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2.4.1 Das Mentalisierungskonzept

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Um diesen Überschneidungsbereich beispielhaft mit möglichen theoretischen Bausteinen auszustatten, wird nun das in Zusammenhang mit der Bindungstheorie stehende Mentalisierungskonzept in seinen Grundzügen vorgestellt, da es als tiefenpsychologischer Ansatz die »soziale, psychische Geburt« (Fonagy & Luyten, 2011, 905) des Menschen zu fassen vermag und eine fundierte Verstehensgrundlage für Pädagogik wie Psychologie und ästhetische Erkenntnis darstellt. Das Gesamtkonzept greift auf Erkenntnisse der Bindungstheorie, der Psychoanalyse, der Theory of Mind, der Psychotherapieforschung und Neurobiologie zurück (vgl. Gingelmaier et al., 2018). Für diese Publikation von besonderem Interesse ist der Zusammenhang der entwicklungspsychologischen Vorgänge im Mentalisieren mit der entstehenden Fähigkeit des Symbolisierens, d. h. emotionale, psychische, affektgeladene Inhalte denken und sich vorstellen zu können. Etwas mentalisieren bzw. symbolisieren zu können, stellt einen ersten Schritt zu mentaler Abstraktionsfähigkeit von Gefühltem/Empfundenem zum Denken und im Weiteren zum Verbalisieren dar. Mentalisierung und Symbolbildung sind zudem gleichermaßen auf der Ebene geistiger Entwicklung anzusiedeln. Mentalisieren meint dabei »die Fähigkeit, den Anderen und die eigene Person als Wesen mit geistig-seelischen Zuständen zu verstehen« (Gerspach, 2009, 93), d. h. sich selbst und den anderen denken zu können, sich in sich selbst hineinversetzen zu können und in den anderen Verhalten als intentionale Aktivität interpretieren zu können. Weiter erstreckt sich das auf die soziale Komponente, nämliche die »eigene mentale Verfassungen in ursächlichen Zusammenhang mit der mentalen Verfassung anderer Personen zu bringen« (ebd., 94). Staehle erklärt so: »Mentalisierung im engeren Sinne beinhaltet die Entstehung der Fähigkeit, sich selbst und andere als denkend zu erleben, über sich selbst zu reflektieren oder die Gedanken der Anderen wahrzunehmen und zu verstehen« (Staehle, 2008, 122). Das auf Fonagy und Target zurückgehende, um die Bindungsforschung erweiterte kognitionspsychologische Konzept der »Theorie of Mind« erlaubt die menschliche Entwicklung von wachsendem Bewusstsein über Gefühle, Affekte, Bedürfnisse und Wünsche in ihrer Abhängigkeit von gelingenden frühkindlichen Interaktionen zu verstehen. Ohne an dieser Stelle auf die hierfür zentrale Bindungsforschung (Bowlby, Ainsworth) näher eingehen zu können, ist der Schlüssel zur Mentalisierungsfähigkeit in funktionierenden Affektspiegelungen im Säuglingsalter zu sehen:

»So stellen Fonagy u. a. ein soziales Biofeedbackmodell der Affektspiegelungen, aus dem allmählich symbolische Repräsentationen erwachsen, an den Anfang der Entwicklung. Zwar zeigt der Säugling Emotionen wie Freude, Ärger, und Traurigkeit, hat aber davon kein Bewusstsein. Die Eltern bemerken jedoch seinen jeweiligen Gefühlszustand und gehen intuitiv darauf ein« (ebd., 94).


Abb. 1: Lisa Niederreiter (2013), »Glanz im Auge der Mutter I«, 32 cm, Ton, Draht, Glasaugen, Gummilitze

Das heißt, die primären Bezugspersonen spiegeln den jeweiligen Zustand des Kindes im eigenen Gesichtsausdruck (lächeln beispielsweise auch), sprechen dazu, benennen die u. U. auch unerträglichen Gefühle des Kindes


Abb. 2: Lisa Niederreiter (2013), »Glanz im Auge der Mutter II«, 36 cm, Ton, Latex, Glasaugen

(Erschrecken, Wut, Unwohlsein, Angst, Schmerz, Hunger, …), nehmen diese Gefühle auf und trösten es, was zu Affektregulierungen führt. Der Säugling ist anfangs überwiegend konzentriert auf Körper- und Sinnesempfindung; Zustände werden so übermächtig erlebt, sind noch nicht repräsentierbar, distanzierbar oder steuerbar. In der Affektspiegelung durch die Eltern werden sie im Gegenüber »dargestellt«, im Außen identifizierbar und erhalten damit eine Repräsentanz außerhalb des eigenen Körpers. Dabei ist die nach Gergely benannte »markierte Affektspiegelung« (Gergely 2002 zit. nach Gerspach, ebd., 95) insbesondere bei unangenehmen Affekten und Zuständen bedeutsam. Die primäre Bezugsperson ist nicht nur bloßer Spiegel der Wut oder Angst, sie nimmt die Gefühle auf, hält sie aus (»Containing« nach Bion), benennt sie, erklärt evtl., dass das bald besser würde, bald vorbei sei, dass man da was tun könne und bringt diese darüber in eine für das Kind aushaltbar Form, die es integrieren, als Teil des Selbst wieder aufnehmen kann (vgl. ebd.): »Diese Erfahrungen von Affektregulierung machen das Kind sicher und setzen bei ihm das Vermögen zur Reflexion frei« (ebd., 95). Zur Spezifizierung der empathischen Affektspiegelung zieht Gerspach Kohuts Konzept vom »Glanz in den Augen der Mutter« heran, den das Kleinstkind bei der Herausbildung der mentalen und selbstregulierenden Fähigkeiten und zur Gewinnung von Autonomie brauchen würde (Kohut 1975 zit. in Gerspach, ebd., 95). Als Illustration hier zwei Arbeiten aus meinem Werkzyklus »Glanz im Auge der Mutter«, eine Gruppe gegossener und modellierter Büsten, die unterschiedlich gestaltete »Prothesen« von blickenden und glänzenden Augenpaaren tragen, eine künstlerische »Erfindung« für fehlende spiegelnde Dialoge.

Über unterschiedliche Testverfahren kann die kindliche Mentalisierungsfähigkeit mittlerweile gut eingeschätzt werden, bezeichnend sind dabei Studienergebnisse, welche den engen Zusammenhang zwischen sicheren Bindungserfahrungen und Mentalisierungsreife bei Kindern belegen (vgl. Fonagy, a. a. O., 907). Im Gegensatz dazu zeigen sich bei Kindern mit desorganisierten Bindungserfahrungen, beispielsweise früh traumatisierten oder vernachlässigten Kindern, mangelnde Mentalisierungs- und Symbolisierungskompetenzen. Diese werden im »Agieren-Müssen« von Affekten und Bedürfnissen sichtbar, in einem wenig bewussten, stark verhaltensorientierten In-Szene-Setzen von Gefühlen und Impulsen mit anderen. Das bedeutet, das Kind verfügt nicht ausreichend über eine mentale Repräsentation von Gefühlen, Wünschen, Bedürfnissen und Affekten, sie können schwer vorgestellt, gedacht und (verbal) geäußert werden. Sie sind nicht im sprachlich-symbolischen Gedächtnis, sondern im unbewussten, körperlich/prozeduralen abgespeichert (vgl. Staehle, a. a. O., 126). Daher werden sie ausagiert, was in unserem fachlichen Zusammenhang wiederum die große Bedeutung szenischer, köperorientiert-performativer und nonverbal-sinnlicher und bildhaft symbolisierender Verfahren als Ausdrucks-, aber auch als Interventionsform für Adressat*innen mit geschwächten Mentalisierungsfähigkeiten auf den Plan ruft. Sinnlich-ästhetische Erlebnis-, Kommunikations- und Ausdrucksformen unterstützen die mentalen Wahrnehmungen und Erkundungen eigener emotional und affektiv getönter Zustände und Bedürfnisse im Sinne eines möglichen Erweiterns, Nachholens und »Nachlernens« von mangelnden Fähigkeiten zu mentalisieren.

Zwei Modi bzw. Niveaus innerhalb der Mentalisierung spezifizieren dementsprechende Kompetenzen im Kindesalter, stellen gleichzeitig Bezüge zum symbolisierenden Spiel in seiner Funktion für psychische und mentale Reifungsprozesse her und begründen daher den Einsatz des Spiels als wichtige Interventionsform. Der nach Fonagy und Target entwicklungspsychologisch früher anzusiedelnde Äquivalenzmodus (bis ca. 20. Lebensmonat) entspricht einem Gleichsetzen von innerem Erleben und äußerer Welt (vgl. Schultz-Venrath, 2013, 98); das kann in bestimmten Situationen oder im Zuge psychischer Erkrankungen auch in späteren Lebensaltern vorkommen. Beispiele sind ein Nichtunterscheidenkönnen von sich wertlos fühlen und wertlos sein, oder die Wahrnehmungsverzerrung etwa bei Stalker*innen, die sich in keinster Weise vorstellen können, das begehrte Gegenüber sei nicht im selben Maße an einem nahen Kontakt interessiert wie sie selbst (vgl. ebd., 99). Dass »ein Sich selbst und die Welt im Äquivalenzmodus verhandeln« zu Rigiditäten, Verkennungen der Realität/des Anderen und damit zu Problemen im Umgang mit sich selbst und anderen führt, wird nachvollziehbar. Im entwicklungspsychologisch später folgenden sog. »Als-ob-Modus« vermag das Kind sich nun mit viel Energie meist über das Spiel in Anlehnung an Objekte der Realität ein befriedigendes Szenario zu erschaffen und darin zu handeln. Es weiß dabei sehr wohl, dass das Spiel nicht Wirklichkeit ist. Es ist jedoch viel mehr als Phantasie, ihm kommt ein Charakter symbolischer Realität zu, es steht für Wirkliches, ohne wirklich zu sein. Das Spiel dient dazu, Erlebtes, Gewünschtes, Gefühltes, Gewolltes von sich an die Welt zu verhandeln, auszuprobieren, sich darin kennenzulernen und so größeres Bewusstsein zu erlangen.

Im engeren Sinne ist der Als-ob-Modus auch als Befähigung zu verstehen, gefährliche oder schädliche Affekte in gespielte (vorgetäuschte) Gesten oder Handlungen zu verwandeln (so tun als ob: beispielsweise den besten Freund, auf den man gerade wütend ist, mit ausgestrecktem Gewehr-Arm und entsprechenden Geräuschen scheinbar zu erschießen) und sie in dieser Symbolhandlung loszuwerden (ohne den Freund wirklich zu vernichten). »Auf diese Weise hat das Als-ob-Prinzip zwei Schlüssel-Aspekte: die ikonische Repräsentation (Imitation) von Objekten, Handlungen und Ereignissen und das Markieren des Vorgebens (Täuschens), […]« (ebd., 101). Natürlich müssen die Als-Ob-Handlungen vom Gegenüber in ihrem pseudo-wirklichen Charakter auch verstanden werden, was seinerseits Mentalisierungsfähigkeiten voraussetzt. Im Alter von vier bis fünf Jahren gelingt im idealen Falle eine Integration des Äquivalenz- und Als-ob-Modus und das Kind erreicht so ein neues Reflexionsniveau. Auf Dornes verweisend umreißt das Gerspach so: »Das Kind kann nun die vermuteten mentalen Zustände selbst wieder zum Gegenstand des (Nach-)Denkens machen und auch über den Wahrheitsgehalt seiner eigenen Phantasien und Ängste nachsinnen« (Gerspach, a. a. O., 97).

Kunst, Bildung und Bewältigung

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