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2.2.1 Gedanken zur »Freiheit« der Kunst

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Die oben skizzierten, in ihrer Paradoxie und Unbestimmtheit zu erfassenden »Aufgaben« der Kunst, gekoppelt mit der zunehmenden Verwischung der Künste mit dem Alltag, lädt zum Nachdenken über ihre sog. Autonomie ein:

»Ließe sich künstlerisches Handeln als eine Handlungsoption unter mehreren beschreiben, so könnte man auch der in jüngsten Kunstentwicklungen auftretenden Verwischung der Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst Rechnung tragen. Die Notwendigkeit einer genaueren Bestimmung des Verhältnisses von künstlerischem und nichtkünstlerischem Handeln ist damit aber nicht ausgeräumt, sondern stellt sich lediglich in einer neuen Art und Weise« (Siegmund, 2015, 124).

Darüber wird in Kapitel 8 ( Kap. 8) im Kontext der sozial interventionistischen Kunst bzw. der Community oder Social Arts in ihrer Bedeutung für psychosoziale und pädagogische Praxen konkreter nachgedacht. Die übergeordnete Denkfigur der (Zweck-)Freiheit der Künste, die das Andere, nicht Überlebensnotwenige des Seins bezeichnen soll, ist mit Wolfgang Welsch zu dekonstruieren:

»Das Autonomietheorem – die zentrale Erfindung der bürgerlichen Ästhetik des späten 18. Jahrhunderts – ist in fast jeder Hinsicht verquer. Erstens speist sich die Kunst (…) aus uralten anthropologischen Antrieben und ist insofern weder autark noch autonom. Zweitens ist die ästhetische Lust nicht etwas, was sich unabhängig von unserer sinnlichen und kognitiven Organisation einstellt« (…). »Und drittens ist die ›Eigengesetzlichkeit‹ der Kunst (…) stets von extra-artistischen – sozialen, politischen, kulturellen – Faktoren abhängig oder mit ihnen aufs deutlichste verflochten« (Welsch, 2018, 132).

Kunst und, davon zu unterscheiden, künstlerische Handlungen finden in unterschiedlichsten Kontexten statt, und die jeweiligen Kontexte sind bei der Analyse von Kunst jeweils mitzudenken. Ohnehin existiert das »System Kunst«, wie es Welsch nennt, erst seit dem 18. Jahrhundert (vgl. ebd., 133). Erst seit dieser Zeit etablierten sich Museen, Galerien, Kunsthandel, Messen, Sammler*innen etc. »Kunst-Kunst« (ebd.) nennt Welsch die sich dort etablierenden künstlerischen Objekte. Daneben platziert er die schon seit alters her oder beispielsweise in den asiatischen Ländern überkommene »Real-Kunst« oder »Lebenswelt-Kunst« als Ausdruck dessen, »unsere Humanität zu entwickeln und zu verfeinern« (ebd.). In diesem Zusammenhang sollte auch die Zuschreibung an den Mythos der bis vor gar nicht langer Zeit ausschließlich männlich gedachten Künstlerpersönlichkeit befragt werden, und das nicht primär aus genderspezifischen Überlegungen. Dieter Mersch spricht hier vom »Prekariat des künstlerischen Genies« (Mersch, 2018, 71), das in Europa mit der Industrialisierung auf die Entstehung der Bohèmen in Abkehr von und Kritik der gesellschaftlichen Entwicklungen zurückgeht: »Es war im eigentlichen Sinne erst die Kunst des Avantgardismus, die vielleicht wie keine andere ästhetische Periode zuvor den Wahnsinn, ja die Ausnahme des Künstlers auf die Spitze getrieben hat, um sie im gleichen Atemzug umzustossen« (ebd., 72). Die geniehaft geheimnisvoll inspirierte Subjektkonstruktion einer singulären Schöpferpersönlichkeit, die nur in ihrer Kunst lebt, wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer weiter hinterfragt und konterkariert. So entstanden beispielsweise mit den expressionistischen Künstler*innengruppen der »Brücke« und des »Blauen Reiter« erste auch programmatisch arbeitende Verbände, in denen ein gemeinsames stilistisches Bildprogramm flankiert von Publikationen zur Innovation der Künste (Almanach des Blauen Reiters) den Geniekult des Einzelnen entmachtete. Auch Dadaisten und Surrealisten arbeiteten zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihren künstlerischen Strategien des »ready-mades« (Duchamps’ Flaschentrockner) und diverser Zufallstechniken zur Entstehung des Kunstwerks (peinture automatique, frottage, grattage u. v. a. m.) an der Dekonstruktion des »Schöpferkults«. Seitz sagt dazu:

»Die Erwartungen an Kunst sind widersprüchlich: Mit Blick auf die Autonomie weisen die Künstler jegliche Instrumentalisierung zurück und haben doch zugleich (man denke an diverse Avantgarden des letzten Jahrhunderts) wie selbstverständlich den Zustand der Gesellschaft reflektiert, kritisiert, auch transzendiert, Manifeste geschrieben und Utopien entworfen, und setzen mit einem regelrechten Aufbruch ins Leben die solitäre Unabhängigkeit von Kunst aufs Spiel« (Seitz, 2009, 37).

Ganz zu schweigen von den Entwicklungen z. B. des abstrakten Expressionismus, der Fluxusbewegung und der Social Arts nach dem 2. Weltkrieg, die prozessorientierte, das Publikum als Teile des Kunstwerks einbeziehende künstlerische Formate entstehen ließen, teils gänzlich auf die Produktion künstlerischer Objekte im klassischen Sinn verzichteten und somit die Autorenschaft brüchig werden ließen. Und trotzdem, denkt man an Jackson Pollock, Andy Warhol oder Joseph Beuys, der Mythos blieb erhalten oder entstand neu, evtl. bereits auf der Ebene »genialer Ideen« und Arrangements, die man so noch nie gesehen hat. Mersch spricht hier vom Befangensein in der Paradoxie der Künstlerrolle: »Deshalb verwundert es nicht, dass bei allen Künstlerproduktionen, die sich des Status des Künstlers, der Künstlerin als Subjekt ihrer Werke zu entledigen suchen, die Figur der Urheberschaft wie Jack in the Box wieder entgegenspringt« (ebd., 75). Das mystifizierte, sich hartnäckig haltende Bild des Schöpfergenies in dieser Publikation offenzulegen und zu hinterfragen bedeutet, die Widerstände gegen und/oder die Heroisierungen von Kunstschaffenden als mögliche Vorbilder für eigenes künstlerisches Handeln mit den Adressat*innen der eigenen Arbeit zu thematisieren, auch hinsichtlich der Rezeption von auf den ersten Blick nicht erschließbaren Kunstwerken. Das Verhältnis von Kunst, Künstler*innen, Kunstschaffenden und künstlerisch Tätigen in mehr oder weniger kunstimmanenten bzw. kunstfernen Kontexten oder Praxen könnte von einer gegenseitigen Öffnung profitieren, ohne die Differenz zwischen Kunst-Kunst und ästhetisch-künstlerischer Praxis leugnen zu wollen. Künstler*innen sollten als Modelle und Gradmesser für eigenes künstlerisches Tun ganz selbstverständlich befragt werden können, ebenso wie die Botschaften ihrer Objekte und Interventionen nicht nur klassisch kultursozialisierte Teilgruppen unserer Gesellschaft, sondern barrierefrei alle erreichen sollten, um das aktivierende und irritierende Potential ihrer Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen vielen verfügbar zu machen. In diesem Sinne plädiert Mersch für eine Ablösung der kaum zu beantwortenden Frage: »Was ist Kunst?« durch die: »Wie geschieht Kunst?« (ebd. 75), den Blick somit zu richten auf die konkreten künstlerisch-ästhetischen Praxen und sichtbar werdenden Interventionen: »Künstlerische Prozesse, das ist gleichsam die erste Minimalbedingung, beruhen darauf, im Wahrnehmbaren Ruptionen, Unterbrechungen oder ›Wendungen‹ einzutragen. Die Praxis der Künste besteht in einer Praxis andauernder Wahrnehmungskonversionen« (ebd.). In einer Auseinandersetzung um die Erkenntnistheorie der Frankfurter Schule und der poststrukturalistischen französischen Denktradition entwickelt Mersch präzise und strenge Forderungen an künstlerische Manifestationen, da sie sich daran, eine wahrnehmbare, unverkennbare (nicht im Sinne einer Eindeutigkeit) Reflexionsfigur anzubieten, messen lassen müssen:

»Daher die weitere These, dass im Umgang mit ästhetischen Phänomenen immer zugleich eine Differenz, ein disparates Zueinander-ins-Verhältnis-Treten, eine Produktion von Widersprüchen oder Zerwürfnissen entscheidend wird, welche die zugrunde liegenden Phänomene buchstäblich ›ent-setzen‹. Solche Ent-Setzung kann ganz unterschiedlich ausfallen: durch Nebeneinanderordnung, Dislokation oder Deplatzierung, aber auch durch schlichte Konjunktionen, die immer zugleich Disjunktionen enthalten. Alle Formen von Relationierung eröffnen dabei eine Konstellation, ein singuläres Paradigma, das unabhängig von einem machenden Subjekt, einer souveränen Verfügung über Materialien oder einer kontrollierenden Ermächtigung und ähnliches beschrieben werden kann« (ebd., 77).

Die Verdichtung seiner Forderung an das, was zeitgenössische künstlerische Arbeiten (in der Rezeption) leisten können, macht deutlich, wie sehr diese mit der Einbeziehung von sozialen Gegebenheiten, Realitäten, Materialitäten, Beobachtbarem, ihren irritierenden sinnlich wahrnehmbaren und emotional konnotierten Konstellationen konfrontiert sind, welche sie noch nie so sehr wie heute in eine Position zwingt, selbst reflektierende, sensibel beobachtende und dokumentierende Strategien anzuwenden.

Kunst, Bildung und Bewältigung

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