Читать книгу Falling Skye (Bd. 1) - Lina Frisch - Страница 10

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Dass mein Handy zu Boden gefallen ist, bemerke ich erst, als Dad sich danach bückt. Anstatt es zurück in meine zitternde Hand zu legen, führt er mich zu unserem Sofa und wartet geduldig, bis ich mich hingesetzt habe. Er trägt noch immer sein Jackett und sieht darin auf einmal eigentümlich schmal aus.

»Was bedeutet das?« Die Stimme aus meinem Mund klingt nicht wie meine eigene, und ich wende den Blick ab, damit Dad nicht sieht, dass mir Tränen in die Augen steigen.

Bescheid zur Testung für Skye Anderson. Anreise zum Athene-Zentrum erfolgt per Zug. Finden Sie sich am Samstag an der Central Station ein. Das muss ein Fehler sein. Es ist die einzig logische Erklärung, die mir einfällt – schließlich bin ich noch nicht einmal volljährig! Wahrscheinlich wurde ich bloß mit jemandem aus der Abschlussklasse verwechselt.

»Wir sollten besprechen, was jetzt zu tun ist«, sagt mein Vater mit ernster Stimme und mein Herz sinkt.

Die Administration macht keine Fehler. Mein Vater weiß das und tief in mir drin weiß ich es ebenfalls.

»Aber Cara wurde doch auch erst nach ihrem Achtzehnten getestet«, bringe ich stockend heraus. Wie neidisch ich auf das ältere Mädchen aus der Nachbarschaft war, als sie vor einem Jahr zur Testung aufbrach! Jetzt fühle ich mich einfach nur überfahren. »Man wird mit achtzehn getestet, nach dem Abschluss. So sind die Regeln. So steht es doch in der Ordnung!«

»Ab diesem Jahr nicht mehr«, erwidert mein Vater mit steinerner Miene. »Dein gesamter Jahrgang ist einberufen worden.«

Jetzt weiß ich, warum Dad sein Telefonat so abrupt beendet hat, als er zur Tür hereinkam, und warum seine Stimme so ungläubig klang. Vermutlich hat er dem Kollegen, der ihn vorwarnen wollte, nicht geglaubt, bevor er den Bescheid seiner Tochter mit eigenen Augen gesehen hat. Für einen Moment meine ich, so etwas wie Mitleid in seinem Blick zu erkennen.

»Das Verfahren ist gerade einmal vier Jahre alt, da können rasche Änderungen schon mal vorkommen.« Dad legt seine kühle Hand auf meine Schulter. »Hör zu, Skye. Ich weiß nicht, was den Rat zu dieser Entscheidung bewogen hat, aber wir müssen jetzt das Beste daraus machen. Verstehst du das?«

Nein. Ich verstehe das nicht, denn so sollte mein Leben nicht verlaufen. Ich sollte mich noch zwei Jahre lang über Jasmine ärgern und Sprintwettbewerbe laufen. Ich sollte Elias endlich sagen, was ich für ihn empfinde. Ich sollte ein Abendkleid für unseren Abschlussball kaufen und mit Elias eine passende Krawatte aussuchen. Ich bin noch nicht bereit, eine erwachsene Traitträgerin zu werden!

»Wir können nichts dagegen tun.« Mit seinen hängenden Schultern und den Falten im Gesicht sieht mein Vater auf einmal erschreckend alt aus.


Als ich an diesem Abend meine Patchworkdecke über mich ziehe, bringe ich es einfach nicht über mich, die Augen zu schließen. Starr auf der Seite liegend, betrachte ich den leuchtenden Miniglobus in der Steckdose neben meinem Schreibtisch, den Dad vor vier Jahren installiert hat. Er fängt an zu leuchten, sobald draußen die Dämmerung aufzieht. Die meisten Kinder werden ihr Nachtlicht mit zwölf Jahren los, anstatt eins zu bekommen, aber sein schwacher Schein war das Einzige, was half, meine Albträume zu verdrängen. Dad glaubt, Mums Verschwinden sei der Auslöser für den Horror meiner Nächte gewesen. Ich habe es in seinem Gesicht gesehen, wenn er mich schweißgebadet und zitternd in meinem Bett gefunden hat und wissen wollte, was ich geträumt habe. Doch auf diese Frage konnte ich ihm nie eine Antwort geben.

Ich presse mein Kissen an mich und nehme mein Smartphone vom Nachttisch, aber das Internet hat sich schon ausgeschaltet. Unten wird ein Stuhl zurechtgerückt, dann der Fernseher ausgeschaltet.

Übermorgen.

Schwere Schritte erklingen auf der Treppe, gehen vom Arbeitszimmer ins Bad und vom Bad ins Schlafzimmer. Ungeduldig werfe ich mich unter meiner zu warmen Decke hin und her, aber an Schlaf ist nicht zu denken, und so schlüpfe ich schließlich aus meinem Bett und trete ans Fenster. Die Straße unter mir ist ausgestorben und die Häuser sind dunkel. Nur direkt nebenan, in dem Fenster, nach dem ich gesucht habe, brennt noch Licht.

Bescheid zur Testung für Skye Anderson. Anreise zum Athene-Zentrum erfolgt per Zug. Finden Sie sich am Samstag an der Central Station ein.

Dann kamen Hinweise über Gepäckbegrenzungen und eine Erklärung, dass die Serenity-Highschool automatisch alle verfügbaren Daten übersendet.

Auf einmal weiß ich nicht mehr, wie ich Dads gut gemeinte Ratschläge, die fast schlimmer waren als sein hilfloses Schweigen, und meine eigenen erstickenden Gedanken so lange ertragen konnte. Ich horche ein letztes Mal ins Haus hinein, aber mittlerweile ist alles still. Leise schlüpfe ich in meine weichen Sandaletten und greife nach einer Strickjacke, bevor ich mein Fenster so weit wie möglich öffne und die frische Nachtluft ins Zimmer strömen lasse. Ich setze mich auf die Fensterbank und schwinge meine Beine über den Sims. Nicht einmal der Gedanke an die Dunkelheit da draußen hält mich zurück.

Meine Füße finden Halt auf der glatten Oberfläche des Vordachs. Es ist einfacher als beim letzten Mal, an das ich mich erinnern kann, aber immerhin muss ich seitdem auch um mindestens zehn Zentimeter gewachsen sein. Ich rutsche bis zum äußersten Ende des kleinen Vordachs, dann springe ich herunter und lande mit beiden Füßen auf dem harten Rasen unseres Vorgartens.

Das leise Tappen meiner Schritte ist das einzige Geräusch, als ich über den Bürgersteig laufe. Kurz darauf presse ich mich gegen die hölzerne Wand des Nachbarhauses. Vielleicht ist es leichtsinnig, was ich hier tue, aber ich kann nicht anders. Nicht, nachdem drei furchtbar nüchterne Sätze mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt haben.

»Elias?« Es ist nur ein Flüstern, doch sein Fenster steht auf Kipp. »Elias!«

Als sein Gesicht über mir auftaucht, bekomme ich zum ersten Mal, seitdem ich meinen Bescheid gelesen habe, wieder richtig Luft. Er wirft einen hastigen Blick über die leere Straße.

»Gib mir eine Viertelstunde. Wir treffen uns am Baumstamm.«

Das Fenster schließt sich mit einem Klack. Elias hasst Regelverletzungen beinahe so sehr wie ich die Dunkelheit, aber das hier kann nicht bis morgen warten. Ich laufe die Straße entlang, in der ich groß geworden bin, und weiche den Lichtkegeln der Laternen dabei aus, so gut es geht. Einmal bleibe ich stehen, weil ich mir einbilde, das Geräusch von Schritten in der nächtlichen Stille zu hören, doch dann schüttle ich den Kopf über mich selbst. Die Administration würde keinen Ordnungswahrer darauf verschwenden, um in Upperlake die Einhaltung der Sperrstunde zu kontrollieren. Die haben genug damit zu tun, die Clubs und Bars in der Innenstadt zu schließen, deren Betreiber ein paar der lästigeren Ordnungserweiterungen gern mal umgehen.

Am Ende der Straße grenzt der Bürgersteig an eine hohe Hecke, hinter der sich das Niemandsland rund um den See verbirgt. Die Bewohner der hübsch gestrichenen Häuser gegenüber wollen nicht an den tödlichen Unfall erinnert werden, nach dem das Paradies meiner Kindheit vor einigen Jahren für Fußgänger und Badegäste verschlossen wurde. Hinter der letzten Laterne biege ich ein paar störrische Zweige auseinander und schlüpfe durch die Öffnung.

»Bist du sicher, dass wir das schaffen?«

»Gib mir deine Hand.«

Ich lächle, als sich der Nachmittag zurück in meine Gedanken drängt, an dem wir diesen Geheimgang entdeckt haben. Damals passten wir noch mühelos durch die Lücke, für die ich nun die Luft anhalten muss.

Hinter der Hecke umfängt mich eine undurchdringliche Dunkelheit. Die tiefe Schwärze der Nacht lässt mein Herz panisch schlagen, und ich wünschte, ich könnte die Taschenlampe meines Handys aufleuchten lassen. Aber es wäre leichtsinnig gewesen, das Smartphone mitzubringen. Seine Ortungsfunktion erfasst jeden meiner Schritte, und das Letzte, was ich jetzt brauche, ist Ärger wegen eines Ausflugs in eine gesperrte Zone. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich erkenne das wilde Gebüsch, das die alten Wege überwuchert. Der Wald, der den See umgibt, ist mit den Jahren dichter geworden und ich muss meine Strickjacke immer wieder von einer widerhakenden Ranke lösen.

Nach ein paar Schritten stehe ich vor einem mächtigen Baumstamm. Er liegt quer über dem Weg, der mal zum Steilufer geführt hat. Ich streiche über das morsche Holz und atme den moorigen Geruch ein, den der See verströmt. Mit geübten Bewegungen klettere ich auf den Stamm. Während ich den klaren Himmel durch die Baumwipfel über mir betrachte, spüre ich, wie die Enge in meiner Brust verschwindet, je weiter mein Blick über die vertraute Umgebung wandert. Es gibt nichts, wovor ich mich fürchten müsste. Zumindest nicht hier.

Ich höre dem Rauschen des Flusses zu, der ganz in der Nähe in den See fließt und dem Gewässer seine tückische Strömung verleiht. Vielleicht ist es ja sogar gut, nicht mehr zwei ganze Sommer lang warten zu müssen, bis sich das Geheimnis der Testung endlich lüftet. Es ist wie mit einem Pflaster: Man kann es langsam und qualvoll abziehen oder es so schnell abreißen, dass man den Schmerz kaum spürt.

Ein knackender Zweig lässt mich vor Schreck beinahe vom Baumstamm fallen. Für einen Moment ist alles still, doch dann höre ich etwas näher kommen. Oder jemanden?

»Elias?«

Keine Antwort. Es hätte mich auch gewundert, denn die hastigen Bewegungen klingen nach Kopflosigkeit, nicht nach der Vorsicht, mit der Elias sich früher hier bewegt hat – schon mit elf Jahren darauf bedacht, nicht in einer gesperrten Zone erwischt zu werden. Ich lasse mich leise auf der anderen Seite des Baumstamms hinabgleiten und schleiche geduckt in das Dickicht der Bäume. Wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem ich gerade noch gesessen habe, läuft jemand vorbei, ohne sich umzuschauen. Verwirrt starre ich dem Schatten hinterher. Wer sich auskennt, umrundet den See rechts herum, in der Sicherheit des Waldes, und gelangt nach einem Marsch von zehn Minuten zu den sanften Buchten, in denen man bedenkenlos schwimmen kann. Ich kneife die Augen zusammen. Die Schneise, die mein Vorgänger durch den Wildwuchs geschlagen hat, führt nach links. Damit steuert der Unbekannte geradewegs auf das Steilufer zu!

»Hallo?«

Unsicher lausche ich in die Dunkelheit. Die Bäume verdecken die meterhohen Klippen. Ein falscher Schritt genügt … Ich sollte zurück zum Baumstamm gehen und auf Elias warten. Wer weiß, ob jemand, der nachts durch eine gesperrte Zone sprintet, nicht gefährlich ist. Ich habe mich schon umgedreht, als ein dumpfer Aufprall ertönt. Es folgt ein erstickter Schrei, der meine Sinne gesammelt Alarm schlagen lässt. Wer auch immer sich da draußen herumtreibt, er ist in Gefahr!

So schnell ich kann, renne ich zwischen den Bäumen hindurch und gelange innerhalb von wenigen Minuten zum Ufer. Anders als in unserer kleinen Bucht neigt es sich hier steil hinunter zum See, dessen Strömungen Elias und ich an dieser Stelle aus gutem Grund immer gemieden haben. Ich bleibe stehen und klammere mich gerade noch rechtzeitig an einem Ast fest, um nicht den Halt zu verlieren. Der Vollmond wirft seinen Schein auf die Schwärze unter mir. Ein paar losgetretene Steine rollen dumpf den Abhang hinunter. Und da höre ich es. Ein Keuchen, dann schlagende Geräusche, als würde sich jemand mit rudernden Armen verzweifelt über Wasser halten. Mit angehaltenem Atem erkenne ich eine Gestalt. Sie wird vom Sog des durch den See führenden Flusses hinausgetrieben, dahin, wo der Staudamm das offene Wasser in eine Todesfalle für ungeübte Schwimmer verwandelt. Ein paar Sekunden lang lähmt mich der Anblick des immer wieder untergehenden Körpers. Rentnerin im Upperlake-See ertrunken: Naturparadies wegen tödlicher Strömung zur Sperrzone erklärt. Das war die Schlagzeile, nach der niemand je wieder einen Fuß in das Gebiet des Sees gesetzt hat. Niemand außer Elias und mir. Zumindest bis heute.

Die Spitzen meiner Sandalen ragen über den Abgrund. Ich sollte Hilfe holen, aber die Bewegungen des Menschen da draußen werden immer schwächer. Bevor ich es mir anders überlegen kann, springe ich in die Tiefe.

Das kühle Wasser des Sees umfängt meinen Körper. Für einen kurzen Moment verliere ich die Orientierung, aber als meine Finger den sandigen Boden berühren, stoße ich mich mit aller Kraft nach oben ab. Augenblicke später durchbreche ich die Wasseroberfläche und schnappe nach Luft. Wo ist er? Ich recke den Hals, während die Strömung mich in die Richtung ihres ersten Opfers treibt. Da! In einiger Entfernung sehe ich seine Arme. Meine Strickjacke hat sich mit Wasser vollgesogen und zieht mich nach unten. Ich habe nicht daran gedacht, sie auszuziehen.

Ich habe überhaupt nicht nachgedacht.

Halt durch, flehe ich den Ertrinkenden innerlich an, während ich verbissen gegen die Strömung ankämpfe, die mich zum Staudamm zieht. Doch die rudernden Arme werden immer weiter von mir fortgetrieben und Panik schnürt meine Kehle zu. Wenn ich denjenigen, der da draußen um sein Leben ringt, noch rechtzeitig erreichen will, muss ich mich mitreißen lassen. Das bedrohliche Rauschen des Staudamms in meinen Ohren, beginne ich, mit der Strömung zu schwimmen. Ein Kopf taucht vor mir auf, blonde Haare glänzen im Mondlicht, aber der Junge hat aufgehört zu kämpfen. Energisch stoße ich mich vorwärts und gelange schließlich auf seine Höhe. Ich bekomme seinen Arm zu fassen und ziehe den bewegungslosen Körper mit aller Kraft zu mir heran. Panisch versuche ich, zu Atem zu kommen, während der Fluss uns immer schneller mit sich forttreibt. Wir müssen aus der Strömung heraus! Ich schlucke Wasser, während ich den Jungen um den Bauch fasse und seinen Kopf auf meine Schulter lege. Der Blonde ist schlank, doch sein Gewicht ist zu viel für mich. Wir beginnen zu sinken, aber ich weigere mich aufzugeben, obwohl ich das Gefühl in meinen Beinen schon lange verloren habe. Das ist nur ein weiterer Wettkampf, rede ich mir ein.

Wenn Elias doch nur hier wäre!

Verzweifelt versuche ich, mich an die Rettungsgriffe des Schwimmteams zu erinnern. Ich bringe uns beide mühsam in Rückenlage und halte den Kopf des Blonden mit einer Hand. So kräftig es geht, stoße ich uns mit den Beinen Richtung Ufer. Ich schaffe es, nicht weiter abgetrieben zu werden. Langsam, entsetzlich langsam strample ich uns aus dem Sog heraus. Minuten dehnen sich zu Stunden, als ich endlich eine der Baumwurzeln zu fassen bekomme, die vom Ufer aus in den See ragen. Ich setze meine Füße auf festen Grund und versuche keuchend, meinen Atem zu beruhigen, während ich meine Last an Land ziehe. Wenigstens wurden wir weit genug abgetrieben, um am flachen Ufer zu landen. Doch meine Erleichterung darüber verschwindet, als ich in das kalkweiße Gesicht unter mir im Sand blicke.

»Colin!«, flüstere ich und schlage ihm gegen die eiskalten Wangen, während ein erneuter Strudel droht, mir den Boden unter den Füßen wegzureißen. Nur langsam beginne ich zu begreifen, wen ich gerade aus dem verbotenen See gefischt habe. »Verdammt, Colin!«

Elias’ bester Freund trägt noch immer den hellblauen Pullover der Serenity-Schuluniform. Ich denke an gestern Abend, als ich ihn von meinem Fenster aus beobachtet habe. Den arroganten Colin, den Goldjungen unserer Schule, den ich noch nie leiden konnte. Zitternd vor Anstrengung, reiße ich den Stoff seines engen Pullovers am Kragen auf und ziehe ihn ihm über den Kopf. Dann lege ich meine Hände auf seine Brust und drücke ruckartig zu. Einmal, zweimal.

»Komm schon«, flüstere ich, doch Colin rührt sich nicht.

Eine ungekannte Art von Angst steigt in mir hoch, schlimmer als alles andere, was ich jemals empfunden habe. Colin könnte sterben. Er könnte tot sein, weil ich nicht gut genug war, um ihn zu retten. Ich muss mich konzentrieren. Ich muss es schaffen. Ich muss! Ich lege meine Hand unter sein Kinn und beuge mich über ihn, um ihn zu beatmen. Da spüre ich mit einem Mal, wie die Kontrolle zurück in seinen Körper fährt. Hustend übergibt er das Wasser, das er geschluckt hat, während ich seinen Kopf hastig zur Seite drehe.

»Es ist okay, alles ist gut«, höre ich mich stottern und weiß nicht, ob ich ihn oder mich selbst meine.

Colins Finger krallen sich in meine Schultern, als würde er noch immer sinken, und ich bin nicht herzlos genug, um mich zu befreien. Langsam begreift sein Körper, dass Luft in seine Lungen strömt, und Colin lässt mich los. Sein Brustkorb hebt und senkt sich in kurzen Abständen, während er allmählich zu sich kommt.

»Der Bescheid.« Colins Stimme ist kaum hörbar, doch ich lese die Worte von seinen farblosen Lippen.

Plötzlich steigt eine schreckliche Vorstellung in mir auf. Hat Colin sich absichtlich in den See gestürzt? Hat ihn der Testungsbescheid so sehr aus der Bahn geworfen, dass er sein Leben aufgeben wollte? Nein, das kann nicht sein. Colin ist der rationalste Mensch, den ich kenne. Er braucht keine Angst vor dem Urteil des Konsiliums zu haben.

Aber wenn er so rational ist, wie du glaubst – was macht er dann halb ertrunken am Ufer eines gesperrten Sees?

»Skye?«

Bei dem entfernten Klang von Elias’ besorgter Stimme fahre ich zusammen und schaue an mir herunter. Meine Schlafanzughose klebt an meinen von Schrammen übersäten Beinen, aus meiner Strickjacke und meinen Haaren tropft das Seewasser.

»Dir ist klar, dass niemand erfahren darf, was heute Nacht passiert ist?« Colin rappelt sich mühsam auf. »Nicht einmal Elias.« Seine Stimme klingt noch ein wenig rau vom Wasser, doch das kaschiert ihren drohenden Unterton nicht im Geringsten.

»Skye!«

Ich höre, wie Elias uns immer näher kommt, und wünsche mir, seinen Namen in die Nacht rufen zu dürfen, damit er mich findet und das alles hier ein Ende hat.

Ich fixiere Colin. »Bist du gefallen?«, bricht es aus mir heraus.

»Was denkst du denn?«, erwidert Colin. »Ich wollte bloß den Kopf frei kriegen und habe die Kante übersehen. Selbstmord ist was für Emotionale.«

»Natürlich.«

Rationale finden für alles eine Lösung. Colin würde nicht einmal daran denken, sich derart von seinen Gefühlen überwältigen zu lassen.

Und warum war er dann überhaupt hier?

Ich streiche mir die nassen Haare aus der Stirn.

»Hör mir zu, Skye. Niemand von uns sollte in einer gesperrten Zone sein. Du hast eine gewaltige Dummheit begangen.« Colin scheint nicht zu bemerken, dass er meinen Arm gepackt hat. Sein fester Griff schmerzt.

»Ich habe eine Dummheit begangen? Ich habe dich gerettet!« Aufgebracht reiße ich mich los. Behandelt Colin mich ab und an herablassend? Ja. Sieht er mich nur, wenn ich im Doppelpack mit Elias auftauche? Normalerweise. Trotzdem hat er noch nie versucht, mir Angst zu machen. Ich weiche einen Schritt zurück.

»Sie werden erfahren, dass wir emotional gehandelt haben.« Colin senkt seine Stimme zu einem Flüstern. »Wenn Elias es weiß, werden sie es erfahren.«

Ich spüre dasselbe Adrenalin zurück in meine Adern fließen, das mich gegen die Strömung gewinnen ließ. Colins Worte ergeben keinen Sinn, aber warum fühle ich mich dennoch, als wäre ich jetzt in größerer Gefahr als in den Strudeln des Sees? Durch das Unterholz dringen eilige Schritte an mein Ohr.

»Halte dich links, wenn du ihm nicht begegnen willst«, sage ich tonlos und Colin nickt.

»Ich nehme das als Einverständnis.« Er ist schon fast zwischen den Büschen verschwunden, als er sich noch einmal umdreht. »Skye? Danke.«

Unsere Blicke kreuzen sich. Während ich beobachte, wie er geräuschlos im Wald verschwindet, frage ich mich, ob Colins Worte weniger eine Drohung als eine Warnung waren. Er mag über dem Bescheid die Beherrschung verloren haben, aber Hals über Kopf in einen See mit tödlicher Strömung zu springen, wie ich es getan habe, war nicht weniger impulsiv. Eine Rationale hätte nicht zwei Leben riskiert, sie hätte Hilfe geholt, klar gedacht, die Situation analysiert. Schaudernd schlinge ich meine Arme um meinen Oberkörper.

Nie zuvor in meinem Leben habe ich ernsthaft daran gezweifelt, wer ich bin. Bis jetzt.

Falling Skye (Bd. 1)

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