Читать книгу Falling Skye (Bd. 1) - Lina Frisch - Страница 14

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Regen prasselt auf den sauberen Asphalt und färbt die Straße dunkel. Ich ziehe meine Jacke enger um mich, während Dad mit meinem Koffer zum Auto eilt.

»Der einzige Haken an der neuen Hauptstadt ist ihr Wetter«, seufzt er und zieht hinterm Steuer seinen Regenüberwurf aus.

New York hat Washington im selben Moment als Sitz des Präsidenten abgelöst, in dem Amerika zu den Gläsernen Nationen wurde. Seitdem gibt es auch keine Bundesstaaten mehr, sondern Bezirke. Für mich ist es normal geworden, von F und J und L zu reden, aber die meisten Erwachsenen tun sich schwer damit, die alten Namen zu vergessen.

Mein Vater tritt aufs Gaspedal und ich werde in den Sitz gepresst. Sobald sich der Autopilot eingeschaltet hat, erscheinen auf der Windschutzscheibe die Frühnachrichten.

»Hat die Suche am Fluss etwas Neues ergeben?«, frage ich beiläufig.

Mein Vater schüttelt den Kopf. »Wir haben die Fahndung noch heute Nacht eingestellt. Es gab ja auch keine Vermisstenmeldung. Der Junge muss also überlebt haben, aber ich mache mir trotzdem Sorgen um ihn.« Auf der Windschutzscheibe schaltet das Studio zu den anstehenden Beitrittsfeierlichkeiten in Kanada, doch Dad beachtet sie nicht. Stattdessen sieht er mich forschend an. »Wenn du diesen Jungen kennst, Skye –«

»Tue ich nicht«, falle ich ihm ins Wort.

Mein Vater nickt. »Ich weiß, dass du deine Freunde für Rationale hältst. Aber es ist nicht jeder wie wir. Wer sich von dem Bescheid so sehr aus der Bahn werfen lässt, dass er sein Leben aufs Spiel setzt, ist ein Musterbeispiel für die Impulsivität, die ihn selbst und andere gefährdet. Vor der wir und bald auch du ihn schützen müssen. Ein Rationaler hätte sich niemals in solch eine Gefahr gebracht.« Dad wendet seinen Blick nicht von mir ab, während das Auto sich selbst durch die Straßen manövriert. »Der Administration läge viel daran, so bald wie möglich mit ihm zu sprechen. Du weißt also wirklich nicht, wer er ist?«

Ich denke an Colins starren Blick auf den Monitor der Cafeteria, während die Regentropfen auf das Autodach prasseln. Die Testung ist seine Chance zu beweisen, wer er wirklich ist. Genau wie meine.

»Nein«, sage ich und bemühe mich um einen lockeren Tonfall. »Ich habe keine Ahnung.«

Die Central Station nimmt hinter den dichten Regenschleiern langsam Gestalt an und Dad parkt ein wenig abseits vom Eingang des alten Gebäudes.

»Hier steht, dass du zu Gleis 4 musst«, sagt er mit einem Blick auf den Bescheid auf meinem Smartphone.

Meine Fingerknöchel umklammern den Griff meines Rucksacks so fest, dass sie weiß werden. Um uns herum halten immer mehr Autos, Eltern steigen mit ihren Kindern aus und bleiben mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken zurück. Stolz, Selbstsicherheit, Besorgnis. Ich beobachte die anderen Expektanten, beladen mit Koffern und Taschen, die Lippen fest zusammengepresst. Sie sehen ebenso nervös aus, wie ich mich fühle. Meine Finger tasten nach dem Kohlestift in meiner Jackentasche. Ich hasse meine Mutter nicht. Auf ihre seltsame Weise hat sie mich geliebt, glaube ich, genauso wie mein Vater mich liebt, obwohl er es nicht zeigen kann. Bestärkt von dieser Gewissheit, öffne ich die Autotür.

Dad hält sich zum Schutz vor dem prasselnden Regen die Hand über die Augen, während er meinen Koffer vom Rücksitz auf die Straße hebt. »Soll ich ihn für dich reintragen?«, fragt er, aber ich schüttle den Kopf.

»Ist nicht nötig, danke.«

Einen Moment lang stehen wir uns unschlüssig in der Dämmerung des frühen Morgens gegenüber. Ich weiß nicht, wann wir uns zum letzten Mal umarmt haben, aber selbst in diesem Moment würde es sich unpassend anfühlen. Zum Glück scheint mein Vater das ähnlich zu empfinden. Doch als ich schon den ersten Schritt in Richtung der roten Markisen vor dem Bahnhof gemacht habe, hält seine feste Stimme mich noch einmal zurück.

»Als meine Einwanderung nach Amerika bewilligt wurde, habe ich mich sofort an der Cremonte-Uni beworben. Natürlich hieß sie damals noch anders, aber ihren guten Ruf hatte sie schon zu meiner Zeit. Ich musste mit drei Koffern vier Mal umsteigen und zwei Stationen hatten auch noch defekte Rolltreppen.« Dad lächelt. »Habe ich dir jemals erzählt, wie nervös ich war? Damals hatte ich noch einen ordentlichen schwedischen Akzent und glaubte, niemals mit dem Tempo der Professoren mitzukommen.«

Du hast mir nie etwas von alldem erzählt, denke ich mit einem Anflug von Traurigkeit. Auf einmal spüre ich die Hand meines Vaters auf meiner Schulter.

»Du bist wie ich, Skye, das warst du immer schon. Du schaffst alles, was du dir vornimmst. Wenn du willst, fahren wir in den Sommerferien zusammen nach Long Island und schauen uns schon mal auf dem Campus um. Die Aufnahme an der Cremonte-Uni könnte unsere Familientradition werden, was hältst du davon?«

Eine Lautsprecherdurchsage dringt aus dem Inneren des Bahnhofs heraus, und ich greife nach meinem Koffer, um die Hitze auf meinen Wangen zu verbergen.

»Klingt gut, Dad. Aber wenn ich jemals an der Cremonte landen will, sollte ich den Zug jetzt nicht verpassen.« Ich lächle ihm zu.

Mein Vater tritt zurück und öffnet die Fahrertür, bevor er es sich doch noch einmal anders überlegt und mich über das regennasse Autodach hinweg mit einem ernsten Blick bedenkt. »Sie werden es euch nicht leicht machen, Skye, aber du darfst nicht vergessen, wer du bist. Was auch immer im Zentrum passiert, verteidige deinen Platz. Nur weil –« Er stockt und sieht mich an. »Gib ihnen einfach keinen Grund, an dir zu zweifeln, in Ordnung?«

Diese kryptischen Andeutungen passen so gar nicht zu meinem Vater, der mich normalerweise mit seinen überkorrekten Befehlen nervt. Er steigt ins Auto.

»Dad?« Ich hämmere gegen das Fenster der Beifahrertür und kümmere mich nicht um die dicken Regentropfen, die mir in den Nacken laufen. »Was soll das heißen, Dad?«

Der Motor des Wagens brummt ungeduldig, aber mein Vater lässt die Fensterscheibe noch einmal herunter. »Geh in den Bahnhof.«

Ich rühre mich nicht vom Fleck, obwohl der Regen nun mit voller Wucht auf meinen Kopf prasselt. »Warum soll ich meinen Platz verteidigen? Was passiert im Zentrum?«

Mein Vater löst meine klammen Finger von der Scheibe. »Wir wollen doch nicht so aussehen, als würden wir aus diesem Abschied eine Szene machen, oder?« Sein vertraulicher Ton von eben ist fort und seine Stimme klingt so nüchtern wie immer. Frustriert schultere ich meinen Rucksack.

»Skye?« Ich drehe mich ein letztes Mal um. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«

Das Auto fährt mit den Antworten auf meine Fragen davon und lässt mich inmitten einer Herde von Expektanten zurück, die mich schicksalsergeben mit sich ins Bahnhofsinnere zieht.


»Bescheid und Identifikation.« Zwei Mal pro Eingang hallt diese Anweisung durch die weitläufige Bahnhofshalle. »Bescheid und Identifikation.« Ich halte der Frau, auf deren Anorak ein rundes O prangt, mein Smartphone mit den geöffneten Dokumenten entgegen.

»Gleis 4, der Zug nach Bezirk F«, sagt die rothaarige Ordnungswahrerin und gibt mir mein Smartphone zurück.

Bezirk F?

»Ich komme aus New York«, stelle ich verwirrt klar. »Ich werde hier getestet.«

»Das ist wegen der dreifachen Anzahl von Expektanten in diesem Jahr nicht möglich«, erwidert die Ordnungswahrerin gelangweilt, als hätte sie diesen Umstand heute schon tausend Mal erklären müssen. »Hier in Bezirk A bleiben nur die Expektanten, die dieses Jahr regulär zur Testung einberufen worden wären. Die Sechzehn- und Siebzehnjährigen mussten wir aufteilen. Sieh es positiv, in F scheint wenigstens die Sonne.« Sie tritt zur Seite und winkt den Jungen hinter mir heran, sodass mir keine andere Möglichkeit bleibt, als weiterzugehen.

Um diese frühe Uhrzeit brummt es in der Ankunftshalle sonst von Pendlern, doch heute sehe ich nur Jungen und Mädchen in meinem Alter, die alle zu wissen scheinen, wo sie hinmüssen, während mein Koffer und ich völlig durchnässt in unserer eigenen Regenwasserpfütze stehen. Auf einer Anzeige wechseln sich das Wetter, die Zeit und das Datum ab. Der dritte Juni. Du bist jetzt sechzehn Jahre alt, denke ich und dränge die heißen Tränen zurück. Entschlossen laufe ich los und steuere auf den Bahnhofsplan zu, vor dem sich bereits eine Traube von Expektanten versammelt hat. Einige von ihnen tragen das Logo der Serenity auf ihren Rucksäcken oder Jacken, und ich klammere mich an die Hoffnung, nicht als Einzige nach F geschickt zu werden. Ein paar bekannte Gesichter würden allem, was hier vorgeht, wenigstens einen Hauch von Normalität verleihen.

Helles Licht blendet mich von oben. Mein Blick fällt auf die Ordnungswahrer, die von der Ballustrade aus auf uns hinabschauen. Durch die exakt gleichen Abstände, mit denen sie sich postiert haben, erinnern sie mich an Spielfiguren, die ein besonders ordentliches Kind aufgestellt hat. Jeder zweite von ihnen kehrt uns den Rücken zu, und ich begreife, dass die Hälfte von ihnen die Parkstreifen rund um den Bahnhof beobachtet, wo wir uns von unseren Eltern verabschiedet haben. Auf einmal ergeben Dads Eile und die fehlende Umarmung einen Sinn. Ich senke meinen Kopf und tue so, als hätte ich die Augenpaare über uns nicht bemerkt. Wir sind zwar noch nicht im Zentrum angekommen, aber unsere Testung hat schon längst begonnen.

Ich folge den Pfeilen, die mir den Weg zu Gleis 4 weisen. Um mich herum werden Reiserucksäcke und Koffer durch die Gegend getragen. Ich klammere mich an den Griff meines eigenen, bis ich vor den Stufen einer Rolltreppe stehen bleibe.

»Zweifel in letzter Minute?«

Beinahe wäre ich gestolpert, aber jemand schiebt meinen Koffer und mich auf das Band und ich finde gerade noch rechtzeitig mein Gleichgewicht wieder. Als ich mich umdrehe, empfängt mich ein breites Lächeln.

»Manchmal ist ein kleiner Anstoß alles, was nötig ist«, fügt das blonde Mädchen auf der Stufe unter mir augenzwinkernd hinzu.

Ich werfe einen Blick zurück auf die Traube von Expektanten unter uns. »Es tut mir leid, wenn ich den Verkehr aufgehalten habe«, entschuldige ich mich.

Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. »Kein Problem. Ich habe es nicht besonders eilig, für unbestimmte Zeit in einen Zug voller aufgedrehter Jugendlicher gesperrt zu werden.« Sie grinst mich verschwörerisch an, als würden wir beide nicht zu dieser verwerflichen Gruppe zählen, und ich lächle zurück. Eine Art träumerische Selbstsicherheit umgibt sie, die überhaupt nicht angeberisch wirkt. Ich mag sie auf Anhieb.

Wir folgen einem langen Gang, durch dessen Fenster die ersten Sonnenstrahlen des Tages fallen.

»Bezirk F, nehme ich an?«, fragt das Mädchen und ich nicke. »Ich bin übrigens Luce.«

Mit ihrer durchscheinend hellen Haut und den weißblonden Haaren, die ihr wirr über den Rücken fallen, gibt es keinen Namen, der besser zu ihr passen würde.

»Skye«, sage ich und halte Luce die Hand hin, was mir im selben Moment furchtbar albern vorkommt. Doch Luce ergreift sie mit völliger Selbstverständlichkeit.

»Na dann, auf in den Kampf«, verkündet sie, als sich die letzte Schiebetür zum Bahnsteig öffnet und einen silbernen Schnellzug enthüllt, der auf den Schienen liegt wie eine gigantische schlafende Schlange.

Ich folge Luce hinaus und kontrolliere ein letztes Mal, ob wir am richtigen Gleis angelangt sind. Hier draußen in der kühlen Morgenluft, fernab der klammen Abschiedsstimmung der Halle, fühle ich ein Kribbeln in mir aufsteigen. Ich werde verreisen, vielleicht sogar das Meer sehen – auf jeden Fall aber an einen Ort kommen, an dem mich nichts an die Vergangenheit erinnern wird. Und nach diesen vier Wochen bin ich eine Traitträgerin. Eine Rationale, ergänze ich in Gedanken. Eine Rationale, die endlich frei von jedem Zweifel sein kann.

»Da vorne ist der Gepäckwagen.«

Luce verschwindet zwischen den anderen Expektanten, die mehr oder weniger aufgeregt umherlaufen oder in Gruppen zusammenstehend auf die Abfahrt des Zuges warten. Ich versuche, sie nicht aus den Augen zu verlieren, als mein Koffer an einem fremden Fuß hängen bleibt.

»Entschuldigung«, murmele ich und will mich weiter durch die Menge schieben, doch eine Hand hält mich fest.

»Skye!«

Beim Klang von Elias’ Stimme erstarre ich. In verwirrender Folge strömen Wut, Sehnsucht und Scham durch meinen Körper. Und die traurige Gewissheit, dass es zwischen uns nie wieder so werden wird wie vor der Nacht am See, selbst wenn ich es wollte. Dafür hat sein dummer Stolz gesorgt.

»Können wir reden?« Elias sieht mich flehend an, und für einen Moment spüre ich meine mühsam errichtete Barrikade bröckeln, bis eine gehässige Stimme in mir fragt: Hater Jasmine genauso angesehen? »Skye, bitte! Ich habe einen Fehler gemacht, aber nichts ist so gewesen, wie es aussieht –«

Ich reiße meinen Arm los. »Weißt du was?«, unterbreche ich ihn mit so viel Kälte, wie ich zustande bringe. »Rede doch mit Jasmine. Aber ihr beide verschwendet wahrscheinlich nicht so viel Zeit mit Reden, oder?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, stürme ich davon und lasse ihn in der Menge stehen.

»Was war das denn gerade?« Luce, die nicht weit entfernt auf mich gewartet hat, zieht überrascht eine Augenbraue hoch.

»Nichts, was noch etwas bedeuten würde«, sage ich und brauche zwei Anläufe, um meinen Koffer auf den Gepäckwagen zu hieven. Als er endlich verstaut ist, streiche ich mir eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Wie der erste Eindruck doch täuschen kann.« Luce hakt sich bei mir unter. »Ich hätte dich eher als eine der Vorsichtigen eingeschätzt.«

»Vorsichtig?«

»Zu bedacht, um sich kurz vor der Testung noch in Jungsgeschichten zu verwickeln.«

Wir gelangen zu der einzigen offenen Waggontür, vor der eine Frau in einer grauen Bluse steht, die Namen auf einer Liste abhakt. Sie ist keine Ordnungswahrerin, aber ihr durchdringender Blick, mit dem sie mein Gesicht mit dem Foto auf meiner Identifikation abgleicht, flößt mir mehr Respekt ein als alle im Bahnhof stationierten Beamten zusammen.

»Ich habe mir vorgenommen, Jungsgeschichten ab sofort zu ignorieren«, sage ich an Luce gewandt, als wir eingestiegen sind.

»Wahrscheinlich die klügste Option.«

Wir grinsen, und ich spüre, wie das Lächeln diesmal in meinem Inneren ankommt.

Falling Skye (Bd. 1)

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