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2.2.2 Exemplarische Künstlerposition: Fischli und Weiss

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Der Grundidee dieser Publikation entsprechend möchte ich die vorangestellten Überlegungen an einer Künstlerposition erläutern, bewusst nicht mit einer Einzelperson, sondern mit dem seit 1979 konsequent zusammenarbeitenden Künstlerpaar David Fischli und Peter Weiss. Zudem entspricht ihr Oeuvre in vielfacher Hinsicht den oben diskutierten Wesens- und Wirkmomenten zeitgenössischer Bildender Kunst. So arbeiten Fischli und Weiss mit den unterschiedlichsten Medien wie Video, Fotografie, Film, Künstlerbüchern, Installation und Skulptur, wobei sie einfaches, »armes« Material nutzen und in ihre Werke häufig Gebrauchsobjekte aus dem Alltag einbeziehen bzw. alltägliche Situationen modellhaft nachbauen. Vorgestellt werden hier einige Werkgruppen aus dem Katalog ihrer großen Retrospektive »Flowers & Questions«, die 2006 in der Tate Modern in London begann und neben Abbildungen auch zahlreiche Kommentare von Künstlerkolleg*innen, Kurator*innen und Kritiker*innen enthält.

»Der Lauf der Dinge« (1986/1987) ist ein halbstündiger Film, in dem Stühle und Autoreifen eine zentrale Rolle spielen (siehe YouTube). Durch eine unglaubliche, einer ausgetüftelten experimentellen Versuchsanordnung gleichende Verkettung von miteinander verbunden Alltagsgegenständen, welche beispielsweise über Schnüre sich senkende Mechanismen von liegenden Hölzern auslösen, die wiederum Reifen in Bewegung setzen, die wiederum andere Mechanismen in Gang setzen, welche dann weitere Objekte stürzen, rollen, springen oder laufen lassen. So kippen Stühle, fällt eine Flasche um, entrollen sich Schnüre, explodieren kleine Feuerwerke, rotiert ein Eimer; unzählige dilettantisch wirkende Mechanismen aus einfachsten Gegenständen – jeder anders – sind in einer unendlichen Anordnung aneinandergekoppelt und lassen über verquere Rampenbildungen diese absurden Kettenreaktionen geschehen, perfekt getimt, ohne eine Sekunde Pause, ohne den geringsten Fehler, zwingend perfekt und gänzlich unnütz. Welche Botschaft mag dieser experimentellen Intensiv-Performance aus sich nacheinander in unterschiedlichsten Weisen zu Fall bringenden Objekt-Überbleibseln aus dem Keller von »Hinz und Kunz« innewohnen? Der bedeutende Philosoph und Kunstkritiker Arthur Danto schlägt eine breite Lesbarkeit vor:

»And those hard wooden chairs! We have seen them in the scenes of torture by the painter Leon Golub in which victims, bound and blindfolded, are tormented with clubs and lightened cigarettes. And when Bruce Nauman inserted a straight chair into a piece of sculpture this, too was widely read as a reference to torture. The chair tipping over in The Way Things Go seems at once comical and frightening, as it would be if someone were sitting in it tied up. Perhaps this is why viewers do not always laugh, are not sure, whether this is funny, …« (Danto, 2007, 215). »This is an argument for each thing having its place in a well-run society, which is the positive side of celebrating banality« (ebd.).

Danto faltet somit in seiner Analyse des »Laufs der Dinge« die Bandbreite der möglichen Reflexionsfiguren zwischen dem ungeheuren Energieverbrauch alltäglicher Umstände, die zwingend ihren Platz haben und ihre jeweiligen Folgen zeitigen, und einer möglichen kunstgeschichtlichen Kontextualisierung mit dem Stuhl als möglichen Platzhalter für Folter auf. Auch wenn man den für kunstwissenschaftliche Rezeptionen typischen letzten Schritt der Bezugnahme zum Oeuvre anderer Künstler*innen nicht vornimmt, vermittelt sich der ungeheuer große Energieaufwand sensationell gut. Präzise gebastelte Geschehnisse aus zweckentfremdeten banalen Gegenständen, von denen am Ende nichts bleibt. Nach 30 Minuten ist die irre Kettenreaktion gelaufen, sie ist unumkehrbar und nichts Wirkliches ist dabei herausgekommen. Angeli Jahnsen führt ins Feld: »›Rube-Goldberg-Maschinen‹ und verwandte Apparaturen dagegen veranschaulichen das Problem, dass viel Aufwand keine Wirkung haben kann, indem sie ganze Maschinerien herstellen, mit denen nichts weiter getan wird als das, was leicht zu tun gewesen wäre« (Jahnsen, 2013, 120), wobei sie den Film von Fischli und Weiss in seiner Aussage noch extremer, beinahe fatalistisch findet (vgl. ebd.). In der Tat kommt diese Arbeit einem immensen Zeitspeicher gleich, Tage und Wochen des Ausprobierens, des Wieder-und-wieder-Aufbauens, des multiplen Scheiterns eines einzigen Mechanismus in der Gesamtkette der Versuchsanordnung sind darin enthalten und vermitteln sich unmittelbar beim Betrachten des Films. Kapielski ergänzt die Information, dass die ursprünglich in Super-8-Filmmaterial produzierte Anfangssequenz vom »Lauf der Dinge« von einer nur dreiminütigen Dauer durch Patrick Freys Videomitschnitt als sechsstündige Arbeit dokumentiert ist (vgl. Kapielski, 2007, 225).

Ungezählt und unermesslich ist das Arbeitspensum des zehnmal so langen finalen Films, je später in der Kettenreaktion Dinge nicht gelingen, umso länger, aufwändiger wird der gesamte Neuaufbau. Diese hochkomplizierte Anordnung sich nacheinander erschütternder Dinge, in der Wochen an Arbeit gebunkert sind, genügt sich selbst im Spannungsfeld von prekärst ausbalanciertem Geschehen und seiner Verpuffung. Das Werk vermag den Betrachtenden in der Welt aufzuheben und gleichzeitig vor den Niederungen alltäglicher Abläufe und Lebensvollzüge zu entheben. Intensiver ist Paradoxie nicht fühl- und wahrnehmbar, weil sich die ungeheure handwerkliche Präzision und der Aufwand genauso vermitteln wie die bittere Komik fataler Wirkungslosigkeit. Die Botschaft, die möglichen Erkenntnisse und philosophischen Reflexionen vermitteln sich dem*der intellektuellen Kunstkenner*in genauso wie dem*der kaum mit der Welt der Künste vertrauten Rezipient*in. So entschied sich der Kunstdozent Thomas Kapielski einige Handwerker einzuladen, als er den Film seinen Studierenden zeigte:

«While the students were completely enthralled by the playfulness and the sensation of the presentation – the show – and wrongly-imagined computer or film manipulation, the skilled manual workers – two carpenters, one model builder and one stage technician – extolled the effort which must have gone into the making of the film in addition to the plain elegance and simplicity of means« (Kapielsky, ebd., 225).

Fischli und Weiss als Illustration für Zentrales im Potenzial zeitgenössischer Kunst für diese Publikation zu wählen, entspringt der Idealvorstellung, aktuelle Kunst könne – trotz der vielfach geäußerten, teils berechtigten Kritik, sie sei hermetisch – mit ihren besonderen Darstellungsmitteln alle erreichen. Fischli und Weiss können das definitiv – machen Sie bitte den Selbstversuch und schauen Sie das Video auf YouTube an –, und sie eröffnen damit jene Erkenntnismomente, die nicht im klassischen Sinne erschüttern (oder vielleicht doch), jedoch in so spezifischer Weise »treffen«, dass ich hierzu den in der Fachdebatte kursierenden, auf den Beginn der Postmoderne Debatte zurückgehenden, von Lyotard wieder eingeführten Begriff des »Erhabenen« nutzen möchte:

»Das Erhabene ist ein anderes Gefühl. Es hat statt, wenn die Einbildungskraft nicht vermag, einen Gegenstand darzustellen, der mit einem Begriff, und sei es auch nur im Prinzip, zur Übereinstimmung gelangen könnte. Wir verfügen zwar über die Idee der Welt (der Totalität dessen, was ist), aber wir haben nicht die Fähigkeit, von ihr ein Beispiel aufzuzeigen. Wir haben die Idee des Einfachen (des nicht weiter Teilbaren), aber wir können es nicht durch einen Sinnesgegenstand veranschaulichen, der dafür als ein Fall fungiert« (Lyotard, 1988, 199).

Wahrnehmungen des Erhabenen gelängen Lyotards Auffassung nach in jenen Kunstwerken, die das Nicht-Darstellbare zeigen, es sichtbar machen können (vgl. ebd., 200). Die Stilmittel der Künste, dies zu versuchen, seien vielfältig, würden jedoch nicht mehr auf das »Schöne« im Sinne eines kollektiven Geschmacks abzielen (vgl. ebd.). Das Erhabene ist gekennzeichnet durch das Paradox einer lustvollen Wahrnehmung, die gleichzeitig schmerzt. Fischli und Weiss erreichen diesen Effekt mit ihrem Video zum Lauf der Dinge, und es ist mehr als ein Effekt, es sind sich eröffnende Wahrnehmungs- und Erkenntnisräume, die bevorzugt mit dem altmodisch klingenden Ergriffensein beschrieben werden könnten.

Kunst, Bildung und Bewältigung

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