Читать книгу Falling Skye (Bd. 1) - Lina Frisch - Страница 8

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Bei der Regressionsgeraden von Y auf X müssen wir die additive Konstante a und die Steigung b berechnen, bevor …«

Ich male mit meinem Fingernagel unsichtbare Muster auf den Tisch, während Mr. Fernandez eine Gerade durch das Streudiagramm auf dem Smartboard zeichnet. Die jährlichen Prüfungen sind vielleicht vorbei, aber das ist aus der Sicht unserer Lehrer noch lange kein Grund, uns bis zu den Sommerferien eine Verschnaufpause zu gönnen.

Mein Blick wandert zu Elias, der eine Reihe weiter vorne aufmerksam den Worten unseres Mathematiklehrers folgt. Seine Haut trägt einen von der Maisonne verursachten Rotschimmer und ich lasse meine Gedanken zu dem versprochenen Picknick im Central Park abschweifen. Vielleicht wird mein Geburtstag dieses Jahr ausnahmsweise ja doch mal ein schöner Tag.

»Miss Anderson?« Fiona stößt mich leicht in die Seite und ich schrecke auf. Mr. Fernandez steht vor unserem Tisch. »Ich habe Sie gerade gefragt –«

Hastig analysiere ich die Informationen auf dem Smartboard. »Das Minimum. Die Summe der quadrierten Residuen muss minimal sein, damit die Regressionsgerade eine optimale Vorhersage trifft.«

Mr. Fernandez nickt anerkennend, doch der Rest des Kurses scheint keines meiner Worte mitbekommen zu haben. Wie die anderen starrt Jasmine auf der anderen Seite des Ganges entgeistert auf ihr Handy. Fiona entfährt ein erstickter Laut, und ich bemerke überrascht, dass ihr Tränen über das Gesicht laufen.

Colin dreht sich zu uns um. »Bitte nicht schon wieder ausflippen«, stöhnt er. »Oh Mann, nie im Leben würde ich was mit einer Emotionalen anfangen. Das ganze Drama …«

»Halt die Klappe, Colin!«, entfährt es mir lauter als beabsichtigt. Ich ziehe mein eigenes Handy aus der Tasche und überfliege die Überschrift des Artikels, der in diesem Moment vermutlich auf jedem Bildschirm in den Gläsernen Nationen gelesen wird:

Reform des Bildungssektors beschlossen.

Es dauert einen Moment, bis sich die Seite von CrystalClear News vollständig aufbaut, und ich erwische meine Finger dabei, wie sie nervös auf die Tischplatte trommeln. Normalerweise erzählt mir Dad von anstehenden Abstimmungen des Parlaments, besonders wenn es um etwas so Wichtiges geht wie die Ordnung, die vor fünf Jahren unsere Verfassung abgelöst hat.

Zur Lösung des wachsenden Problems hoher Studienabbrecherzahlen und immer schlechteren Examensergebnissen an unseren Universitäten stellte der Rat heute seine Reformpläne vor.

»Wir werden die Ressourcen des Bildungssektors bestmöglich auf junge Leute konzentrieren, die das Ziel haben, unsere Gesellschaft voranzubringen. Fehlt schon im Elternhaus der Rückhalt dafür, haben junge Menschen es schwer, den Anforderungen einer Universität gewachsen zu sein und die nötige Arbeitsmoral zu entwickeln.«

Ich überfliege den Rest des Interviews mit Ratsmitglied Edward McCarty, der eine Reihe von Studien zitiert, dann bleibt mein Blick an zwei Sätzen am Ende des Artikels hängen:

Die vorgeschlagene Ordnungserweiterung wurde heute Vormittag einstimmig angenommen. Damit ist die Kristallisierung der Eltern mit sofortiger Wirkung eine Voraussetzung für den Besuch einer berufsqualifizierenden Schulform jeglicher Art.

»Wir können nicht darauf vertrauen, dass Unkristallisierte ihren Kindern – den zukünftigen Berufsanfängern und Studienanwärtern – die richtigen Werte vermitteln. Werte, die wir brauchen, um die Gläsernen Nationen zu stärken und zu entwickeln«, so Chloe Cremonte nach der Abstimmung. Hören Sie den Kristall heute Abend persönlich bei CCN Talk über die Vorteile dieser neuen Regelung für die Gläsernen Nationen sprechen.

Fiona nimmt mit zitternder Stimme einen Anruf entgegen und stürzt aus dem Klassenzimmer, woraufhin Colin die Augen verdreht.

»Die muss doch gar nicht mehr zur Testung«, murmelt er, während Mr. Fernandez verzweifelt versucht, sich Gehör zu verschaffen. »Die kommt doch sowieso als Emotionale aus dem Zentrum zurück. Und E’s brauchen wirklich keinen Studienplatz.«

»Ach ja?«, werfe ich ihm entgegen. »Fiona will auf die Hochschule für Erziehung. Da werden Emotionale händeringend gesucht.«

Zum Glück hat Fiona Colins Kommentar nicht mehr gehört. So sensibel, wie sie ist, würde sie sich seine dämlichen Bemerkungen viel zu sehr zu Herzen nehmen. Eine Welle der Wut auf Colin durchströmt mich. Es sind Kommentare wie seine, die dazu beitragen, dass es noch immer Unkristallisierte gibt. Zweifler, die den Traits nicht vertrauen und die Erschaffung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft fürchten. Ich werfe Colin einen zornigen Blick zu. Er hält sich für so wahnsinnig klug und witzig, dabei hat er einfach den Sinn der Kristallisierung nicht verstanden! Rationale und Emotionale ergänzen sich und sollten einander achten. Die Welt braucht kühle Köpfe genauso wie sanftes Einfühlungsvermögen, um zu funktionieren – nur eben beides an seinem Platz.

»Jetzt mach nicht so ein Gesicht, Prinzessin«, raunt Colin mir zu. »Dein Vater ist nicht nur kristallisiert, sondern sogar im Parlament. Du bist bei der neuen Ordnungserweiterung doch eh aus dem Scheider.«

Ich versuche, seine Stimme zu ignorieren, und packe mein Tablet in meinen Rucksack. Zusammen mit dem Rest des Mathekurses trete ich auf den Gang. Mr. Fernandez hat eingesehen, dass sich heute niemand mehr auf Statistik konzentrieren wird, und uns früher als üblich in die Mittagspause entlassen.

Mit sofortiger Wirkung ist die Kristallisierung der Eltern Voraussetzung für den Besuch einer berufsqualifizierenden Schulform jeglicher Art.

Mein Vater ist vor fünf Jahren einer der Ersten gewesen, der bei der Administration einen Antrag stellte und wenig später seinen Trait zugewiesen bekam. Colin hat recht, an meinen Chancen auf einen Studienplatz ändert die Erweiterung nichts – aber das ist es auch nicht, was mich beunruhigt. Ich sehe zu Elias hinüber, der neben mir den Gang hinabschlendert, und suche nach Anzeichen von Sorge in seinem Gesicht. Als hätte er meine Gedanken erraten, wirft er mir ein beruhigendes Lächeln zu.

»Mum und Dad sind wahrscheinlich in diesem Moment schon auf dem Weg in die Innenstadt, um ihre Anträge zu stellen«, sagt er und knufft mich in die Seite. »Du und ich an der Cremonte-Uni, das ist der Plan. Und daran kann auch keine Ordnungserweiterung etwas ändern.«

Zögernd lächle ich zurück. Ein Platz an der Cremonte-Universität auf Long Island, die ausnahmslos rationale Studierende aufnimmt und ihren Absolventen eine glänzende Zukunft garantiert, ist der Traum jedes Serenity-Schülers, der auf ein R hofft. Ich taste nach dem Kristall-Anhänger an der Kette unter meiner Schuluniform, den Dad mir letztes Jahr geschenkt hat. Es ist unser Traum, Elias’ und meiner. Und ihm stünde nichts im Wege, wenn seine Eltern nicht so unglaublich störrisch wären, was die Kristallisierung angeht! Deirdre und Tom müssen jetzt einfach erkennen, welcher Weg der richtige ist, beruhige ich mich. Immerhin setzen sie die Zukunft ihres Sohnes aufs Spiel, wenn sie nicht endlich einlenken.

Colin überholt uns und wirft mir im Vorbeigehen einen langen Blick zu.

»Sieh mal einer an. Sie hat ein schlechtes Gewissen!« Seine Worte vom gestrigen Training hallen durch meinen Kopf, während ich zusehe, wie er sich vor uns in die Schlange der Cafeteria einreiht. »Nur Anfänger entschuldigen sich für Leistung. Oh warte, das stimmt nicht – Anfänger und Emotionale.«

»Skye?« Elias wedelt mir mit der Hand vor der Nase herum. »Wir sind nicht die Einzigen, die Hunger haben.«

Hastig greife ich nach einem abgepackten Sandwich und einer Flasche Orangensaft, obwohl mir der Appetit vergangen ist.

Elias nimmt mir mein Tablett ab und trägt es zu unserem gewohnten Tisch am Fenster.

»Du und ich an der Cremonte-Uni«, hat er gesagt. Der Uni, die nur Menschen aufnimmt, die ihre Gefühle jederzeit unter Kontrolle haben. Auf die ein Land sich verlassen kann – Menschen wie Elias und mich.

Bist du dir da wirklich sicher?, flüstert eine gemeine Stimme in meinem Kopf, während ich mich setze. Was, wenn Colin und Jasmine recht haben? Was, wenn du doch eine Emotionale bist? Ich schüttle den Gedanken ab. Unmöglich. Meine Finger krampfen sich um mein Handgelenk und ich spüre meinen Herzschlag durch die Adern pulsieren. Ich habe Gefühle, das stimmt. Aber das macht mich noch lange nicht zu einer Emotionalen! Ich kann meine Gefühle zurückstellen, sie je nach Notwendigkeit unterdrücken. Habe ich das nicht bewiesen, als Mum uns verließ?

Elias schiebt mir die Hälfte von seinem Schokoriegel zu, und ein Stromschlag durchfährt mich, als unsere Hände sich berühren. Ich bin keine Emotionale. Ich darf es nicht sein, denn wenn die Testung in zwei Jahren mit einem E auf meinem Handgelenk endet, dann werden wir zwangsläufig in verschiedenen Welten landen. Als Emotionale müsste ich vor jedem Verlassen der Nationen einen Antrag stellen, zu meinem eigenen Schutz, während Elias in jedes Land der Erde reisen, forschen und die spannendsten Dinge lernen würde. Wir könnten niemals richtig zusammen sein. Selbst wenn wir es wollten.

Wenn ER es wollte, korrigiere ich mich in Gedanken.

Elias neigt seinen Kopf zur Seite, und mein Blick bleibt an dem herzförmigen Muttermal hängen, das unter dem Kragen seines Uniformhemdes sichtbar wird. Hätte ich doch nur die Gewissheit, dass ich meinen besten Freund mit der Wahrheit über meine Gefühle nicht verlieren würde …

»Colins Kommentar vorhin war bestimmt nicht so gemeint«, sagt Elias und tunkt eine Pommes in Ketchup.

Erstaunt sehe ich ihn an und begreife, dass er glaubt, es wäre der blöde Spruch über meinen Vater, der mich beschäftigt.

»Doch, das war er«, erwidere ich kühl. Allein die Andeutung, dass ich Vorteile haben könnte, weil mein Vater im Parlament sitzt, ist ungeheuerlich.

»Du weißt doch, wie er ist. Colin kann es nicht leiden, ausgestochen zu werden. Und du bist nicht nur schneller als er, sondern auch noch klüger. Ich meine, deine Prüfungsergebnisse …« Elias zieht grinsend einen unsichtbaren Hut, doch seine nett gemeinten Worte fühlen sich bitter an, als wäre mein Erfolg auf einmal etwas Schlechtes.

»Selbst Colin sollte mittlerweile gemerkt haben, dass die Vereinigten Staaten von Amerika der Vergangenheit angehören«, sage ich. Er sollte wissen, dass mit der Gründung der Gläsernen Nationen nicht nur Sexismus und Rassismus von der Tagesordnung verschwunden sind, sondern auch Korruption und Vetternwirtschaft. Wir trennen nicht mehr zwischen Schwarz und Weiß oder Frauen und Männern und allein durch persönliche Beziehungen kommt erst recht niemand mehr nach oben. »Nur die Traits bestimmen, wozu wir fähig sind«, fahre ich wütend fort, »und nicht einmal Idioten wie dein bester –«

»Du hast recht«, unterbricht mich Elias. »Und wenn wir erst einmal auf die Cremonte gehen, wird Colin wissen, dass er sich mit dir nicht anlegen sollte.« Als ich nicht reagiere, greift Elias über den Tisch und nimmt meine eiskalte Hand. »Aber es ist nicht bloß Colin, oder?«

Er folgt meinem Blick zu dem Bildschirm über der Essensausgabe, auf dem sich die CCN-Seite mit dem Tagesmenü abwechselt. Das Bild einer Hand, die einen Doktorhut in die Luft wirbelt, strahlt auf die Schlange von Schülern herab. Auf dem Handgelenk des Studenten ist ein fein gestochenes R zu sehen.

»Wir beide wissen doch schon längst, wer wir sind«, sagt Elias leise. »Und kein Konsilium der Welt könnte anders entscheiden.« Ich betrachte die feinen Linien der Adern, die unter der Haut meines Handgelenks verlaufen wie blaue Flüsse.

»Glaubst du, es tut weh?«, frage ich. »Das Traitmark.«

»Bestimmt nicht.« Elias steht auf. »Und immerhin fahren wir zusammen ins Athene-Zentrum, wenn also am Ende bei der Zeremonie jemand deine Hand halten soll …«

Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu und die bedrückte Stimmung zwischen uns verschwindet wie Wolken an einem Sommerhimmel.

»Sehen wir uns nach dem Training?«, frage ich.

Elias nickt. »Versuch, heute auf den Beinen zu bleiben.«

Ich strecke ihm die Zunge raus, während ich mir meine Tasche über die Schulter schwinge und die Cafeteria mit dem Rest meines Sandwiches in der Hand verlasse.

Elias hat recht. Obwohl wir unsere Traits erst mit achtzehn zugewiesen bekommen, benehmen wir beide uns schon ganz von allein wie Rationale. Wir wählen Naturwissenschaften und Leistungssportarten anstelle von Kunst und Sozialwissenschaften. Wir sind zielstrebig, weil wir wissen, dass wir das Potenzial haben, die Gläsernen Nationen mitzugestalten. Beweist das nicht, wer wir wirklich sind? Ich streiche noch einmal über mein Handgelenk und stelle mir das feine R vor, das man mir in zwei Jahren mit weißer Tinte dort stechen wird. Dann wird uns nichts mehr im Weg stehen.

Falling Skye (Bd. 1)

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