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2 Begriffsverständnis Kunst, Therapie und Pädagogik und Bewältigung und Bildung 2.1 Ausgewählte Pionier*innen pädagogischer und kunstinspirierter Kunsttherapie

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Systematisch und zugleich fundiert haben sich erstmals H.-G. Richter (1984) und K.-S. Richter-Reichenbach (1992) im Kontext des Studienschwerpunkts pädagogische Kunsttherapie am Fachbereich Heilpädagogik der Universität zu Köln mit theoretischen Grundlagen einer nicht klinisch orientierten, d. h. nicht primär psychodynamisch, aber auch nicht kunstwissenschaftlich hergeleiteten künstlerischen Therapie befasst (Richter-Reichenbach 1992). Ihre Leistung in dem alten Dilemma, die Kunsttherapie entweder über psychologische Theoriefundamente als therapeutisches Verfahren zu konturieren oder im Status eines Heilhilfsberufs im Dunstkreis von Ergo- und Beschäftigungstherapie zu belassen, bestand darin, die Kunsttherapie mit einem theoretischen Rekurs auf die ästhetische Erziehung in ihrer klassischen Billdungs-Konnotation zu nobilitieren und mit emanzipatorischen Intentionen auszustatten. Im Sinne einer Prävention oder Rehabilitation von Fehlentwicklungen hinsichtlich problematischer gesellschaftlicher Bedingungen postuliert das Konzept die therapeutischen Valenzen ästhetischer Erziehung (vgl. ebd., 53). Rekurrierend auf geisteswissenschaftliche Klassiker wie Kant, Hegel, Schiller und Humboldt formuliert Richter-Reichenbach den Kerngedanken ihres Konzepts so:

»Werden ästhetische Prozesse pädagogisch ermöglicht, so sind sie allen anderen Lern-, Bildungs- und Therapieprozessen insofern überlegen, als sie das reflexive und sinnlich-erlebnismäßige Individuum mit seinen Vorstellungen, Ideen, Wünschen etc. gerade nicht ausblenden oder nur partiell ansprechen, sondern ihm unverstellten Raum, Entfaltungs- und Konkretisierungsmöglichkeiten bieten« (ebd., 63).

Herzstück der Theoriebildung Richter-Reichenbachs ist dabei der ästhetische Gegenstand in seinen in Wahrnehmung und Ausdruckshandeln zwingend an die Sinne, die Emotionen und Gedanken der Subjekte gebundenen Qualitäten, der zu Konkretisierungen drängt, welche wiederum für den*die Gestaltende*n Symbolcharakter besitzen können und als Selbstausdruck gelten müssen (vgl. ebd., 77 ff). Die Autorin untergliedert das Potential ästhetischer Prozesse im Folgenden in fünf Subvalenzen, verbindet sie mit pädagogisch-therapeutischen Wirkungen (z. B. Ich-Stärkung, Sensibilisierung, Ermöglichung von Ausdruck und Kommunikation, Probehandeln, Erweiterung von Verstehen und Toleranz usw.) (vgl. ebd., 102 ff) und gießt diese in didaktische Anwendungsmodelle. Auch wenn Domma, ein weiterer Verfechter der pädagogischen Kunsttherapie, zu Recht anmerkt, »dass die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen einer Disziplin »Kunsttherapie« weder aktuell noch in absehbarer Zukunft gegeben sind« (Domma, 2016, 7), überzeugt das vorgelegte Konzept mit seiner Verankerung in der ästhetischen Erziehung, da es jenseits von Deutungsansätzen oder -hoheiten spezifischer psychologischer Schulen und einer Konzentration auf klinischen Störungen das Potential künstlerischer Prozesse in Wahrnehmung und Ausdruckshandlung als autonomes, therapeutisch wirksames Agens in den Blick nimmt.

Letzteres haben auch therapeutisch arbeitende Künstler*innen für sich beansprucht. Sie taten dies mit einem anthropologischen Kunstbegriff – am bekanntesten und in der Fachliteratur am häufigsten zitiert Joseph Beuys in seinem erweiterten Kunst- und Therapiebegriff. Spezifischer möchte auch ich Beuys mit Gedanken aus einem Beitrag der Künstlerin und Kunsttherapeutin Elizabeth McGlynn zu Wort kommen lassen, die noch in seiner Klasse an der Düsseldorfer Kunstakademie studiert hat. Sie leitet ihren kunsttherapeutischen Ansatz u. a. aus Beuys’ Werkprozessen ab, dessen Kern sie als »ein konstantes Oszillieren zwischen ästhetischen und sozialen Prozessen« bezeichnet (McGlynn, 2015, 103). Über innovative, mitunter verstörende Formen künstlerischer und performativer Akte zwischen neuer Materialität und geistiger Idee realisierte Beuys Manifestationen neuer »Selbst- und Welterfahrung« (ebd., 104) und setzte bei den Betrachtenden gleichzeitig »plastische soziale Prozesse« (ebd.) frei. Am Beispiel seiner Arbeit »Infiltration-homogen for Grand Piano oder: Der größte Komponist der Gegenwart ist das Contergankind« von 1966, einem in Filz zur Gänze eingenähten Konzertflügel, welcher in seiner Unbespielbarkeit die durch ein Schlafmedikament ausgelösten Verkrüppelungen tausender Kinder zu Beginn der 60er Jahre mehr als repräsentiert, kristallisiert McGlynn die Bedeutung von Kunst als soziale Plastik heraus:

»Das Potential der Stummen und Sprachlosen zur Sprache zu bringen und in den Gestaltungsprozess mit einzubeziehen wird als plastischer Vorgang verstanden. Diese Ausgegrenzten können nun nicht mehr als schwach oder unnütz definiert werden. Gesellschaftlich besteht kein Grund mehr zur Rehabilitation – diese Wesen sind in der neuen sozialen Skulptur per se in den gesellschaftlichen Prozess integriert« (ebd.,105).

McGlynn hebt dabei analog zu Beuys’ Ansatz darauf ab, in der künstlerischen Arbeit Schwieriges, Schmerzvolles, Leid und Verstörendes zu thematisieren, es nicht vorschnell zu beschönigen, zu heilen, zu kompensieren, ja zu domestizieren (vgl. ebd., 106 und 108). Die Qualität, auch Dunkles, Nicht-Erwünschtes, Befremdendes sichtbar zu machen und zu gestalten, ist der Kunst in besonderem Maße zu eigen, es ist eine ihrer prominenten Aufgaben hinsichtlich therapeutischer wie pädagogischer Prozesse. Ziel sei, so McGlynn, »das Erreichen des fragilen Gleichgewichts zwischen dem einzelnen Menschen und dessen (…) Beziehung zum sozialen Ganzen« und: »Beuys sieht diese Verbindungsarbeit zwischen Innerem und Äußerem des Menschen, zwischen Selbst- und Welterfahrung als einen grundlegenden plastischen Prozess und als schöpferische Arbeit« (ebd., 109). Insofern stellen diese so gefassten Grundprinzipien künstlerischen Handelns in einem sozialen Kontext Schlüsselkategorien für Bildungs- und Bewältigungsprozesse gleichermaßen dar. Sie sind im Sinne der Grundkoordinaten dieser Publikation bedeutsamer als das zwar systematischere, doch stark kunstpädagogisch orientierte Konzept von Richter und Richter-Reichenbach. Ohnehin sollen – gewissermaßen den »Geist« des vorliegenden Bandes proklamierend – zentrale Elemente der behandelten Theorien und Methoden eng mit der Kunst des Kunstmachens verknüpft sein, sich mehr daraus ableiten als aus der Pädagogik oder Therapie mit den Künsten. Künstlerische Prozesse und Produkte im Schaffen, Teilhaben wie Rezipieren sind die Transporteur*innen der Kernideen des gewählten Ansatzes. Als kunstbasiert soll daher das folgende Konzept herausentwickelt und konturiert werden. In diesem Sinne spricht auch Maset von einem neuen Paradigma, das die Kunstvermittlung in Abgrenzung oder Erweiterung von kunst- und kulturpädagogischen Zugängen setzen konnte (vgl. Maset, 2006, 11).

»Es geht in diesem Zusammenhang vor allem auch um eine Dimension von Kunstvermittlung, die eine Differenz darstellt, und die sich nicht nur künstlerischer Verfahren bedient, sondern diese selbst hervorbringt und anwendet« (ebd.).

Dieser prominent künstlerisch abgeleitete Zugang setzt eine Sichtung ausgewählter aktueller Diskurse in der Bildenden Kunst voraus.

Kunst, Bildung und Bewältigung

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