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Den Geruch, der sie begrüßte, als sie die Tür zur Küche öffnete, hatte sie beim Heimkommen noch nie angetroffen. Stark, irgendwie metallisch und absolut unheimlich. Plötzlich wusste sie nicht mehr, wie professionell sie angesichts der Umstände sein konnte. Sie musste ständig an Willa denken. Anne nahm die große Scherzsonnenbrille ab und hängte sie in den Kragen ihres T-Shirts. Sie sah sich in der Küche um, versuchte, sie mit objektivem Blick in sich aufzunehmen. Die Küche war winzig, bestand nur aus der linken hinteren Ecke des einzigen Raumes, der das gesamte Erdgeschoss ausmachte.

Kirschrot lackierte Schränke umgaben den Raum auf drei Seiten, ein Metzgerblock als Arbeitstheke, und die Spüle war aus rostfreiem Edelstahl und war nur deshalb sauber, weil Anne in letzter Zeit – sprich: das ganze letzte Jahr – zu beschäftigt gewesen war, um zu kochen. Eine der Schranktüren stand einen Spalt offen, und Anne lugte hinein. Der Schrank enthielt glasierte Keramiktassen, Marmeladengläser und einen wackligen Stapel übergroßer Kaffeetassen, die Anne gewöhnlich für einen späten Captain-Crunch-Mitternachtsimbiss nutzte.

Die offene Schranktür gab ihr zu denken. Anne ließ die Türen der Hängeschränke normalerweise nicht offen, weil sie sich sonst den Kopf anstieß. Vielleicht war das Willa zuzuschreiben. Was hatte sie herausgenommen? Anne warf einen zweiten Blick hinein und merkte fast sofort, was fehlte, weil es ein Souvenir war. Eine rosafarbene Motivtasse mit Lucy und Ethel in der Schokoladenfabrik, aus der Folge 39, »Job Switching« vom 15. September 1952. Anne kannte alle I-Love-Lucy-Folgen auswendig, aber das war ihr Geheimnis – ebenso wie ihre Einkaufsgewohnheiten und ein paar hundert anderer Dinge. Wo war ihre Lucy-Tasse? Hatte Willa sie verwendet? Spielte das eine Rolle?

Sie sah sich in der Küche um. Nirgendwo eine Tasse und auch kein Anzeichen für einen Kampf. Es gab keinerlei Fingerabdruckpulver, diesen schmutzigen Ruß, den die Kriminaltechniker von der Spurensicherung hinterließen. Daraus schloss Anne, dass das Verbrechen an einem anderen Ort stattgefunden haben musste. Sie konnte den Geruch und auch das Entsetzen nicht abschütteln, aber sie befahl sich, weiterzugehen. Sie musste in Erfahrung bringen, was mit Willa geschehen war.

Anne betrat den winzigen Essbereich, der durch ein Regal auf der rechten Seite abgetrennt war. Zur Linken stand ein Tisch aus Pinienholz an der Wand. Ungeöffnete Visa-Rechnungen, Angebote für bereits im Vorfeld genehmigte Kreditkarten und eine Sammlung Werbebriefe lagen aufgestapelt auf dem Tisch, neben mehreren Bic-Stiften, die nicht funktionierten, wie Anne wusste. Alles sah genauso aus, wie sie es zurückgelassen hatte, und auch hier gab es keine Spuren von Fingerabdruckpulver auf dem Tisch oder den beiden Pinienholzstühlen, die üblicherweise über Eck standen. Auf dem Teppich vor dem Tisch lag eine Maus mit Katzenminzefüllung – das graue Kunstfell vom Gebrauch schon ganz abgenutzt.

»Mel!«, rief Anne leise, damit die Nachbarn es nicht hörten. Normalerweise kam der Kater angelaufen, wenn er seinen Namen hörte, aber diesmal nicht. Wahrscheinlich sollte sie in einem solchen Augenblick nicht an ihre Katze denken, aber sie konnte nicht anders. »Mel!«, rief sie, doch wieder keine Reaktion.

Anne biss sich auf die Lippe. War er weggelaufen? War er noch am Leben? Hatte Kevin ihn mitgenommen? Ihm wehgetan ? Als Nächstes sah sie sich im Wohnbereich um. Wieder keine Spur von Mel oder einem Kampf. Ein brauner Sisalteppich bedeckte den Boden, und gegenüber der grauen Couch, die direkt unter dem Nordfenster stand, befanden sich ein Fernseh- und ein Stereogerät sowie einige Bücherregale. Vor der Couch stand ein Couchtisch voller dunkler Pulverspuren. Anne ging hinüber. Schwarzes Pulver bedeckte den gesamten Tisch, allerdings gab es mittendrin eine kreisrunde Aussparung in der Größe einer Tasse. Das musste die Lucy-Tasse gewesen sein; die Polizei hatte sie als Beweisstück mitgenommen. Anne versuchte, die Szene zu rekonstruieren. Willa hatte wahrscheinlich ferngesehen und dabei etwas getrunken. Wo war sie ermordet worden?

Der Geruch war hier stärker, und beinahe unwillkürlich musste Anne zum winzigen Flur blicken, der von einer Tür mit einer Rauchglasscheibe vom restlichen Zimmer abgetrennt war. Die Tür stand teilweise offen, aber der Eingangsbereich lag im Dunkeln. Anne trat näher und schaute hinaus. Was sie sah, verursachte ihr einen Würgereiz.

Der Flur war ein einziger Schlachthof. Überall Blut. Es tränkte die dunkelgrauen Wände und den grauen Teppichboden mit schrecklichen rotbraunen Schlieren. Die Eingangstür war von Blut überströmt, das in ungleichen Flecken trocknete wie ein furchtbarer, blutroter Anstrich. Dunkelrote Hautfetzen klebten an dem Glas an der Tür und auf der gegenüberliegenden Wandseite. Ein Stück Kopfhaut, an der noch blutige Haare klebten, hing grotesk an der Wand.

Anne spürte, wie ihr die Galle hochkam, aber sie zwang sie wieder nach unten und befahl sich eine objektive Sicht der Dinge. Ihr Blick entdeckte den schwachen Kreideumriss der Leiche, der in den Teppichboden gezeichnet worden war. Die Beine des Umrisses – Willas Beine – lagen leicht auseinander, die Füße direkt vor der Eingangstür. Der Kopf – mein Gott, Willa – lag nah bei der Wohnzimmertür. Es sah so aus, als sei Willa in dem Moment erschossen worden, als sie die Haustür öffnete.

Bitte, Gott, die arme Frau. Anne betrachtete wieder das Blut auf dem Teppichboden. Das meiste Blut befand sich an der Stelle, wo Willas Kopf gelegen haben musste, was vermuten ließ, dass man ihr in den Kopf geschossen hatte. Genauer gesagt, ins Gesicht, falls sie beim Öffnen der Tür erschossen worden war.

Anne sah sich den Umriss genauer an und bemerkte noch etwas auf dem Teppichboden. Sie trat zur Haustür und versuchte, den entsetzlichen Geruch nach Fleisch nicht einzuatmen. Neben Willas Körperumriss befand sich noch ein Kreideumriss, auf der linken Seite, ungefähr dreißig Zentimeter lang. Der kleinere Umriss wirkte aus der Ferne verschwommen, aber Anne erkannte ihn sofort. Ein Gewehr. Bennie hatte ihr einmal erzählt, dass die Cops Gewehre immer mit Kreide kennzeichneten. Hatte der Mörder die Waffe zurückgelassen? In der Zeitung hatte davon nichts gestanden. Aber darüber würden sie natürlich auch nicht schreiben.

Anne kniete nieder und betrachtete den Kreideumriss des Gewehres. Sie bedeckte ihren Mund, nicht nur wegen des Geruchs. Da sich der Umriss auf der linken Seite der Leiche befand, war der Mörder offenbar Rechtshänder. Es war nur der grobe Umriss eines Gewehres, mit dem Griff neben der Tür und einem lang gezogenen Lauf. Es sah fast aus wie der Umriss einer abgesägten Schrotflinte. Anne schnappte nach Luft.

Kevins Lieblingswaffe.

Mit einer solchen Waffe hatte er sie damals vor ihrer Tür angegriffen. Er hatte sie ihr an den Kopf gedrückt, aber unglaublicherweise hatte der Staatsanwalt ihn nicht wegen versuchten Mordes angeklagt, weil er nämlich nicht geschossen hatte. Sie schüttelte ihren Groll ab, um sich auf Willa zu konzentrieren. Der Täter musste Kevin gewesen sein. Er war Rechtshänder und schlau genug, um zu wissen, dass es besser war, die Waffe am Tatort zurückzulassen, als mit ihr geschnappt zu werden.

Dann sah sie vor ihrem inneren Auge den Leitartikel, den sie an diesem Morgen gelesen hatte. Darin war von »Schüssen aus nächster Nähe« die Rede. Sie dachte darüber nach. Wenn Kevin eine abgesägte Schrotflinte verwendet hatte und mehr als einmal aus nächster Nähe geschossen hatte, dann wäre Willas Gesicht – alles, was sie ausmachte – völlig zerstört worden.

Anne spürte, wie sich ihr Magen drehte, aber sie behielt die Kontrolle. Bei einer solchen Verstümmelung lag eine falsche Identifizierung durchaus im Bereich des Möglichen. Und die Umstände wiesen natürlich auf Anne als Mordopfer; es war schließlich Annes Haus. Sie und Willa hatten ähnliches Haar, waren gleich groß und gleich schwer. Und Willa trug ihr ROSATO & PARTNER-T-Shirt. Anne konnte es noch immer nicht begreifen. Wer hatte Willas Leiche identifiziert? War es jemand aus der Kanzlei? Und ein entscheidendes Puzzleteil fehlte immer noch:

Warum sollte Kevin eine Frau töten, von der er genau wusste, dass ich es nicht bin?

Anne sah sich im Eingangsbereich nach einer Antwort um, versuchte, das Blut zu ignorieren, das die Wände tränkte, und dabei blieb ihr Blick an der Deckenlampe hängen. Es war ein billiges Modell aus nachgemachtem viktorianischen Milchglas, und sie war ausgeschaltet. Anne konnte sich nicht erinnern, wann sie die Lampe das letzte Mal benutzt hatte. Sie bekam nie Besuch.

Anne legte den Schalter um, aber das Licht ging nicht an. Vielleicht war die Birne durchgebrannt. Moment mal. Sie konnte sich nicht daran erinnern, bei ihrem Einzug eine Birne eingeschraubt zu haben. Sie war zu klein, um ohne Hilfsmittel an die Lampe zu kommen, und sie hatte sich keine Mühe gemacht.

Wenn das Licht im Flur nicht funktionierte, dann hatte es folglich auch kein Licht gegeben, als Willa an die Tür ging. Und wenn sie das Licht im Wohnzimmer eingeschaltet hatte, was nachts sehr wahrscheinlich war, da Willa offenbar im Wohnzimmer ferngesehen und etwas getrunken hatte, dann wurde sie bestenfalls von hinten beleuchtet. Willa wäre also nur als Silhouette erkennbar gewesen, als sie an die Tür ging. Darüber hinaus eine Silhouette, die in Größe und Gestalt Anne ähnelte. Und Annes T-Shirt trug.

Anne sah die Szene mit schwerem Herzen vor ihrem inneren Auge. Jetzt ergab alles einen Sinn. Kevin hatte Willa in dem Glauben erschossen, es sei Anne. Vielleicht wusste er auch jetzt noch nicht, dass er die falsche Frau getötet hatte. Es war gut gewesen, weiter die Tote zu spielen. Anne fühlte sich sowohl erleichtert als auch entsetzt. Aber wie war Kevin aus dem Gefängnis gekommen? War es vielleicht doch nicht Kevin gewesen? Sie stand verwirrt auf und starrte ins Leere. Plötzlich musste sie wieder an Mel denken. Hatte Kevin ihn mitgenommen? Wo könnte er sein? Dann fiel ihr ein, wo sich der Kater versteckte, wenn der Gasmann kam.

»Mel! Mel!«, rief sie, drehte sich um und hastete die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer. Er lag nicht auf dem Bett, aber die Lamellentür zu ihrem Schrank stand offen.

»Mel?« Anne rannte hinüber und riss die Tür im selben Moment auf, als sie ein empörtes Miauen hörte. Mel hatte zwischen den Jimmy-Choo-Schuhen geschlafen und streckte jetzt seine Vorderbeine.

»Meine Superkatze!« Anne hob ihn hoch, und sein warmer Hals vibrierte. Sie kuschelte ihr tränennasses Gesicht in seine Weichheit, obwohl sie wusste, dass ihre Emotionen nur zum Teil seiner Rettung zuzuschreiben waren. »Lass uns hier verschwinden«, sagte sie mit belegter Stimme. Sie verließ das Zimmer, aber am Kopf der Treppe versteifte sich der Kater mit einem Mal in ihren Armen.

»Schon gut, Baby«, tröstete sie ihn, aber da hörte sie Schritte auf der Treppe vor dem Haus. Dann das metallische Klicken des Türknaufs.

Anne erstarrte auf der obersten Treppenstufe. Jemand war an der Tür. Sie trat zurück, außerhalb des Sichtfeldes.

Gleich darauf wurde die Haustür aufgestoßen.

Mord mit kleinen Fehlern

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