Читать книгу Falling Skye (Bd. 1) - Lina Frisch - Страница 15

Оглавление

Ich halte die Augen nach freien Plätzen offen, während ich mit meinem Rucksack durch den Mittelgang des Großraumabteils laufe. Luce lässt ihre Finger bewundernd über den weichen Samt der Sitze fahren und deutet auf die Tische, die sich automatisch ausklappen. »Definitiv kein Vergleich mit der stinkenden U-Bahn«, staunt sie und ich nicke.

Diese Modelle müssen extra für die Testung konzipiert worden sein, denn sie ähneln unseren normalen, altersschwachen Langstreckenzügen nicht im Geringsten. Luce und ich passieren eine Glastür und landen im nächsten Waggon, in dem wir von plärrender Musik empfangen werden. Ein paar der Mädchen haben ihre Beine quer über die Lehnen der Sitze gelegt.

»Ich brauche keine Testung«, stöhnt eine von ihnen. »Ich weiß, wer ich bin, auch ohne dafür um fünf Uhr morgens in einen verdammten Zug steigen zu müssen. Amira!«, ruft sie plötzlich und hebt den Kopf. »Mach endlich diese schreckliche Musik aus. Ein paar von uns versuchen zu schlafen.«

»Schön, wie ihr das neue Album meiner Band zu schätzen wisst«, grummelt Amira, dreht den Lautsprecher jedoch leiser und versteckt ihr Gesicht wieder hinter einem Buchdeckel.

»Bands und Fantasyromane als Vollzeitbeschäftigung«, schmunzle ich, als Luce und ich das Abteil verlassen. »Um was wetten wir, dass die halbe Abschlussklasse der Beauvoir in dem Waggon saß?«

Wir betreten das nächste Abteil, in dem erst wenige Plätze besetzt sind. Durch das Fenster sehe ich Colin gefolgt von Elias in den Zug steigen. Elias dreht sich noch einmal um und hebt Jasmines Tasche an Bord. Es tut weh, aber ich wende mich energisch ab. Es war die richtige Reaktion, mir seine Erklärungen am Bahnsteig zu ersparen. Er hat sich entschieden, und Lügen sind das Letzte, was ich von ihm hören will.

»Fehlt nur noch der Süßigkeitenwagen und ich fühle mich wie Harry auf dem Weg nach Hogwarts.« Luce lässt sich auf den Fensterplatz eines freien Vierers fallen. Hinter uns sitzen ein paar Mädchen, die ich nicht kenne.

»Ich dachte, Zauberer fliegen überall auf Besen oder so was hin«, bemerke ich und ziehe meine Jacke aus.

»Sag bloß, du hast die Bücher nicht gelesen!« Luce mustert mich mit einem gespielt kritischen Blick. »Ich weiß ja nicht, ob ich jetzt noch mit dir befreundet sein kann.«

»Fantasy ist eben nicht so mein Ding«, sage ich, amüsiert von ihrer Leidenschaft, und setze mich auf den Platz ihr gegenüber. »Aber deins, oder?«

»Wir haben die letzten zwei Bände in der achten Klasse durchgenommen, als uns die Bücher von der alten Bibliothek gespendet wurden«, erklärt Luce.

»Ihr lest solche Geschichten in der Schule?«, staune ich.

Die Serenity bietet vielleicht einen oder zwei Literaturkurse an, aber alles in allem ist sie bekannt für ihre analytische Ausrichtung. Nicht umsonst haben wir die höchste Rationalenquote unter den Absolventen in ganz New York. Lesen und Filme schauen können wir in unserer Freizeit, dafür ist in unserer Ausbildung kein Platz.

»An der Beauvoir High sind Bücherwürmer und Querdenker eben nicht in der Unterzahl«, sagt Luce und grinst, als meine Augen sich erschrocken weiten.

»Ich wusste nicht, dass du –«, stammle ich, doch Luce wischt meine Erklärungen beiseite.

»Schon gut, ich bin nicht beleidigt. Die meisten Rationalen verstehen nicht, dass in Büchern, Bildern und Gesprächen genauso viel Wert stecken kann wie in den Gewinnen irgendeiner Firma.«

Der Zug setzt sich in Bewegung und die riesigen Fensterscheiben werden dunkel. Beeindruckt sehe ich zu, wie auf jeder einzelnen das ernste Gesicht der Frau in der grauen Bluse erscheint, die beim Einsteigen unsere Identifikation überprüft hat.

»Willkommen an Bord des Transregion. Mein Name ist Caroline. Soeben haben wir New York City hinter uns gelassen, unsere erste Station auf dem Weg ins Athene-Zentrum F, wo Ihre Testung beginnen wird. Bitte verlassen Sie den Zug an keiner der folgenden Haltestellen, um zur raschen Weiterfahrt beizutragen. Sollten Sie Fragen haben, wenden Sie sich an mich oder die anderen Testleiter hier im Zug.«

Ein statisches Knistern ertönt aus dem Lautsprecher und anstelle des Gesichts der Frau erscheinen auf der Scheibe nun grüne Hügel unter einem strahlend blauen Himmel. Ich lehne mich zurück, ein wenig enttäuscht darüber, keinen letzten Blick auf meine Heimatstadt werfen zu können.

»Eis?« Luce hält mir einen geöffneten Becher unter die Nase und ich wende mich von der künstlichen Landschaft ab. »Habe ich mitgebracht. Dank des abscheulichen Wetters ist es wenigstens noch nicht komplett geschmolzen.«

»Eis zum Frühstück?«, frage ich grinsend, nehme den mir angebotenen Löffel aber, ohne zu zögern. »Was soll’s. Hört sich nach einer angemessenen Mahlzeit zur Feier unseres neuen verantwortungsvollen Lebensabschnitts an.«

Luce flucht, als das Eis prompt von ihrem Löffel tropft. Während wir kichernd die Spuren von den grauen Sesselpolstern kratzen, löst sich ein Knoten in meiner Brust, der sich seit der Nachricht von meinem Bescheid immer enger zugezogen hat. Zwar habe ich keine Ahnung, was im Zentrum auf uns zukommt, aber wenigstens werde ich es nicht allein durchstehen müssen.

Der Eisbecher ist viel zu schnell leer und ich krame in meinem Rucksack herum. »Ich fürchte, ich habe bloß Sandwiches oder Äpfel zu bieten.«

»Deine Mutter ist also deutlich pflichtbewusster als meine.« Luce quetscht die Eisverpackung in den kleinen Mülleimer neben uns.

Ich schnaube. »Meine Mutter hat mich und meinen Vater am Tag nach meinem zwölften Geburtstag verlassen.«

Luce wirft mir einen überraschten Blick zu und bemerkt nicht, dass der Mülleimer die Pappe schreddert und sich automatisch wieder leert. Nach vier Jahren kommen mir diese Worte so leicht über die Lippen, als würde ich erzählen, dass ich mir als Kind den Arm gebrochen habe. Sie können mich nicht mehr ersticken, das habe ich mir abtrainiert. Trotzdem schleicht sich jedes Mal dieselbe Frage hartnäckig zurück in meinen Kopf: Was hast du getan, um sie zu vertreiben? Meine Mutter hatte keinen Grund, einfach abzuhauen. Irgendjemand muss ihr also einen gegeben haben.

»Und damit rückst du einfach so heraus?« Luce schüttelt den Kopf. »Aber wer der mysteriöse Gentleman auf dem Bahnsteig ist, willst du mir verschweigen!«

Der Zug biegt um eine Kurve und ich erkenne Spuren von Regentropfen hinter dem Landschaftsfilm auf der Fensterscheibe.

»Elias ist kein Gentleman.«

»Na, immerhin haben wir einen Namen.« Luce stupst mich an. »Hey, du musst nicht drüber reden. Ich wollte bloß ein Thema finden, das nichts mit dem zu tun hat, was heute Abend anfängt. Ich bin echt ein bisschen aufgeregt.«

»Glaub mir, ich auch«, gebe ich zu. Auf einmal kommt mir eine Idee. »Vielleicht können wir ja sehen, ob der Zug den Süden oder Norden von F ansteuert.« Ich hole mein Handy aus meiner Hosentasche und öffne die Navigation. »Seltsam«, murmele ich. »Ich bekomme hier kein Netz. Willst du es mal probieren?«

Luce schüttelt den Kopf und seufzt, als ich sie fragend ansehe. »Ich habe kein Handy, okay?«

Erst jetzt erinnere ich mich, dass sie der Testleiterin beim Einsteigen einen Ausweis aus Papier hingehalten hat anstatt der ID, die wie meine auf dem Smartphone gespeichert ist.

»Es ist eben nicht so einfach, wenn deine Mutter wegen des E’s auf ihrem Handgelenk ihren Job verliert.«

Für einen Moment verstummen die Gespräche der anderen Mädchen um uns herum, bevor sie umso lauter weitergehen. Ich runzle die Stirn. Emotionale können nicht die gleiche Verantwortung tragen wie Rationale, das ist klar. Aber wenn sie aus diesem Grund ihre Stelle verlieren, wird ihnen geholfen. Die Traits wurden doch gerade aus dem Grund geschaffen, um soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen! Nicht, um neue herbeizuführen.

»Ich dachte immer, E-Care reicht auch für so was wie Handys«, sage ich, ehrlich erstaunt. Immerhin hat Dad die Unterstützung für arbeitslose Emotionale dem Parlament selbst vorgeschlagen.

»E-Care?« Luce verzieht den Mund. »Glaub mir, E-Care verschwindet ganz schön schnell, wenn man nicht den nächstbesten Job annimmt, den die Administration einem vorschlägt. Und von der Chirurgin zur Tagesmutter – das ist nicht gerade die Karriere, für die man zehn Jahre lang in Yale studiert hat.«

»Ich wollte nicht unsensibel sein«, entschuldige ich mich, obwohl ich Luces Ärger nicht wirklich verstehe. Als Emotionale muss ihre Mutter eben einen Beruf annehmen, der besser zu ihrer Persönlichkeit passt. Ihre Ausbildung war unglücklicherweise verschwendete Zeit. Aber damit genau so etwas nicht mehr vorkommt, nehmen Universitäten für Fächer wie Medizin, Wirtschaft und Politik ja auch nur noch Rationale auf.

»Was meinst du«, lenke ich ab. »Wollen wir mal zu einer kleinen Erkundungstour aufbrechen?«

Luce nickt und keine von uns spricht mehr über Traits, während wir über den weißen Teppich auf die Glastür zugehen. Wir gelangen in den zugigen Einstiegsbereich, in dem sich die Außentüren befinden. Dahinter erwartet uns kein neues Abteil, sondern ein lang gezogener Tresen aus dunklem Holz. Ein Mann füllt Kaffee aus einer lautlosen Maschine in zwei Becher und reicht sie den vor uns wartenden Mädchen.

»Was für ein Luxus!«, raunt Luce mir zu.

Die Mädchen drehen sich zu uns um. »Schön, dass ich mich nicht als Einzige fehl am Platz fühle«, erwidert eins von ihnen und nickt Luce zu. »Beauvoir High?«

»Schuldig im Sinne der Anklage«, antwortet Luce.

Das Mädchen lächelt, wobei ihre Augenbrauen nach oben wandern und der silberne Ring, der durch eine von ihnen gestochen ist, unter ihren Ponyfransen verschwindet.

»Komisch, du bist mir da nie aufgefallen«, sagt die Nachbarin des Piercingmädchens, die mit ihrem mausbraunen Haar und der etwas rundlichen Figur neben ihrer Freundin ziemlich unscheinbar wirkt. Mein Blick bleibt an dem tätowierten Schriftzug hängen, der unter ihrem Pulloverärmel hervorlugt. »Komm, Tonya«, sagt sie und greift nach der Hand des Piercingmädchens. »Die anderen warten bestimmt schon.«

Tonya wirft uns ein entschuldigendes Lächeln zu und folgt der Brünetten durch die Glastür.

»Wir sehen uns!«, ruft sie noch, bevor die beiden endgültig verschwinden.

Ich lehne mich an einen der festgeschraubten Barhocker vor dem Tresen. Mein Vater würde den Kopf schütteln, wenn er wüsste, dass meine neuen Freundinnen ausgerechnet auf die Beauvoir gehen! Die Highschool in Chelsea ist bekannt dafür, emotionales Denken geradezu zu fördern.

Luce dreht sich mit zwei Muffins in der Hand zu mir um. »Willst du Schokolade oder Blaubeere? Es gibt auch Sandwiches, aber keine ohne Tomaten. Und Gemüse ist nicht so mein Ding.«

Ein kühler Luftzug streift meinen Nacken. Als ich aufblicke, tritt ein Typ durch die Glastür, der ein paar Jahre älter sein muss als ich. Seine aschblonden Haare sind ein wenig zu lang und locken sich in seine Stirn, aber sein ernster Gesichtsausdruck passt nicht zu meiner spontanen Vorstellung von ihm als Surfer auf den Wellen der Goldküste. Er wirkt wie ein … Nein, mir fällt partout keine Kategorie ein, in die er sich einordnen ließe. Sein düsterer Blick trifft mich und ich zucke unmerklich zusammen. Es ist, als wäre irgendwo tief verborgen in meinem Inneren eine Alarmglocke losgegangen.

»Einen Kaffee, schwarz.«

Während er wartet, sieht er aus dem Fenster, als könnte er hinter den Bildschirm schauen. Verwundert folge ich seinem Blick und bemerke, dass die künstliche Landschaft auf der Scheibe verschwunden ist. Der Zug steht, und wir schauen auf das Gleis eines Bahnhofs, der beinahe identisch ist mit dem, den wir vor Stunden verlassen haben. Während die neuen Expektanten geordnet einsteigen, nimmt der Junge – oder sollte ich besser sagen, Mann? – seinen Kaffee und geht geradewegs an uns vorbei, ohne uns auch nur eines einzigen weiteren Blicks zu würdigen.


Die Lichter haben sich innerhalb der letzten Stunde eingeschaltet. Luce lehnt sich im Schlaf an die Kopfstütze ihres Sitzes und das Muffinpapier fällt von ihrem Schoß. Mittlerweile sind alle Gespräche in unserem Waggon verstummt und auch mich lässt das gleichmäßige Geräusch des Zuges auf den Schienen gähnen. Ich beobachte, wie die Expektanten des Bezirks E an einem der südlicheren Bahnhöfe zusteigen. Ein warmer Windzug kommt mit ihnen an Bord. Meine Stirn sinkt gegen das kühle Fensterglas.

Ich liege in einem Kofferraum. Wenn ich versuche, meine Augen zu öffnen, sehe ich nichts als bunte Sternchen. Sie tanzen wie ein Feuerwerk durch den Nebel vor mir. Kalte Panik macht sich in mir breit, als ich begreife, dass ich nicht wach sein soll. Das Auto kommt ruckartig zum Stehen. Irritierend grüne Augen fixieren meine, beruhigen mich. Doch nur eine Sekunde später ertönt ein Knall und das Blut in meinen Adern gefriert zu Eis. Die Kofferraumklappe öffnet sich und Dämmerlicht dringt in mein Gefängnis.

»Ich komme zurück!«

Schweißnass schrecke ich auf und bemerke, dass Luce meine Schultern schüttelt. Mein Herz schlägt so schnell, als hätte ich gerade einen Sprint hinter mir.

»Skye, da draußen!« Luce deutet aus dem Fenster.

Die falschen grünen Hügel sind noch nicht zurück auf der Scheibe und ich erkenne eine menschenleere Bahnhofsplattform in der Abendsonne. Menschenleer, bis auf …

»Jasmine?« Mit einem Schlag bin ich hellwach. Ich springe auf und versuche, das Fenster zu öffnen, vor dem meine Erzfeindin mit geröteten Wangen zu mir aufsieht.

Jasmine deutet verzweifelt auf die Türen und hört nicht auf, gegen mein Fenster zu hämmern. Die Scheibe ist zu dick, um ihre Worte hindurchzulassen, aber die Panik in ihrem Blick spricht Bände.

»Die Türen sind schon geschlossen!«, rufe ich. Auf dem Gleis ist niemand mehr zu sehen, alle Expektanten dieses Bezirks sind zugestiegen. Unser Zug wird jede Sekunde weiterfahren, und zwar ohne Jasmine. Ich werfe einen Hilfe suchenden Blick durch den Waggon, doch die Mädchen hinter mir starren bloß irritiert zurück.

Jasmines Mund formt das Wort Bitte. Ich beiße mir auf die Lippen. Die Testleiterin hat uns befohlen, den Zug nicht zu verlassen. Ich könnte einfach zurück in meinen Sitz sinken und zusehen, wie Jasmine für diesen Regelbruch bezahlt. Verdient hätte sie es! Aber anders als meine Erzfeindin habe ich ein Gewissen. Und Jasmines Testung zu ruinieren, würde Elias’ Verrat auch nicht rückgängig machen.

Als der Zug sich wie in Zeitlupe in Bewegung zu setzen beginnt, bedeute ich ihr zu rennen.

»Hol einen Testleiter!«, rufe ich Luce zu und laufe durch den Gang, so schnell der schmale Abstand zwischen den Sitzreihen es mir erlaubt.

Atemlos stürme ich durch die Glastür in den Einstiegsbereich. Meine Sorge, dass die Zugtüren sich während der Fahrt nicht öffnen lassen, ist unbegründet. Zwar ertönt ein surrendes Alarmgeräusch, als ich den schweren Hebel nach unten drücke, doch die Tür gleitet widerstandslos zur Seite. Ich halte mich mit beiden Händen an einem Griff fest und setze vorsichtig einen Fuß auf die Außentreppe. Wenn Jasmine es schaffen will, muss sie sich an mir festhalten. Der Zug nimmt langsam Fahrt auf, und meine Haare flattern im peitschenden Wind, sodass ich den an mir vorbeifliegenden Bahnsteig kaum noch erkennen kann.

»Jasmine?« Ich löse eine Hand vom Griff und strecke die andere nach ihr aus. Mein Puls rast. Wenn ich jetzt den Halt verliere … »Jasmine!«, rufe ich verzweifelt in die aufziehende Dämmerung, aber ich bekomme keine Antwort.

Endlich schaffe ich es, mir meine Haare aus den Augen zu streichen – und als ich klar sehe, weiß ich, warum nur die Sirenen in meinen Ohren schrillen.

Jasmine konnte mir keine Antwort geben, denn der Bahnsteig ist leer.

Komplett leer.

»Was denkst du, was du da machst?«, brüllt eine Stimme hinter mir.

Ich werde mit Wucht zurück in den Waggon gerissen und schreie auf, als ich stürze und auf dem Boden lande. Der Typ aus dem Servicewagen zieht die widerstrebende Zugtür zu.

»Vor meinem Fenster stand ein Mädchen, eine Mitschülerin von mir«, stammle ich. Mein Kopf pocht schmerzhaft. »Sie muss ausgestiegen sein, als wir gehalten haben, und die Türen hatten sich schon geschlossen, bevor sie wieder einsteigen konnte.«

Ich richte mich auf, wobei er keine Anstalten macht, mir zu helfen. Stattdessen tippt er auf etwas herum, das aussieht wie ein überdimensionales Armband. Das durchdringende Alarmgeräusch verstummt und der enge Raum um uns herum kommt mir trotz des Maschinenlärms auf einmal still vor. Er dreht sich um. Ich bemerke die silberne Anstecknadel in Form einer Waage auf seinem Hemd, die mir schon bei Caroline aufgefallen ist, der Frau mit den Namenslisten. Ein Testleiter! Auch das noch.

»Ich weiß nicht, warum sie auf einmal nicht mehr auf dem Bahnsteig stand.« Ich atme tief durch. Mein Gestammele klingt alles andere als ruhig und besonnen. »Sie muss hinunter in die Bahnhofshalle gelaufen sein. Ich kenne ihren Namen, falls –«

Die Art, mit der er mich mustert, lässt mich verstummen. »Alle Expektanten sind zugestiegen«, sagt der Testleiter in einem Ton, der unmissverständlich das Ende dieses Gesprächs bedeuten soll.

»Das meine ich nicht«, setze ich noch einmal an und reibe meinen Ellenbogen, der das meiste von meinem Sturz abbekommen hat. »Jasmine kommt aus New York, wie ich. Sie ist zurückgelassen worden!«

Der Testleiter blickt sich um, dann beugt er sich vor, bis uns kaum noch eine Handbreit stickiger Luft voneinander trennt und ich die blonden Bartstoppeln auf seiner gebräunten Wange erkennen kann. Seine Nähe macht mich nervös, als ginge eine unbestimmte Bedrohung von ihm aus.

»Wir haben euch gesagt, dass ihr nicht aussteigen sollt, richtig?«

Ich nicke hastig.

»Wenn jemand die Regeln verletzt, ist das für dich noch lange kein Grund, dich selbst und andere in Gefahr zu bringen.« Er macht einen Schritt zurück, als hätte er gemerkt, dass ich während seiner Belehrung den Atem angehalten habe. Die senkrechte Falte auf seiner Stirn verschwindet jedoch nicht. »Wie wäre es, wenn du jetzt zu deiner Freundin zurückgehst und für den Rest der Fahrt auf deinem Platz bleibst? Ich bin mir sicher, es gibt irgendeine Realityshow oder so was, über das ihr euch unterhalten könnt, bis wir in F angelangt sind.«

Ich schnappe empört nach Luft. »Weil emotionale Zeitverschwendung alles ist, was uns Mädchen interessieren könnte?«, werfe ich ihm entgegen. Was tust du denn da?, frage ich mich gleich darauf erschrocken. Er ist ein Testleiter, ich sollte meine Zunge hüten! »Was geschieht mit Jasmine?«, wage ich dennoch zu fragen.

Der Testleiter lehnt sich mit provozierender Ruhe gegen die Wand und verschränkt die Arme vor der Brust. »Interessant. Ich mache dir einen neuen Vorschlag: Geh zurück zu deinem Platz und denk die restlichen zwei Stunden darüber nach, was wirklich emotionale Zeitverschwendung ist.« Sein Blick wandert betont langsam von mir zu der verschlossenen Zugtür und zurück. »Dein Vater ist im Parlament, nicht wahr? Samuel Anderson?«

Ich nicke mit einem Kloß im Hals. Mein Vater … Derselbe Mann, der heute Morgen noch voller Stolz mit mir über die Cremonte-Uni gesprochen hat. Der fest daran glaubt, dass ich eine Rationale bin.

Der Testleiter lässt mich nicht aus den Augen. »Kümmere dich im Zentrum um deine eigenen Angelegenheiten.« Jede Spur eines Lächelns ist aus seinem kantigen Gesicht verschwunden. »Zumindest, wenn du es mit dem richtigen Buchstaben verlassen willst.«

Er wendet sich erneut dem Armband zu, mit dem er den Alarm gestoppt hat, und eine dunkle Ahnung macht sich in mir breit. Hat er Luce und mich etwa belauscht? Woher sonst sollte er wissen, dass ich alles tun werde, um zu beweisen, dass ich eine Rationale bin? Ich reiße meinen Blick von den Locken los, die ihm in die Stirn fallen. Das Schlimmste ist, dass er recht hat, zumindest zum Teil. Rationale helfen, aber sie handeln nicht impulsiv, wie ich es getan habe.

Schon wieder.

Als ich mich an ihm vorbeischiebe, bemerke ich die weiße Narbe, die sich über seine rechte Schläfe zieht und seine helle Augenbraue nur knapp verfehlt. Wo hat sich jemand, der gerade mal neunzehn Jahre alt sein kann, eine Verletzung zugezogen, die solche Spuren hinterlässt?

»Viel Erfolg, Skye«, höre ich ihn sagen, als sich die Glastüren öffnen. Dann fliehe ich so schnell zurück in meinen Waggon, wie es mit Würde gerade noch möglich ist.

Falling Skye (Bd. 1)

Подняться наверх