Читать книгу Michele - Лин Хэндус - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеFrankfurt am Main, Deutschland
Sascha litt unerträglich. Seine physischen und seelischen Schmerzen schienen untrennbar miteinander verbunden. Sie waren so eng verflochten, dass es ihm schwerfiel, den einen Schmerz vom anderen zu unterscheiden.
„Wie ist es dazu gekommen?“, kehrten die Gedanken an seine schweren Verletzungen hunderte, tausende Male am Tag wieder.
„Warum ausgerechnet ich?
Habe ich es verdient, in meinen jungen Jahren im Rollstuhl zu sitzen?
Was habe ich in meinem Leben Falsches oder Unrechtes getan?
Warum? Wer bestraft mich?
Für welche Tat?
W-A-R-U-M?“
Er fand keine Antwort auf eine einzige seiner Fragen.
Es ist nicht einfach, in einem fremden Land in einem Krankenbett zu liegen. Aber noch schwieriger ist es, seinen Zustand vor den Angehörigen zu verbergen.
Für die Familie zu lügen.
Vor der Adoptivmutter die Wahrheit zu verstecken.
Und so stellte sich heraus, dass sie wohl vermochte, sogar über die große Distanz hinweg den Schmerz ihres Sohnes zu fühlen, den sie seit seinem achten Lebensjahr großgezogen hatte.
„Hallo, mein Söhnchen, du hast uns wohl vergessen. Du schreibst nicht, kommst nicht zurück. Ich hatte ein komisches Gefühl, ich musste dich unbedingt anrufen, aber habe dich nicht erreicht … Ist bei dir alles in Ordnung?“
„Sei nicht so besorgt, Mama. Bei mir alles ist gut ...“
„Und deine Stimme? Warum hast du so eine seltsame Stimme? Ich höre doch, dass dir die Luft fehlt.“
„Meine Stimme ist ganz normal. Ich habe etwas hastig ein Bier aus dem Kühlschrank getrunken, jetzt klingt meine Stimme vielleicht etwas belegt.“
„Sascha, deine Stimme klingt nicht erkältet, sondern traurig und krank … Aber nun gut, wenn du nicht darüber sprechen möchtest, dann eben nicht. Aber wann kommst du nach Hause? Ich hoffe doch, dass wir uns an Neujahr sehen?“
„Neujahr?“ Saschas Stimme klang brüchig und er schwieg kurz. „Ich werde es versuchen, aber versprechen kann ich es nicht.“
„Versuch es, bitte, mein Liebling.“ Die Stimme der Mutter wurde traurig. „In letzter Zeit bin ich oft krank, die Kräfte verlassen mich. Wir sehen uns so selten. Komm bitte nach Hause, ich möchte dich so gerne sehen.
Ich möchte dich in meiner Nähe haben.“
Die Mutter konnte die Tränen nicht sehen, die ihrem Sohn nach diesen Worten über die Wangen liefen.
Er hatte Mitleid mit seiner Mutter.
Er wollte nicht mehr lügen.
Doch vor allem beklagte er sein unglückliches Schicksal und das Urteil der Ärzte. Er wollte, er konnte niemandem von seiner Behinderung erzählen. Sascha schluckte schwer gegen den Kloß an, der in seinem Hals festzustecken schien, trocknete mit den Kanten des Bettbezugs sein Gesicht und hustete einige Male in der Hoffnung, er könne auf diese Weise wieder Herr seiner Stimme werden.
„Mama, es klingelt an der Tür! Wir müssen schlussmachen. Ich werde jetzt öfter anrufen, versprochen. Grüße die ganze Familie von mir. Bleibe gesund und … ich liebe dich, Mama.“
Sascha legte auf, ließ sich zurück in die Kissen fallen und schloss die Augen. Fast im selben Moment überfielen ihn blitzartig Gedanken an die Ereignisse der letzten Jahre und malten mit hellen Farben Bilder vor seinem inneren Auge.
Warum kamen sie ausgerechnet jetzt?
Was hatte sein Unfall mit der Eröffnung der „Akademie der Genies“ zu tun?
Konnte es eine solche Verbindung überhaupt geben?
Fragen wie diese hatte er sich früher nicht gestellt. Jetzt aber drängten sie sich ihm auf, und nach einer Weile verstand er, dass sein Unterbewusstes wohl genau in dieser Richtung die Antwort darauf suchte, warum der Unfall überhaupt geschehen war, warum es ausgerechnet ihn getroffen hatte.
Er erinnerte sich, wie er seinen Adoptivvater Anton Glebow nie hatte „Papa“ nennen können und immer nur „Anton“ gesagt hatte. Er erinnerte sich an die zärtlichen Hände seiner Mutter Larissa – die einzige Mutter, an die er sich zu erinnern vermochte, war seine leibliche Mutter doch früh gestorben und hatte er sie längst vergessen.
In seinem Kopf erschienen Bilder von den Klassenkameraden, dem Abschlussball in der Schule, von den Studienjahren in der Universität, vom Unterricht in der Malerei und andere angenehme Bilder aus der Vergangenheit. Diese Erinnerungen stellten zwar keinen Glückszustand her, aber brachten die Ruhe und die Stille der Freude in Saschas aufgewühltes Gemüt. Allerdings nur, bis er an seinen Traum dachte, eine Niederlassung der Akademie der Genies im Ausland zu eröffnen. Hier bäumten sich seine Erinnerungen auf wie ein wütendes Pferd. Dieses Pferd schlug mit seinen Hufen schmerzhaft gegen die dünnen Wände der Herzklappen, gelben, giftigen, spritzenden Schaum vorm Maul, der auf der Haut des Kranken als ein stark duftender Schweiß zurückzubleiben schien.
„Was habe ich falsch gemacht?“, begann er sich erneut zu quälen. „Wo habe ich die Grenzen des Erlaubten überschritten? Wer und mit welchem Recht hat mich für das bestraft, was ich nicht getan habe?“
Die Fragen kamen und gingen. Verschwanden sie, traten an ihre Stelle neue. Keine von ihnen aber kam zurück und hatte eine zumindest für Sascha zufriedenstellende Antwort dabei.
Tief in seinem Unterbewusstsein kannte er schon alle Antworten.
Aber ob er diese hören wollte?
Wer schon möchte der Richter seiner eigenen unehrenhaften Taten sein?
Niemand.
Es ist viel einfacher, ohne die Bisse des Gewissens zu leben.
„Wie geht es unserem Genesenden?“
Die Tür des Zimmers öffnete sich und die schlanke Gestalt Andrea Kantors trat herein. Sascha wusste mittlerweile, dass Andrea Kantor nie Röcke trug, sondern Hosen bevorzugte, und dass sie jede Art von Gestricktem liebte – Pullover, Schals, Blusen, Tücher, Mäntel. Diesmal trug sie dunkelblaue enge Hosen, die in halbhohen Velourstiefeln steckten, und eine gelbe Strickjacke, die in der Taille mit einem breiten Ledergürtel zusammengebunden war. Mit ihr kam ein unbeschreiblicher Duft nach nassem Laub und reifen Äpfeln in das Zimmer, der den abgestandenen Krankenhausgeruch fast vollständig zu vertreiben vermochte.
Andrea Kantor näherte sich dem Bett ihres Nachbarn, holte aus einer großen Ledertasche zwei riesige Orangen, legte diese auf den Nachttisch und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Ihr aufmerksamer Blick bemerkte sofort die blutunterlaufenen Augen des jungen Mannes.
„Wie geht es dir, Sascha? Was sagen die Ärzte?“
„Was können sie schon sagen? Immer wieder das gleiche:
Bereiten Sie sich auf einen Rollstuhl vor,
Sie werden nicht mehr laufen können,
es gibt keine Wunder in unserer Welt ...
Keine einzige positive Prognose.
Wie in einer Leichenhalle ...“
Saschas Stimme hörte man deutlich die kaum zurückhaltbaren Tränen an. Nur die Anwesenheit einer Frau, die bereits mehr als eine Nachbarin, aber noch zu wenig für eine enge Freundin war, hielt Sascha davon ab, sich vollständig seinem Schmerz hinzugeben. Doch er erholte sich recht schnell und fuhr dann fort: „Danke, Andrea, dass Sie da sind. Mein Gefühlsausbruch tut mir leid. Ich kann nicht mehr. Ich bin müde von allem. Es wäre besser für mich gewesen, bei diesem verfluchten Unfall zu sterben, als wie ein Halbmensch am Leben zu bleiben ...“
„Sascha“, seine Besucherin sah in streng an, „wenn wir weiterhin gute Nachbarn bleiben wollen, bitte ich dich, nie wieder solch furchtbare Worte auszusprechen. Das Leben, das jeder von uns von seinen Eltern als Geschenk erhalten hat, hat einen hohen, den höchsten Wert.
Höhere gibt es nicht.
Keiner von uns hat das Recht, sein Leben einfach wegzuwerfen. Du weißt, dass ich dich wie meinen eigenen Sohn behandele. Er starb bei seinem Unfall sofort und musste nicht leiden wie du. Aber du erholst dich mit der Zeit und wirst weiterleben, während mein Matteo nie wieder zurückkommt ...“ Andrea Kantor legte sanft ihre Hand auf die bandagierte Schulter des Patienten, fasste sich kurz und sprach weiter: „Ich bitte dich wie eine Mutter, die einen Sohn verloren hat – wolle so schnell wie möglich gesund werden. Alles andere ist im Grunde genommen nicht mehr so wichtig.
Gebrochene Knochen werden zusammenwachsen.
Eine Lieblingsbeschäftigung bringt Glück.
Auch ohne Beine kann man sich bewegen und vorwärtskommen.
Nur die Toten kehren nie wieder zurück.
Sie verschwinden für immer in der Ewigkeit.“
Plötzlich sehr aufgewühlt, stand Andrea Kantor auf, winkte seltsam ungelenk und verließ, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer. Ihre große Ledertasche, die sie zuvor neben dem Bett abgestellt hatte, blieb einsam zurück.
Hätte Sascha mit den Schultern zucken können, hätte er dies als Reaktion auf das merkwürdige Verhalten seiner Nachbarin wohl getan. So aber blieb er ruhig liegen und lauschte aufmerksam den Geräuschen vor der halboffenen Tür. Wenige Minuten später hörte er erleichtert, dass sich seinem Zimmer Schritte näherten, und blickte der zurückkommenden Andrea Kantor entgegen. Weder in ihren Bewegungen noch auf ihrem Gesicht bemerkte er eine Veränderung, mit einer kleinen Ausnahme: der leicht verschmierten Tusche um die Augen.
Andrea Kantor setzte sich wieder auf die Kante seines Bettes, erhob sich aber sofort, rückte einen Stuhl heran und machte sich auf diesem bequem.
„Sascha, höre mir bitte aufmerksam zu und sei nicht böse. Alles, was ich dir jetzt erzähle, ist nur für dein Wohl. Du wirst selbst entscheiden müssen, ob du meine Unterstützung brauchst oder nicht. Dein Leben ist dein Leben und ich darf mich nicht darin einmischen. Und auch wenn du meine Worte nicht hören willst, ist das dein gutes Recht. Doch eines möchte ich dir dazu sagen: Jeder Mensch muss dem anderen zuhören, wenn dieser weiser ist als er selbst. Nun, ich bin ein bisschen weiser als du, und wenn du ernsthaft nicht mit mir sprechen möchtest, würdest in diesem Fall du verlieren, nicht ich. Und auch dies bleibt deine eigene Entscheidung.“
„Andrea … Frau Kantor … ich ...“ Saschas Kehle schien sich zu verschließen. Er hustete und schloss kurz die Augen vor Schmerz. „Ich danke Ihnen für Ihre Besuche und Ihre Unterstützung. Bitte, sprechen Sie mit mir, jedes Wort wird mir helfen. Jedes! Vergessen Sie, was ich zuvor gesagt habe, ich war frustriert und unbeherrscht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ich ein Behinderter sein soll ...
Ich kann es nicht.
Und ich will es nicht.“
„‚Ich will nicht, klingt schon viel richtiger!“ Geschäftig zog Andrea Kantor eine kleine Falte ihrer perfekt sitzenden Strickjacke glatt und legte dann ihre Hand auf die nicht bandagierte Schulter des Patienten. Einen Augenblick später änderte sie ihre Entscheidung, zog ihre Hand zurück und legte sie in ihren Schoß. „Die Geschichte, die ich dir erzählen möchte, kennen nicht alle meine Freunde, und auch einige Verwandte wissen nichts davon. Ein Mensch, der eine ernste Krankheit in sich trägt, ist nicht immer bereit, die Nachricht über das Ende seines Lebens eilig mit anderen zu teilen.
Gerade du solltest das sehr gut verstehen.
Wir beide zählen zur Gruppe der Schweigenden. Dass ich dir die folgende Geschichte erzähle, hat nur einen einzigen Grund: Das damalige Geschehen hat nicht nur mein Leben verändert, sondern mich auch vor dem Tod gerettet. Dir wünsche ich ein langes und glückliches Leben. Deswegen bitte ich dich, dass du mich ernst nimmst.“
Sie schwieg wieder und verlor sich in ihren Erinnerungen. Auch Sascha schwieg und schaute seine Besucherin an. Was erwartete ihn?
Würde er von einer wundersamen Operation erfahren?
Eine Geschichte über fantastische Tabletten hören?
Rezepte für ein Wunder erhalten?
Alle seine Erwartungen fokussierten ein einziges Wort.
Dieses Wort füllte seinen Kopf.
Verschob dort alle anderen Gedanken.
Füllte bis zum Rande jede Zelle seines angespannten Körpers.
In seinen Ohren echote das Wort „Hoffnung“.
„Wir haben schon viele schöne Abende auf meiner Terrasse verbracht und wissen einiges voneinander. Ich bin froh, dass das Schicksal unsere Begegnung bestimmt hat … du siehst meinem Sohn sehr ähnlich ...“ Seine Besucherin beugte sich vor und sprach weiter. „Ja, Sascha, im Leben braucht es immer eine Balance. Man darf die Harmonie der Natur nicht verletzen. Auch ein starker Mann kann einen nahestehenden Menschen vermissen.
Auch ihm kann die Liebe fehlen.
Die Person, die dir fehlt, ist deine Mutter Larissa. Ich habe ihr Foto in deiner Brieftasche gesehen. Ich kann natürlich nicht ihre Rolle für dich einnehmen, aber in mir kannst du eine Fortsetzung deiner Familie sehen.
Ganz ehrlich: Ich möchte das Gefühl haben, nützlich zu sein.
Mich wieder als Mutter zu fühlen.
Als Fremde, aber immer noch als Mutter.
Du hast bestimmt bemerkt, dass wir Deutschen weniger emotional als die Russen sind ... doch ich will nicht weiter abschweifen und dich mit Plattitüden langweilen. Du weißt bereits, auf welch traurige Weise mein Sohn gestorben ist, und du bist auch über die Entwicklung meiner Ehe mit Karl informiert. Diese Ereignisse hat mein Körper nie verwunden. Später erlebte ich die bösen Folgen.
Innerhalb einer Minute hatte sich mein ruhiges, angemessenes Leben plötzlich ins Chaos verwandelt, hatte sich mein Leben auf den Kopf gestellt, war mir der Boden unter den Füßen weggerissen worden.
Ich blieb allein.
Mit gebrochenen Knochen.
Ohne Kind.
Vom Ehemann verlassen.
Nutzlos, ohne Aufgabe.
Nach dem Verlassen des Krankenhauses bekam ich Depressionen, Angst vor Menschen und anderen ‚Freuden des Lebens‘, in die sich ein einsamer Mensch stürzen kann. Dann wurde ich schwer krank. Nach ungefähr sechs Monaten diagnostizierten die Ärzte bei mir Krebs. Damals war ich in demselben Zustand wie du heute und träumte auch oft vom Tod. Ich wollte nicht für mein Leben kämpfen.
Ich sah alles schwarz.
Wollte alles vergessen und sterben.
Es war Greta, eine entfernte Verwandte meines Mannes, die mich aus den Depressionen und dem lethargischen Zustand in Erwartung meines Todes riss. Sie wusste nicht einmal etwas von meiner frisch diagnostizierten Krankheit. Greta besuchte mich oft, und eines Tages fragte sie mich, ob ich nicht Lust hätte, mit ihr nach Sri Lanka zu reisen.
Wozu?
Das Angebot überraschte mich. Jetzt? Und warum ausgerechten dorthin, an einen Ort, der mir fast wie das Ende der Welt erschien?
Erst viel später erfuhr ich, dass Greta dieses Ziel lange und bewusst gesucht hatte. Sie wollte unbedingt an einen Ort, an dem ich wieder auf die Beine finden, wieder hochkommen würde.
An dem ich wieder zurück ins Leben gestoßen werden konnte.
Freude und Vergnügen wiederentdecken.
Der mir die Suche nach einem neuen Glück erleichtern würde.
Bis zum Ende meines Lebens werde ich Greta dankbar sein. Sie hatte genug Geduld und Hartnäckigkeit, mich zu überzeugen und mit ihr fünf Wochen ins unbekannte Ausland zu reisen.“ Andrea Kantor unterbrach und blickte Sascha verständnisvoll an. „Aber sag, bist du nicht müde?“ Sie wandte den Kopf zur Tür, denn im selben Augenblick betrat eine Krankenschwester das Zimmer. Auf ihrem Gesicht lag ein freundliches Lächeln.
„Für unseren Patienten ist es Zeit für die Pflege und seine Behandlungen. Sie können auf dem Flur warten, aber besser ist, Sie kommen morgen wieder.“
Andrea Kantor erhob sich langsam von ihrem Stuhl und sprach zu Sascha:
„Ich komme morgen, dann reden wir weiter. Brauchst du etwas? Bücher, Zeitungen, frisches Obst?“
„Nein, danke. Kommen Sie wieder, Andrea. Ich möchte Ihre Geschichte gerne zu Ende hören.“
Andrea Kantor streichelte mit dem Handrücken zärtlich Saschas Wange, lächelte ermutigend und ging zur Tür.
Jemand, der diese schlanke, energiegeladene Person von weitem sah, hätte niemals geahnt, dass sie über sechzig war. Sie war das blühende Leben.
„Eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen.“ (Koh 3,3)