Dunkelrotes Blut lief aus seinem halboffenen Mund auf den steinernen Boden der Kapelle.

Eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen.“ (Koh 3,8)

Michele

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