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Kapitel 2
ОглавлениеFlorenz, 1489
Die toskanische Septembersonne stand im Zenit. Alle Lebewesen suchten Schutz vor den unbarmherzig auf sie niederbrennenden Strahlen. Die Stadt lag da, als sei sie in einen tiefen Schlaf gefallen.
Auf dem Gelände des Klosters von Santo Marco würde der Herrscher von Florenz, Herzog Lorenzo di Piero de‘ Medici, heute einen lang gehegten Traum zum Leben erwecken und eine Kunstschule eröffnen. Seit langer Zeit plante er, junge toskanische Talente unter einem Dach zu versammeln.
Den jungen Trieben eine Gelegenheit zu geben, ihre mit der Geburt empfangenen Begabungen zu entfalten.
Lorenzo de‘ Medici war ein kluger und weitsichtiger Herrscher. Er wollte sein geliebtes Florenz in der vordersten Reihe sehen, nicht nur in Italien, sondern mit Blick auf die gesamte europäische Kultur.
Die großen Pläne eines großen Menschen.
Er selbst war ein guter Dichter und stand jeder Kunstrichtung offen gegenüber. So war er auch in der Malerei, Skulptur und Architektur bewandert. Während der langen Zeit seiner Herrschaft war Lorenzo de‘ Medici in jeder Weise den talentiertesten Kunstrepräsentanten zugetan und zeigte sich ihnen als großzügiger Mäzen. Er war ein herausragender Diplomat, Bankier und Staatsmann, und er schonte weder öffentliche noch private Gelder, um Kunstwerke zu erwerben. Auch war er gebildet und hatte eine besondere Vorliebe für Bücher, die er in ganz Europa kaufte und sammelte. Im Italien des Mittelalters besaßen nur Mönche ihre eigenen Druckmaschinen, und der Herzog wusste nur zu gut um die Bedeutung von Wissen.
Um die Bedeutung gebildeter Menschen für sein Land.
Lorenzo de‘ Medici hatte nie aufgehört, neben der Kunst auch in luxuriöse Bauwerke, Paläste und Kirchen zu investieren. Und genauso wenig hatte er jemals davon Abstand genommen, für diese Arbeiten neue Talente zu suchen.
Für seine aktive und öffentliche Förderung der Künste war der Herzog de‘ Medici vom toskanischen Volk seit langer Zeit sehr anerkannt. Die Florentiner begannen, ihn zunächst zaghaft, dann mit lauter Stimme „Lorenzo il Magnifico“ zu nennen. Diese inoffizielle Bezeichnung, die der Liebe der Menschen entsprungen war, machte den Herzog sehr glücklich – war sie doch im Einklang mit seinen großen Plänen.
Der leitende Staatsmann von Florenz gedachte seit längerem, seinem Land einen besonders hervorragenden Dienst zu erweisen. Seine Vision war es, in der Toskana – ähnlich Rom oder Venedig – ein Zentrum für italienische und europäische Kultur zu etablieren. Der neue Name, il Magnifico, schien gleichermaßen unaufdringlich wie elegant seinen Ehrgeiz zu betonen: Die Idee ihres Herrschers, eine Schule für talentierte Maler und Bildhauer zu gründen, kam für die Florentiner keinesfalls unerwartet.
Nach ihrer Veräußerung wurde mit der Umsetzung begonnen.
Nach reichlicher Überlegung und einem Treffen mit den Mitgliedern seiner Familie schlug Lorenzo de‘ Medici den erfahrenen Lehrer und Bildhauer Bertoldo di Giovanni für den Posten des Hauptmentors und Direktor der Schule vor.
Die Wahl war nicht zufällig auf ihn gefallen.
Der gewichtigste Grund war Bertoldos Vergangenheit als Bildhauer: vor vielen Jahren war er Schüler und Gehilfe des großen italienischen Bildhauers und Medailleurs Donatello gewesen. Der begabte Schüler übernahm viele Stein- und Metallgeheimnisse von seinem berühmten Lehrer, doch noch wichtiger war sein pädagogisches Talent: Bertoldo vermochte es, seine erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten gleichermaßen leicht wie unaufdringlich weiterzugeben.
Außerdem gereichte ein weiterer Umstand Bertoldo als künftigem Direktor der Schule zum Vorteil: Bertoldo war bereits sehr alt.
So konnte Bertoldo nicht mehr selbst mit Steinen oder Metallen arbeiten und auch keine Aufträge mehr annehmen. Dies wiederum bedeutete, dass die jungen Schüler von der Pflicht befreit sein würden, dem Lehrer bei der Durchführung von Aufträgen zu helfen. Sie würden sich auf ihr Studium, auf das Verständnis ihrer Fähigkeit als Maler und Bildhauer konzentrieren können.
Und von diesen zwei Argumenten, die den Namen des zukünftigen Hauptlehrers und Mentors der Bildhauerschule bestimmten, einmal abgesehen, mochte sicherlich auch der große Ruhm, der dem Meister vorauseilte, seine Ernennung beeinflusst haben.
Die Eröffnung der der Kunstschule sollte feierlich vonstattengehen. Wie sich herausstellte, waren jedoch nur wenige Gäste geladen. Lorenzo il Magnifico hatte im Garten der Medici, beim Kloster San Marco, ein Freiluftmuseum einrichten lassen, in dem er Skulpturen vieler Länder versammelte und ausstellte. Genau hier kamen alle zusammen, die zur Eröffnung der berühmten Schule geladen waren. Bertoldo di Giovanni, der es eher gewohnt war, sich mit Kollegen zu unterhalten als mit den Mächtigen der Republik, versuchte, sich ganz auf seine Schüler zu konzentrieren. Die Ehre, der erste Direktor der florentinischen Kunstschule zu sein, machte ihn sehr nervös. Die Gäste konnten die Gefühle des alten Mannes indes gut verstehen.
„Meine lieben Kinder“, wandte der alte Meister sich an die kleine Gruppe seiner zukünftigen Schüler, „jeden von euch erwarten in der Zukunft anspruchsvolle Aufgaben. Zu Beginn eures Aufstiegs solltet ihr eines bedenken, das am wichtigsten ist: jede Idee, die im Kopf eines Bildhauers geboren wird, muss ein Licht ausstrahlen.
Ohne ein helles Licht werdet ihr in der Dunkelheit wandern.
Findet das Licht!
Entlang dieses Strahls, der eurer Absicht entspringt, werdet ihr euch zur Verwirklichung bewegen. Beim Vorankommen müsst ihr alles registrieren, auch jenes, das euch auf den ersten Blick unwichtig erscheint. Genau diese Bedeutungslosigkeiten werden es sein, die eure Arbeiten, wenn nicht weltberühmt, dann zumindest sehr namhaft machen. Ihr müsst wissen, dass es in einer guten Arbeit keine Kleinigkeiten gibt. Jeder Strich, jede Drehung, jeder Hinblick, jede geringste Bewegung – alles ist wesentlich.
Im Gegensatz zu einem Künstler, der Gesicht, Kleidung und Objekte auf eine Leinwand bringt, hat ein Bildhauer das innere Wesen der Figur zu belichten. Nicht die Farbe der Kleidung, nicht den Sonnenuntergang, keine Bilder der Natur. Der Bildhauer muss für alles seinen eigenen Leib in den Stein meißeln.
Er muss sich selbst im Stein sehen ...
Als Alphabet, als Lied der Skulpturen erscheinen uns ihre Entwürfe.
Diese sind ihr Beginn, wenn sie von dem hellen Schweif einer Idee eingefangen werden.
Diejenigen von euch, die es nicht vermögen, ihre Seele in die Entwürfe hineinzulegen, erhalten bei der Geburt des Werkes ein totes Kind.
Nur diejenigen, bei denen mit der Arbeit die Flügel wachsen, werden erfolgreich sein.
Glaubt mit ganzem Herzen an eure höhere Bestimmung!
Vertraut der göttlichen Kraft, die bei der Geburt in jeden Einzelnen von euch gelegt wurde.
Glaubt an euch, wie ich an euch und euer Talent glaube.
Unser Patron und Beschützer, Lorenzo il Magnifico, hat aus dem Garten des San-Marco-Klosters ein unschätzbares Freiluftmuseum gemacht.
Nicht jeder ist hier gerne gesehen.
Ihr aber seid die zukünftigen Schöpfer der Geschichte von Florenz und der gesamten italienischen Kultur. Dies solltet ihr schätzen! Ihr dürft frei im Garten spazieren gehen und die großen Schöpfungen der Bildhauer der Antike und der Gegenwart kennen lernen. Schaut sie an, lernt, begreift die Talente nicht nur unseres Italien, sondern auch der anderen Länder, die ich über die Dauer meines Lebens nie besuchen konnte.
Ihr aber habt Glück, dass jeder von euch mit den Voraussetzungen einer Begabung geboren wurde. Ihr dürft die Gelegenheit nicht verpassen, hier und heute das, was der Herr euch gegeben hat, weiterzuentwickeln.“
Bertoldo di Giovanni ergriff ein großes Stofftaschentuch und wischte sich die verschwitzte Stirn. Erneut bewältigte er die Aufregung seiner langen Rede und wies den Bick seiner Schüler mit ausgestreckter Hand in Richtung der im Garten stehenden Skulpturen:
„Achtet genau auf das, was ihr vor euren Augen seht. Das Beste, was ihr in den Skulpturen findet, werdet ihr in euren Arbeiten umsetzen müssen. Haltet Augen und Ohren offen, damit Gottes Gnade die Leere in euren Köpfen frei fluten kann ... Und jetzt geht! Morgen früh treffen wir uns im Kloster zur ersten Unterrichtsstunde.“
Bertoldo di Giovanni neigte leicht den Kopf, als er die dankenden Jubelrufe seiner Zuhörer vernahm, und ergriff aus den Händen eines der Mönche einen vollen Becher mit Wein.
Trotz der steigenden Hitze draußen war es in dem Saal des Klosters von San Marco, der an die Kunstschule übergeben worden war, angenehm kühl. Die Höhe und Dicke der Steinmauern und die glatten Basaltsteine unter den Füßen, welche nie die Sonne gesehen hatten, bewachten und sicherten die Räumlichkeiten vor der eindringlichen Glut des Sommers.
Auf den Hockern vor dem alten Lehrer saßen sechs Schüler. Der älteste von ihnen, Giuliano Bugiardini, war gerade sechsundzwanzig geworden. Seine starken kantigen Schultern und der dicke Hals verrieten ihn als einen erwachsenen Mann. Nur die jugendliche Neugier und Naivität, die in seinen Augen funkelten, zeigte seine Unreife.
Der jüngste in der Gruppe war Michelangelo Buonarroti – vor sechs Monaten war er fünfzehn geworden. Nach außen war er keine Schönheit: mittelgroß, mit einem scharfen Blick seiner hellbraunen Augen, einer rechteckigen Stirn und nach unten gezogenen Ohren.
Zuvor hatte Michelangelo zusammen mit seinem Freund, Francesco Granacci, in der Werkstatt von Domenico Ghirlandaio seine Ausbildung erhalten. Der hübsche Francesco hatte für seinen Lehrer Ölbilder gemalt, während der jugendliche Michelangelo die Farben zerstieß und anmischte. Der scharfsinnige Granacci vermutete nicht ohne Grund, dass Domenico Ghirlandaio sehr eifersüchtig auf das Talent Michelangelos war: der Schüler konnte aus dem Gedächtnis viel besser zeichnen und malen als sein Lehrer. Als Älterer der beiden gelang es Francesco, für sich selbst und seinen Freund eine Einladung in die neu eröffnete Kunstschule zu ergattern. Nach außen nichts von seinen wahren Gefühlen zeigend, atmete Domenico Ghirlandaio erleichtert auf, als die zwei unbequemen Schüler seine Werkstatt verließen, um sich bei Bertoldo di Giovanni in der Bildhauerei zu versuchen. Und so saßen Francesco und Michelangelo nun vor dem großen Meister und lauschten seinen Worten.
Bertoldo sprach langsam.
Der siebzigjährige alte Bildhauer wandte seinen Blick unter den weißen Wimpern von den Gesichtern der ihm zuhörenden Jungen zu der Wand hinter ihm. Sie war mit den Symbolen der Herrscher von Florenz bemalt. Mit warmem Gefühl besah Bertoldo die fünf roten und die blaue Kugel mit der gelben Lilie auf dem Wappen der Medici-Familie. Unter dem hohen Gewölbe klang seine Stimme fast heiser und die Schüler hörten ihm aufmerksam zu. Alle außer einem.
Der neunzehnjährigen Torrigiano war als der Streitsüchtigste der Gruppe bekannt. Heute hatte er den jüngsten Schüler zu seinem Opfer auserwählt. Wie versehentlich berührte er immer wieder den neben ihm sitzenden Michelangelo erst mit dem Ellenbogen, dann mit dem Fuß. Dem Streithammel wollte nicht gefallen, dass sein Nachbar nicht nur dem Lehrer zuhörte, sondern gleichzeitig Entwürfe in das Album auf seinem Schoß zeichnete.
Er mochte den Fleiß des neuen Schülers nicht.
Nicht die Leichtigkeit seiner Begabung.
Nicht seinen hochmütigen Charakter.
Vom ersten Tag des Erscheinens Michelangelos mit seinem untrennbaren Freund Francesco im Garten der Medici an hatte Torrigiano ihn als Konkurrenten betrachtet. Sofort waren ihm Michelangelos Besonnenheit, sein Fleiß und sein Ehrgeiz aufgefallen. Bei jeder passenden Gelegenheit versuchte er daher, seine Unzufriedenheit mit dem Anfänger zum Ausdruck zu bringen.
„Komm zu uns, es ist längst Mittagspause“, grinste der Unruhestifter wenig später und nahm erbost die Hartnäckigkeit wahr, mit welcher der neue Schüler das Motiv eines Wandgemäldes in sein Album übertrug. „Während du mit deinen Zeichnungen spielst, wird der ganze Wein in unsere Bäuche gelangen und für dich bleibt nur Wasser übrig. Beeile dich! Der altersschwache Bertoldo mit seinen alten Augen wird so oder so keinen Unterschied zwischen unseren Bildern feststellen. Du brauchst dich nicht zu bemühen.“
Michelangelo sah, auf dem Boden hockend, zu dem schönen schlanken Torrigiano auf und presste fest seine Lippen aufeinander: er hatte nicht vor, dessen verletzende Tiraden zu beantworten. Der talentierte Jugendliche war hierhergekommen, um zu lernen, und gedachte sich nicht durch andere Unterhaltungen oder Spötteleien ablenken zu lassen.
„Wieso ärgerst du uns alle?“ Francesco Granacci stand für seinen Freund auf und wandte sich dann an Michelangelo: „Michele, wirklich, beende deine Arbeit und komm zu uns. Die Oliven und das Brot sind heute besonders schmackhaft.“
Die übrigen Schüler hörten den Lästereien Torrigianos weiter zu und kommentierten sie mit abfälligen Bemerkungen. Sie fühlten sich wohl ohne die Aufsicht des Lehrers und entspannten bei leckerem Essen mit Wein, der stark mit Wasser verdünnt war.
In dem allgemeinen Trubel bemerkte niemand, dass Bertoldo den Speisesaal betreten hatte. Gedankenverloren beobachtete er seine Schüler und lächelte in seinen langen weißen Bart hinein. Als er sich umwandte, um den Saal leise wieder zu verlassen, berührte sein breiter Mantel, den er nicht einmal im Sommer abnahm, einen auf dem Boden stehenden Krug. Das aus Lehm bestehende Gefäß fiel mit lautem Getöse um. Wie auf Befehl wandten sich die Köpfe der Anwesenden zur Tür. Im Speisesaal herrschte augenblicklich Ruhe.
„Nun, meine Kinder, ihr seid alle mit Talent ausgestattet und wisst darum“, Bertoldo sah keine Notwendigkeit, sich weiter zu verstecken oder sich vor den Jugendlichen zu rechtfertigen. Als alter Mann hatte er sich dazu entschieden, die Möglichkeit zu nutzen und durch sein neues Amt etwas von der Jugend zu lernen. Es war kein Wunder, dass Lorenzo il Magnifico ihm die Lehrerstelle anvertraut hatte: der Herzog schätzte die Erfahrung, das Wissen und die Weisheit des alten Bildhauers.
„Einige von euch laufen schnell, um ihre Mägen zu füllen. Andere laufen schnell, um Stift und Papier in die Hand zu nehmen. Nun, es liegt in meiner Hand, jedem von euch eine Aufgabe zu geben und ihn zum Arbeiten zu zwingen.
Es liegt jedoch nicht in meiner Hand, euch dem Lernen und der Weisheit näherzubringen.
Ihr seid aus freien Stücken hergekommen, um mein und das Wissen meines großen Lehrers und Bildhauers Donatello zu erhalten.
Ihr habt eure Wahl getroffen.
Und wenn der eine oder andere von euch seinen Anreiz verloren hat, so habe ich nicht das Recht, ihm abzuraten.
Denkt daran: wenn man in dieser Welt etwas verstehen will, muss man sie studieren und sein Verständnis mit dem Wissen, das man hier erhält, nachjustieren.
Nur durch das Verständnis der Welt wird der Mensch sich ändern können.
Hier könnt ihr eure Fähigkeiten verbessern. Ihr werdet in der Lage sein, nicht nur die Welt, sondern euch selbst besser zu verstehen.
Ich bin hier, um euch zu helfen, diese Wahrheit zu erfassen. Und denkt an eines der einfachsten Gesetze des Lebens, meine Kinder: Nur die Dümmsten der Menschen oder aber die Intelligentesten und Weisesten hören mit dem Lernen auf. Nun, der Haut der Dümmsten seid ihr alle schon entwachsen, aber noch lange nicht reif für die Weisheit. Also beendet eure Mahlzeit und geht in die Kirche Santa Maria del Carmine.
Dort werde ich auf euch warten.
Es ist Zeit für euch alle, ein wenig zu wachsen, damit ihr in späteren Jahren einen Stand erlangt habt, der eines echten Mannes würdig ist.
Ab heute und alle folgenden Wochen werden wir die berühmten Fresken von Masaccio studieren und kopieren. Und wer von euch Sturköpfen diesen großen Meister noch nicht richtig kennt, wird endlich ein gewisses Maß an Weisheit erlangen.“
Der alte Bildhauer drehte sich um und verließ langsam den Saal. Dabei stützte er sich auf einen langen hölzernen Stock, den die Zeit fast vollständig poliert zu haben schien.