Читать книгу Falling Skye (Bd. 1) - Lina Frisch - Страница 13

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Wir sollten uns beeilen, wenn wir den Bus noch erwischen wollen«, sagt Fiona wenig später und räumt den Inhalt ihres Spindes eifrig in ihre Tasche.

Ich hingegen lehne apathisch an der Wand. Wie oft habe ich mich darüber geärgert, dass mein Spind in einem anderen Korridor liegt als der von Elias. Heute bin ich dankbar für diese Fügung, denn er ist der letzte Mensch, den ich im Moment sehen will. Vielleicht ist ja gar nichts zwischen ihnen passiert. Ein Teil von mir klammert sich an diese Hoffnung, aber trotz allem hat Elias mich gedemütigt. Egal, was gestern Nacht zwischen uns geschehen oder wohl eher nicht geschehen ist – wir sind immerhin beste Freunde. Und beste Freunde rächen ihr verletztes Ego nicht mit den Erzfeinden des anderen.

Ich stelle meine Zahlenkombination ein, doch das Schloss meines Spindes öffnet sich nicht. Entnervt rüttle ich an der klemmenden Metalltür.

»Probleme?« Colin lehnt sich an den Spind neben meinem, ausgerechnet Colin. Er stemmt sich ungefragt gegen die Tür und öffnet die widerspenstige Verriegelung ohne Aufwand. »Kein Grund zur Dankbarkeit.« Colins gewohntes, überhebliches Grinsen ist zurück, als hätte er nicht vor weniger als vierundzwanzig Stunden halbtot in meinen Armen gelegen. Im Gegensatz zu mir kann er verdammt gut schauspielern.

Während Fiona damit beschäftigt ist, den Reißverschluss ihrer vollgestopften Tasche zu schließen, ziehe ich Colin hinter die Tür meines Spinds.

»Ich werde dafür sorgen, dass mein Vater die Ermittlungen einstellt«, flüstere ich. Niemand darf diesen Fall mit uns in Verbindung bringen. Nicht, wenn wir mit einem R aus dem Zentrum zurückkehren wollen.

Colin wirft einen raschen Blick über seine Schulter. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.« Der drohende Unterton seiner Stimme ist zurück. Er dreht sich um und wäre fast auf einem rechteckigen Stück Pappe ausgerutscht. Er bückt sich. »Das muss aus deinem Spind gefallen sein.« Einen Moment lang berühren sich unsere Hände. »Dann sehen wir uns am Zug.« Nach einem Blick auf seine Armbanduhr fügt er hinzu: »In ziemlich genau dreizehn Stunden. Fiona.« Mit einem Nicken in unsere Richtung dreht Colin sich um und geht davon, als würden wir morgen in einen Sommerurlaub auf brechen.

Ich nehme meine Tasche aus dem Spind und will das heruntergefallene Papier gerade in den Mülleimer werfen, als ich bemerke, dass es ein Polaroidfoto ist. Ich stocke. Solche Bilder habe ich zuletzt vor vier Jahren gesehen, als ich die Sachen meiner Mutter aus dem Müll gerettet habe. Ich betrachte das Foto und hätte es beinahe fallen gelassen.

»Ist alles okay?« Fionas besorgtes Gesicht erscheint hinter der Spindtür und ich presse das Polaroidfoto reflexartig an meine Brust.

»Ja. Lass uns gehen.«

Hastig räume ich meinen Spind aus und folge ihr die Treppen hinunter zum Ausgang. Als niemand hinsieht, riskiere ich einen zweiten Blick, aber meine Augen haben sich nicht getäuscht. Noch einmal sehe ich dabei zu, wie Elias Jasmine küsst, die Hand an ihrer Wange. Genau, wie er mich gestern Nacht gehalten hat.


Die U-Bahn wäre eine gute Möglichkeit, den Blicken der anderen aus dem Weg zu gehen, aber nach dem seltsamen Erlebnis von gestern steht mir nicht gerade der Sinn nach einem erneuten Ausflug in die New Yorker Unterwelt. Stattdessen gebe ich vor, etwas in der Schule vergessen zu haben, während die anderen in den Bus steigen. Endlich allein, lasse ich mich auf einen der Metallgittersitze an der Haltestelle sinken und starre auf das Foto. Auf seine Finger in ihren Haaren, auf ihre Lippen, die mit seinen verschmelzen. Es interessiert mich nicht, wie das Polaroid in meinen Spind gelangt ist und wer mich offensichtlich genauso sehr verletzen will wie Elias selbst.

Als der letzte Schulbus vor mir hält, steige ich ein und lasse mich auf einen Fensterplatz fallen. Ich setze meine Kopfhörer auf, ignoriere die Lautstärkewarnung und lasse die Musik meine Gedanken betäuben, während draußen die Hochhäuser Manhattans an mir vorbeiziehen. Ich mag die Wolkenkratzer meiner Heimat, in denen niemals jemand stillzustehen scheint. Die vier symmetrischen Türme der Administration erstrecken sich hinter der schmutzigen Fensterscheibe des Busses ebenso wie das Spiegelkarree, dessen Bildschirme noch bis zum Beginn der Sperrstunde in die Nacht scheinen werden. Ich denke an das New Yorker Athene-Zentrum, das in den nächsten vier Wochen mein Zuhause ersetzen wird. Die Zentren sollen an Modernität nicht zu übertreffen sein, habe ich gehört. Wenn dort nicht gerade Testungen stattfinden, werden sie genutzt, um die neueste Technologie zu entwickeln und Dinge Wirklichkeit werden zu lassen, die vor Kurzem noch der Stoff von Filmen waren. Und ich bin eine der Ersten, die an diesem Ort kristallisiert wird. Ich, Fiona, Colin, Jasmine – und natürlich Elias, der in diesem Moment ganz sicher keinen einzigen Gedanken an mich verschwendet.

Die Ansagestimme verkündet meine Ankunft in Upperlake. Draußen atme ich den schweren Fliederduft ein und lasse meinen Blick über die akribisch gepflegten Vorgärten schweifen, über die Elias und ich uns immer lustig gemacht haben. Wer werde ich sein, wenn ich sie das nächste Mal sehe?

Vor den Stufen unserer Veranda bleibe ich stehen, unfähig, zum letzten Mal hineinzugehen.

»Skye?«

Elias’ Mutter setzt die Gießkanne ab und winkt mich in ihren wild wuchernden Garten herüber, in dem überall Wasserschalen für die Vögel stehen.

»Hallo, Deirdre!«

In diesem Moment ist es mir egal, was zwischen Elias und mir vorgefallen ist. Deirdre und Tom sind für mich noch immer so etwas wie eine zweite Familie. Ich lasse meine Tasche fallen, laufe den Gartenweg entlang und falle in Deirdres feste Umarmung.

»Du dachtest wohl, du kannst einfach so verschwinden, ohne dich zu verabschieden!« Deirdre lässt mich los und hält mich eine Armeslänge von sich entfernt. »Du siehst erschöpft aus, Liebes. Versuch, heute Nacht ein wenig Schlaf zu kriegen. Und versprich mir, im Zentrum genug zu essen, ja?«

Ich nicke und Deirdre nimmt meine Hand in ihre. Rauer Verbandsstoff streift meine Haut, und ich drehe ihren Arm, sodass ein quadratisches Pflaster mit dem provisorisch aufgedruckten E zum Vorschein kommt. Erst als Deirdre mir ihr Handgelenk entzieht, merke ich, wie starr ich den Buchstaben fixiert habe, vor dem ich mich am meisten fürchte.

»Ihr wart also bei der Administration?«, stottere ich.

Die Testung der Erwachsenen verläuft weit weniger aufwendig als unsere, immerhin kann man die arbeitende Bevölkerung nicht einen Monat lang in ein Zentrum stecken. Nein, Erwachsene müssen ihre Kristallisierung lediglich bei der Administration beantragen und eine Menge Fragebögen ausfüllen. Von Dad weiß ich, dass zusätzlich der komplette Lebenslauf der Antragsteller analysiert wird: Welchen Job haben sie gewählt und wie erfolgreich sind sie darin? Neigen sie zu Wutausbrüchen oder emotionaler Fragilität? Wie unabhängig leben sie? Sechzehn Lebensjahre reichen dagegen noch nicht aus, um die Persönlichkeit eines Menschen auf diese Weise einzuordnen. Leider.

Ich höre auf, an mich selbst zu denken, als ich bemerke, wie Deirdre das E auf ihrem Verband unbewusst mit der anderen Hand verdeckt. Ich habe nie daran gezweifelt, dass Deirdre und Tom Rationale sind. Aber wenn ich darüber nachdenke, ist es gar nicht mal so abwegig, denn seitdem ich denken kann, vertraut Deirdre ihrem Bauchgefühl mehr als jedem klaren Gedanken. Sie kennt keine Grenzen zwischen sich und der Welt. Wenn jemand weint, weint sie mit, und wenn Elias und ich einen Wettkampf gewannen, freute sie sich, als wäre es ihr eigener Erfolg. Forschend sehe ich sie an. Sie wirkt nicht unglücklich.

»Uns blieb nichts anderes übrig, als den Antrag auf Kristallisierung zu stellen«, erklärt Deirdre, als sie meinen Blick bemerkt. »Ich würde niemals etwas tun, was Elias schadet, auch wenn …« Sie stockt, als würde sie sich auf einmal daran erinnern, mit wem sie spricht. Ihr rasch aufgesetztes Lächeln kommt nicht gegen die feinen Sorgenfalten an, die sich um ihre Augen ziehen. »Vielleicht willst du noch mit reinkommen?« Deirdre deutet auf ihre Veranda. »Samuel hat mich gebeten, dir auszurichten, dass es heute spät wird. Sie haben den armen Jungen nirgendwo in der Umgebung des Sees finden können und folgen jetzt dem Flusslauf.«

Bei dem Gedanken daran, dass Dad die Suchaktion in der Sperrzone leitet, breitet sich ein flaues Gefühl in mir aus. Was, wenn ihm ein Ordnungswahrer meldet, dass die Schülerlisten der Serenity überprüft wurden und niemand fehlt? Wird er die Ermittlungen fallen lassen, oder wird er herausfinden wollen, wer sich in der Nacht des Bescheids in eine gesperrte Zone geschlichen hat?

»Danke, aber ich muss noch packen«, bringe ich heraus.

Deirdre nickt. »Na gut. Wenigstens geht ihr beiden dann ausnahmsweise einmal früh ins Bett, anstatt noch Ewigkeiten auf der Fensterbank zu sitzen.« Sie wirft einen Blick die leere Straße hinunter. »Zumindest, solange Elias bald mal auftaucht.«

Ich stelle mir vor, wie er in diesem Moment mit Jasmine in ihrem weißen Cabrio sitzt.

»Du bist ein kluges Mädchen. Du musst ab jetzt an dich denken, hörst du?« Deirdres Parfum umfängt mich, als sie mich erneut in den Arm nimmt. »Nicht an deinen Vater, nicht an uns, auch nicht an Elias.« Ihre Haare kitzeln meine Wange. »Du wirst im Zentrum merken, dass die Wahrheit nicht so einfach ist, wie wir sie uns wünschen. Sei vorsichtig, Skye. Und vergiss da drinnen nicht, wer du wirklich bist, in Ordnung?« Sie lässt mich los und presst die Lippen aufeinander, als müsste sie sich davon abhalten, noch etwas hinzuzufügen. Ich nicke abwesend.

»Wenn Elias nach Hause kommt –« Ich atme tief ein, um den Knoten in meiner Brust zu lösen. »Sag ihm, ich warte auf ihn. Am Baumstamm. Er wird wissen, was ich meine.«

Elias schuldet mir die Wahrheit. Ob sie mir gefallen wird oder nicht.

Die Nachtluft fühlt sich wärmer an als gestern, als hätte ein einziger Tag den Frühling mit aller Macht heraufbeschworen. Nie hätte ich geglaubt, dass mein Leben in nur zwei Tagen so unwiederbringlich aus den Fugen geraten könnte.

Zu Hause habe ich den Inhalt meines Kleiderschranks eher schnell als ordentlich in einen der Koffer vom Dachboden geworfen. Meine Lieblingsshirts, ein paar der Jeans ohne Löcher und Unterwäsche haben zusammen einen beachtlichen Berg ergeben, schließlich weiß ich nicht, ob es im Zentrum einen so banalen Alltagsgegenstand wie eine Waschmaschine überhaupt gibt.

Ich rutsche vom Baumstamm, laufe den Pfad zu unserem Strand entlang und klettere auf den Felsen.

»Ich werde immer da sein«, hat Elias gestern hier zu mir gesagt. Wie rasch sich Versprechen in Luft auflösen können. Der Rest des Seils, mit dem wir uns in den See geschwungen haben, hängt noch an dem Baum, sein abgerissenes Ende flattert lose im Wind. Ich wickle grübelnd die harten Fasern um meinen Zeigefinger, bis sie mir das Blut abschnüren. Nichts von alldem, was seit gestern Abend geschehen ist, ergibt einen Sinn. Elias ist ein aufmerksamer, nachdenklicher, sanfter Mensch. Er würde mir niemals absichtlich wehtun. Ich taste nach dem verfluchten Polaroidfoto in meiner Hosentasche, als müsste ich mich davon überzeugen, dass ich mir seine Existenz nicht bloß eingebildet habe, und springe vom Felsen hinunter in den Sand. Auf einmal kann ich diesen Ort nicht mehr ertragen, an dem ich so glücklich war und dessen Erinnerungen mir nun den Boden unter den Füßen wegziehen. Jedes Blatt, jeder Stein um mich herum trägt Elias’ Spur, sein Lächeln, seine Witze. Es gibt nur eine einzige Sache am See, die ganz allein mir gehört.

Ich bin nicht wegen dieser Bilder hergekommen. Ich sollte das nicht tun! Meine Füße bewegen sich eigenmächtig, zählen die Felsen ab, bleiben vor dem dritten von rechts stehen. Angespannt schiebe ich meinen Arm in die Öffnung im Stein und drehe mein Handgelenk, bis ich die scharfen Kanten der Plastikbox spüre, dann ziehe ich sie hervor. Mit dem Rücken gegen den Stein lasse ich mich zu Boden sinken und kümmere mich nicht darum, dass die Nässe des Sandes durch meine Jeans tritt. Das Klebeband verschließt die Box, in der ich damals wahllos alles versteckte, was ich von Mums Sachen aus der Mülltonne retten konnte, nach vier Jahren nur noch lose. Meine Fingernägel ziehen es mühelos ab. Als ich den Deckel anhebe, spüre ich den Schmerz wieder so frisch wie in jenem Frühling, den Dad und ich so angestrengt versuchen zu vergessen.

Das Gummiband, das den Stapel Polaroids zusammenhält, zerbröselt bei meiner Berührung. Die Fotos sind ein wenig verblasst, aber ansonsten sehen sie noch genauso aus wie damals, als Mum und ich in einem Meer aus Bildern auf dem Boden saßen und sie der Reihe nach ansahen: ein Marienkäfer auf den Metallstreben der Brooklyn Bridge, ein einzelnes Rosenblatt im Wasserbecken des Ground Zero Denkmals. Mum hat ihre alte Polaroidkamera überallhin mitgenommen, und ich habe es geliebt, die Bilder zu beobachten, während die Dunkelheit ganz langsam Konturen wich und sich in Farben verwandelte. Die monströse Profikamera, die sie für ihre Arbeit bei der Times nutzen musste, würde den Aufnahmen die Seele rauben, hat sie gesagt.

Je mehr Fotos ich herausnehme, desto enger zieht sich mein Magen zusammen. Dabei sind nicht einmal welche von uns dreien dabei. Bilder von meiner Einschulung oder von Dad und mir, wie wir verunglückte Geburtstagskuchen an Mums Bett bringen, hat er damals als Erstes weggeworfen.

Die unteren Fotos sind noch nicht so stark verblichen. Sie müssen zu einer von Mums Recherchearbeiten gehören, für Voraufnahmen hat sie auch oft ihre eigene Kamera benutzt. Das erste Bild zeigt eine gertenschlanke Dame um die siebzig, die aufrecht hinter einem wuchtigen Schreibtisch sitzt und der strengen Schuldirektorin in jedem Kinderroman gleicht. Auf dem nächsten lächelt eine Frau mit streichholzkurzem Haar selbstbewusst in die Kamera. Ich blättere mich durch weitere Fotos, bis ein Porträt mich innehalten lässt. Die dunklen Haare der Frau fallen locker auf ihre Schultern, und ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln voller ehrlicher Zuneigung, das jeden Betrachter sofort dasselbe empfinden lässt.

Mum.

Ich fahre zusammen, als ein Rascheln ertönt und mich daran erinnert, weshalb ich mich noch einmal zum See gewagt habe. Ich stehe auf und spähe ins Unterholz, aber trotz der Stunden, die ich nun schon hier draußen bin, ist noch immer keine Spur von Elias zu sehen. Das Bild meiner Mutter zittert in meiner Hand.

Sie hat dich verlassen, genau wie Elias dich verlassen hat.

Ich schleudere die Box von mir und schlage mir die Hände vors Gesicht. Es war eine dumme Idee, die Kiste zu öffnen. Es war eine dumme Idee, überhaupt wieder hierherzukommen!

Hastig sammle ich die verstreuten Fotos ein, als mir ein hauchdünnes Papier in die Hände fällt, das an der Oberfläche eines der Polaroids haftet. Ein Zeitungsausschnitt aus der New York Times, mehrfach gefaltet, sodass die gedruckten Buchstaben an manchen Stellen schon nicht mehr lesbar sind. Ich halte mir den Artikel dicht vor die Augen.

»Kristallisierungsprozess gelangt ins Rollen«, flüstere ich, während ich den Artikel im Schein des Mondes überfliege. »Das Weiße Haus bestätigt erste Gespräche über die Klärung von Traits, den bleibenden Persönlichkeitseigenschaften eines Menschen, anhand derer individuell angepasste Lebensmodelle geschaffen werden könnten. Führende Psychologen sind der Ansicht, dass politische Eklats wie der Cremonte-Skandal durch die Einordnung der Bevölkerung in Rationale und Emotionale in Zukunft vermieden werden könnten. Aber mit welcher Konsequenz? Was würde eine solche Regelung für das Recht jedes Einzelnen auf freie Entfaltung der Persönlichkeit bedeuten?«

Unter dem Artikel steht der Name meiner Mutter, Elizabeth Anderson. Dabei war Mum doch Fotografin! Ich will den Zeitungsartikel gerade zurück in die Kiste legen, als ich meine geschwärzten Finger bemerke. Verwirrt drehe ich das zerknitterte Blatt um und entdecke mit Kohlestift gekritzelte Buchstaben auf der Rückseite. Eine Namensliste. Sie ist ein wenig verwischt, aber ich kann sie trotzdem lesen:

Marike Donalds, 25. August

Anna Nebrova, 11. November

Sofia Smith-Carlson, 4. Dezember

Sol Riviera, 26. Januar

Und schließlich:

Elizabeth Anderson, 4. Juni

Was hat das zu bedeuten? Ich ziehe den Karton heran und kippe mir den Inhalt erneut in den Schoß, wühle mich noch einmal durch die Aufnahmen auf der Suche nach einem weiteren Zeitungsblatt oder einer Erklärung. Doch bis auf einen einsamen Kohlestift in der Ecke der Box finde ich nichts. Keinen Hinweis darauf, warum meine Mutter, eine Fotografin, Artikel für die Times geschrieben hat oder wer diese Frauen sind. Und was soll der seltsame Zusatz über die Konsequenzen der Kristallisierung am Ende des Berichts bedeuten?

Ich falte den Zeitungsartikel vorsichtig zusammen, sodass die Namen auf der Rückseite nicht noch mehr verwischen, und stecke ihn zusammen mit dem Stift in meine Jackentasche. Vorsichtig streiche ich über das Lächeln meiner Mutter auf dem Polaroid.

»Wer bist du?« Kopfschüttelnd lege ich das Bild zurück in die Schachtel.

Ich wünschte, ich könnte mit jemand anderem als einem Gesicht auf einem modrigen Foto sprechen. Meine Gedanken schweifen automatisch zu Elias, doch die Vorstellung, mich ihm anzuvertrauen, fühlt sich nun falscher denn je an. Ich werfe einen letzten Blick auf den See, in dessen Wasser das Mondlicht einen schwankenden Weg zum Horizont zeichnet. Mein bester Freund – der Junge, der mein Herz so beängstigend leicht in der Hand hält – wird nicht mehr kommen, so viel steht fest. Doch anstelle von Verzweiflung spüre ich plötzlich ein Feuer in mir aufsteigen, ein wütendes Brodeln, das rein gar nichts mehr mit dem zarten Flattern von gestern Abend zu tun hat.

Ich laufe den Pfad zurück, schwinge meine Beine über den quer liegenden Baumstamm und ducke mich schließlich unter dem Absperrband vor der Hecke hindurch, die die Sperrzone von der Siedlung trennt. Ab morgen werde ich dem Konsilium beweisen, dass meine Gefühle für mich zweitrangig sind. Durch meine Mutter, die sich dafür entschieden hat, mich zurückzulassen, und meinen besten Freund, der mich aus gekränktem Stolz verletzt hat, habe ich heute Abend endlich verstanden, was Rationalität wirklich bedeutet. Es geht nicht nur um einen Job mit viel Verantwortung oder einen Platz an einer besonderen Uni. Es geht darum, mich selbst vor dem Schmerz zu bewahren, in dem Gefühle unweigerlich enden, wenn ich ihnen die Macht dazu gebe.

Eilig gehe ich die Straße hinunter, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Deirdre hat recht. Jetzt ist die Zeit, um an mich selbst zu denken.

Falling Skye (Bd. 1)

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